Film-Schnitte

Leiden und Kitsch

Michael Ackermann
 

Harry leidet. Weniger unter seinen gescheiterten Ehen, zahlreichen Affären und Betrügereien, unter Suff und Pillenkonsum, als vielmehr darunter, daß die literarische Beute ausbleibt. Die Schreibblockade wird noch verstärkt, weil seine junge Geliebte heiraten will, allerdings nicht ihn. Anregend wirkt da eher, daß ihn die Schwester seiner dritten Frau abknallen will, weil er die Affäre mit ihr in seinem jüngsten Buch so genau beschrieben hat, daß ihre Schwester sie darin erkennen muß. Aus der Todesdrohung folgt der Kick, der Harrys Phantasie in Bilder und die Buchfiguren in Personen verwandelt, die ihm nun bei passender und unpassender Gelegenheit und so lange begegnen, bis die Handlung solche Volten geschlagen hat, daß Harry sich wieder angeregt an die Schreibmaschine setzen kann.

Woody Allen scheut weder Tod noch Teufel, um Deconstructing Harry bildhaft und wortreich zu machen - und dabei geht er so "geschmacklos" vor wie nie zuvor. Er zeichnet seinen Harry als Sexmonster und seine Frauen als Hyperhysterikerinnen, er zeigt orthodoxe Juden als Kleingeister, und einen Überlebenden des Holocaust macht er zum Menschenfresser. Schließlich wird auch die Hölle fellinesk inszeniert, und jede Beziehung wird als illusionärer Irrsinn illustriert. Selbst der deutsche Titel, Harry außer sich, macht Sinn, weil die Welt von Allens Harry wirklich extrem derangiert ist.

Während Allen seinen Ekel Harry mittels Lügen und Gemeinheiten von der Abstrusität ins Gelächter schickt und dabei klarmacht, daß er für sich selbst die Hölle und die Angst ist, und nicht die anderen, bringt Alain Resnais in Das Leben ist ein Chanson auf elegante Art das Mißverständispotential jener Leidenschaften, die die Liebe schafft, auf den Punkt. Bei Resnais aber gibt es keinen einzelnen egozentrischen Berserker, sondern eine gute Handvoll monomaner Männer und Frauen, hinter deren anfänglicher Eindeutigkeit innerhalb von zwei Stunden so manche Zweideutigkeit hervorschillert, die ihnen zuweilen über die Lippen kommt. So intelligent und charmant, boshaft oder geschwätzig, tumb oder raffiniert die Figuren bei Resnais durch das glänzende Spiel seines Teams daherkommen, immer mal wieder singen sie eine Strophe oder nur eine Textzeile aus einem bekannten französischen Schlager oder Chanson und machen auf erfrischende Weise klar, wie verwandt die Welt des Kitsches und die Welt der Leidenschaft sind - von außen betrachtet.

Pedro Almodóvar hat seine Figuren nie von außen betrachtet und in den extremsten Personen und Situationen die Leidenschaft mit dem Kitsch vereint. Ob Fessle mich! oder Kita, Das Gesetz der Begierde oder Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs, High Heels oder Mein blühendes Geheimnis, der spanische Regisseur sprach selbst von seinem "rigorosen Eklektizismus", und daß er die Mischungen aus Künstlichkeit und Realismus bevorzuge. Die Farben, Kostüme, Interieurs und Lieder gerieten bei ihm zum baren Pop, die Handlungen waren Versatzstücke aus Fotoromanzen und Romanheftchen, und doch bekamen in seinen wilden Geschichten die Figuren so viel Komplexität, daß man immer wieder über die Frische und Originalität der Filme ins Staunen geriet.

Mit Live Flesh beschreitet Pedro Almodóvar nun ein wenig Neuland. Erstmals ließ er sich durch einen Roman (von Ruth Rendell) zu einem Drehbuch inspirieren, in dem Thriller-Elemente eine Handlung vorantreiben, die dann doch zum Melodrama wird. Zwei Frauen und drei Männer sind in eine Schießerei mit weitreichenden Folgen verwickelt, und hinter Strafe und Behinderung stecken noch eine Menge anderer Motive und Leidenschaften, die die fünf Protagonisten aneinanderbinden. Almodóvar hat das Schrille seiner früheren Figuren zurückgenommen zugunsten eines weitgehenden Naturalismus, in dem etwa die Anstrengung und Dynamik eines Rollstuhlfahrers fast dokumentarisch wirken. Und der neue Film vollzieht nicht nur eine Kreisbewegung bei den Personen; am Anfang und am Ende steht eine Geburt, und jede von ihnen verweist auf die gesellschaftlichen Zustände. Noch 1993 hat Pedro Almodóvar in seinen Gesprächen mit dem französischen Journalisten Frédéric Strauss über die Abwesenheit der Diktatur in seinen Filmen gesagt: "Das ist ein bißchen meine Rache am Franco-Regime: ich will, daß davon keine Erinnerung bleibt und kein Schatten." Nun aber beginnt sein Film ausdrücklich mit der Öde der Franco-Diktatur und dem Ausnahmezustand in den Siebzigern, während das eher optimistische Ende in einem belebten Spanien der Gegenwart stattfindet, in dem die Mißstände förmlich an den Rand gedrängt erscheinen.

Es ist schon faszinierend, wie beim Ostküstenamerikaner Woody Allen die verbale Sexualisierung in einem fast unglaublichen Kontrast zu den schüchtern-keuschen Bilder steht. In Deconstructing Harry scheint die Mischung aus Prüderie und Sexmanie auf die Spitze getrieben. Und dann ist es spannend zu vergleichen, wie Alain Resnais das Offensichtliche der Sexualität dezent in die Erotik von Sprache, Blicken, Gesten und Liedgut verpackt. Während aus Allens berserkerhaftem Film eine Kultur der Angst hervorquillt, die sich provozierende Bilder verbietet, führt Resnais mit nonchalantem Witz eine Kultur der Kultiviertheit vor, hinter der die Interessiertheit der Protagonisten dann doch als Kalkül hervorlugt. Bei Pedro Almodóvar aber herrscht die schonungslose Darstellung der Liebe und der Leidenschaften unter Verzicht auf jede Wertung. Almodóvar kennt im positiven Sinne keine Tabus ("Der Kitsch ist ein Schutz für meine Scham, und daran liegt mir viel"), worin er Fassbinder ähnelt. Was ihn von Fassbinder jedoch unterscheidet, ist der Verzicht auf jeden Manächismus - Almodóvars Personen sind im Guten wie im Bösen gleichwertig und faszinierend. Wie reich seine Filmwelt über die Jahre geworden ist und warum und wie er darin jede Genreform gesprengt hat, belegt der jüngst erschienene und vorbildliche Gespräche-Band Filmen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Da zeigt sich Almodóvar auch erstaunt, wie sehr die Körperlichkeit und Drastik seiner Bildwelt die US-Amerikaner immer wieder erschüttert und scharfe Konflikte bei der Schwulen- und Frauenbewegung ausgelöst hat. In den USA, so sagt er, besitzen seine Filme ein "revolutionäres Potential". Da ist er Woody Allen ein Stück weit voraus.

Pedro Almodóvar - Filme am Rande des Nervenzusammenbruchs. Gespräche mit Frédéric Strauss. Aus dem Französischen von Fried Grafe und Enno Patalas, Frankfurt/M. (Verlag der Autoren) 1998 (247 S., Abb. i. Farbe, 38,00 DM)