Freitod als Flucht, Selbstbestrafung, Selbstvergewisserung

Japanische Autobiographien

Siegfried Knittel

 
Zwei Bücher, zwei bedrückend ähnliche Lebensresümees, beide auf die noch vor Erscheinen der Bücher vollzogenen Selbstmorde der Autoren vorausdeutend. Die Gemeinsamkeiten von Ryunosuke Akutagawas Das Leben eines Narren und Osamu Dazais Gezeichnet sind Ausdruck des in fataler Weise ähnlichen Lebens der beiden Schriftsteller.

Akutagawa kennt man bei uns als Autor der Erzählungen, die von Akira Kurosawa unter dem Titel Rashomon kongenial verfilmt wurden. Er gehörte gewissermaßen zur zweiten Generation der nach der Öffnung Japans mit der Kultur und Literatur des Westens konfrontierten japanischen Autoren, persönlich noch von Soseki Natsume gefördert (s. Kommune 5/97). Seine Schaffenszeit bis zu seinem Selbstmord 1927 dauerte nur etwas mehr als zehn Jahre.

In diesem Jahr beschloß Dazai, möglicherweise inspiriert durch Akutagawas Leben und Tod, ebenfalls Schriftsteller zu werden, und unternahm bald darauf seinen ersten Selbstmordversuch. Bis zu seinem Suizid 1948 blieben ihm noch zwanzig Jahre.

Beide Schriftsteller sympathisierten mit der japanischen Linken, Dazai war sogar eine Zeitlang Mitglied einer kommunistischen Gruppierung, ohne wohl ein Kommunist im Sinne der Parteilinie gewesen zu sein.

Im wortwörtlich aus dem Japanischen übernommenen Buchtitel Das Leben eines Narren, kommt der Selbsthaß zum Ausdruck, mit dem Akutagawa sein Leben bilanziert. Meist sind es kurze Erinnerungen an Personen und Lebenssituationen, an denen er seine Reflexionen festmacht. Da sind seine geisteskranke Mutter und seine Tante, mit der ihn eine sehr ambivalente Beziehung verband, oder seine Frau, mit der er drei Kinder hatte und von der er sich trennte, um doch wieder zu ihr zurückzukehren.

Er reflektiert über die europäische Literatur, vor allem des Fin de Siècle, die ihn lebenslang angezogen hat. Ihr Ästhetizismus und noch mehr ihre Nähe zum Nihilismus prägten sein Denken und sein Schreiben. Einmal zitiert er einen wahnsinnig gewordenen Freund, der über sie beide gesagt hatte: "Du und ich, wir sind von einem Dämon besessen. Vom Dämon des Fin de siècle!<169> Der Freund habe die Menschen des Mittelalters beneidet, die auf Gott vertrauen konnten. Aber Akutagawa spricht hier auch von sich selbst, von seinem Leben in einer Welt, in der es keine Gewißheit mehr gab. Die von Kurosawa in Rashomon zusammengefaßten Erzählungen handeln davon.

Das in die Moderne aufbrechende Japan, dessen überkommene gesellschaftliche Konventionen zunehmend an normativer Kraft verloren, vermochte ihm keinerlei Sicherheit zu vermitteln. Aber das Lebensgefühl des Fin de Siècle, das ihm über die europäische Literatur vermittelt wurde, reflektierte ja gleichfalls den Verlust der Konvention. Auf doppelte Weise erfuhr er so das Fehlen jeglicher Gewißheit. Dieser Verlust ermöglichte ihm zwar den illusionslosen Blick in die Abgründe der menschlichen Natur, wo Gut und Böse nicht mehr klar geschieden sind und ließ ihn große Literatur schreiben, aber um den Preis einer normativen Heimatlosigkeit, die ihn in den Selbstmord trieb.

Seine Unfähigkeit, sein Leben in einer auch für seine Familie akzeptablen Weise zu strukturieren, ist Ausdruck der inneren Selbstungewißheit - die vernichtende Selbstkritik ist es nicht minder. Immer wieder beschreibt er szenenhaft seine ausweglose Verstrickung in Beziehungen mit Frauen, ähnlich den ihm vertrauten Figuren in Strindbergs Dramen.

Aber seine Abrechnung mit sich selbst ist zugleich gekennzeichnet durch die ästhetische Distanziertheit. In all den Selbstvorwürfen wirkt das Buch eigenartig schwerelos und elegant. Der Gedanke drängt sich auf, daß der Ästhetizismus des Fin de Siècle und ein spezifisch japanisches Formbewußtsein sich gar nicht so fremd sind.

Dazais als Roman firmierendes Buch ist in der Form ganz anders. Die Lebensbeichte eines Malers, die dem Ich-Erzähler übergeben wird, droht den Leser in ihrer Intensität fortwährend zu überwältigen. Zwar schreibt Irmela Hijia-Kirschnereit im Nachwort, das Buch lasse den Leser nicht mehr los, bis er es zu Ende gelesen habe, aber der Rezensent vermochte die in immer neuen hyperbolischen Wendungen über ihn hereinbrechende Schilderung seelischen Unglücks immer nur häppchenweise zu verarbeiten.

Dazai hat in dem Lebensresümee des Malers wesentliche Elemente seines eigenen Lebens verarbeitet. Der Protagonist, ein zum Studium nach Tokyo gekommener Abkömmling einer begüterten Landadelsfamilie, kämpft von panischer Angst getrieben um die Liebe anderer Menschen. Fortwährend versucht er in der Rolle eines Clowns die Aufmerksamkeit anderer auf sich zu ziehen und verleugnet sich dabei selbst. Immerfort sieht er sich als das Opfer von Frauen, auf die er in seiner Hilfsbedürftigkeit einen besonderen Reiz ausübt und bei denen er Geborgenheit und Halt sucht, ohne sie doch finden zu können. Hochkränkbar und mit einer Neigung zu übergroßen Schuldgefühlen flieht er fortwährend von den Geliebten in die Kneipe und zur nächsten Frau. Auch die kommunistische Gruppierung, der er sich zeitweise anschließt, vermag ihm keinen Halt zu geben - er entzieht sich ihr mit einem Selbstmordversuch.

Gezeichnet ist einer von vielen autobiographisch inspirierten Prosatexten Dazais. Im Iudicium Verlag erschien vor Jahren schon ein Band mit Erzählungen unter dem Titel Das Gemeine, die großenteils autobiographische Elemente aufweisen. Stärker als bei Akutagawa ist bei Dazai der Selbstbezug ein Element seines Schreibens. Aber wenn man diese Texte nacheinander liest, wird an der Art, wie sie sich inhaltlich voneinander unterscheiden, auch deutlich, daß sie im Sinne Goethes immer "Dichtung und Wahrheit" sind. Das gilt auch für Akutagawas Buch, der sich mit seinem Buch explizit in der Tradition von Goethes Autobiographie sieht. Aber die verschiedenen Blickwinkel, aus denen Dazai sein Leben erzählend bearbeitet und aus denen das einheitliche Bild einer Person nicht unmittelbar sichtbar wird, machen noch deutlicher, daß dichterische autobiographische Texte ästhetische Konstrukte sind, die immer auch ein fiktionales Moment enthalten.

Natürlich sind solche Autobiographien immer auch ein narzißtisches Spiel des Autors mit seinem Publikum. In Japan ist diese Literaturgattung überaus populär. Die gebildete Leserschaft liebt es, literarische Selbstbilder mit den bekannten Fakten über die Autoren auf ihre Übereinstimmung zu überprüfen. Und gerade ein Schriftsteller wie Dazai mag es genossen haben zu sehen, wie das Publikum immer aufs neue versuchte, sich ein Bild von ihm zu machen.

Man kann die fehlende Einheit des Selbstbildes bei Dazai aber auch als Bestätigung von Akutagawas These, wonach es keine Wahrheit, sondern nur partiale Sichtweisen gibt, verstehen. Auch Dazais Lebensgefühl ist geprägt von der Erfahrung der Bodenlosigkeit seiner Existenz, der Unmöglichkeit irgendeiner Gewißheit.

Deshalb waren seine politischen Überzeugungen auch keine. Sie dienten nur dazu, ihn irgendwo dazugehören zu lassen, nicht ausgestoßen zu sein. In Gezeichnet schließt sich der Maler einer kommunistischen Gruppe an, aber in der Erzählung Fünfzehn Jahre bringt sich der gleichfalls autobiographisch inspirierte Ich-Erzähler nicht um, weil er die japanischen Soldaten an der Front nicht demotivieren will; in einer schwierigen Situation dürfe man sein Land so wenig verraten wie seine Familie. Zugleich aber war der Verrat eine Konstante im Leben des Malers, wie in Dazais eigenem. In seinem letzten Lebensjahr war Dazai zwischen drei Frauen hin- und hergerissen, mit der einen war er verheiratet und hatte mit ihr drei Kinder, die zweite erwartete ebenfalls ein Kind von ihm und mit der dritten ging er in den Tod.

In einer unglaublichen erzählerischen Intensität vermittelt Gezeichnet auch in der deutschen Übersetzung Jürgen Stalphs dem Leser das innere Getriebensein dieses Menschen; die seelische Not des Protagonisten springt den Leser förmlich an und schnürt ihm die Kehle zu. Aber, und nur deshalb ist der Text große Literatur geworden, diese Intensität, die sich diametral vom distanzierten Erzählgestus Akutagawas unterscheidet, ist das Produkt literarischer Formung und nicht der bloße Ausfluß der inneren Not seines Autors.

Ryunosuke Akutagawa, Das Leben eines Narren. Aus dem Japanischen von Otto Putz, Frankfurt/M. (Bibliothek Suhrkamp 1254) 1997 (84 S., 18,00 DM)
Osamu Dazai, Gezeichnet. Aus dem Japanischen von Jürgen Stalph und mit einem Nachwort von Irmela Hijia-Kirschnereit, Frankfurt/M. (Insel Verlag) 1997 (151 S., 32,00 DM)
Osamu Dazai, Das Gemeine und andere Erzählungen. Aus dem Japanischen von Stephan Wundt und Fumiya Hirataka; München (Iudicium Verlag) 1992 (313 S., 38,00 DM)