Wem gehört die Erinnerung?

Über Denkmäler, Mahnmale und das nationale Gedächtnis

Peter Mosler
 

"Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht."
Text auf der Gedenkstätte für Walter Benjamin in Portbou/Spanien

Das Judendenkmal...?", sagte eine junge Frau im Wedding. "Das schaut sich doch keiner an. Als ich in der Schule war, hatten wir Geschichte bei einem Achtundsechziger. Dieser Lehrer hat immer über Hitler und die Juden gesprochen, was anderes kam bei ihm nicht vor. Ich konnte es nicht mehr hören - nicht nur ich, die ganze Klasse, sogar der Pfiffikus, unser Klassenbester, hat es nicht mehr ertragen, und wir baten flehentlich: Können wir nicht mal etwas über die alten Ägypter machen? Glauben Sie, nach dem Unterricht gehe ich heute zum Judendenkmal...?"

Die Diskussion um das Holocaust-Denkmal hat inzwischen auch die Berliner Hausfrau erreicht. Sie meldet sich in einem Leserbrief zu Wort und empfiehlt "das Aufrichten der monumentalen ,Zehn-Gebote-Tafel`. ... Optisch und sinnvoll ergänzend wäre ein siebenarmiger Leuchter, der bei festlichen Anlässen erleuchtet werden kann. Das große Umfeld beider Monumente im Herzen der Stadt müßte ein gut gestalteter Park von blühender Schönheit werden..." (Berliner Morgenpost, 30. März 1998) Damit ist das Holocaust-Denkmal auf der Ebene des Gartenzwergs angelangt: herzig, harmonisch und gefühlvoll.

Sieht man vom "Reichsehrenmal" der Neuen Wache Unter den Linden ab, ist das Völkerschlachtdenkmal das nationale Mahnmal der Kaiserzeit und jener in der Weimarer Republik gewesen, die sich nach der monarchischen Vergangenheit sehnten. Daß das Monument in Leipzig einen solchen Rang hat, mag man schon daran ermessen, daß in seiner riesigen Kuppelhalle nicht weniger als die Münchener Bavaria, das Brandenburger Kaiserdenkmal und die Berliner Siegessäule Platz fänden. Die Baukosten betrugen sechs Millionen Mark.

Die Zahlen, mit denen über dieses Denkmal gesprochen werden kann, sind imposant, und sie erzeugen, schreibt Joseph Roth, jenen "gefährlichen Schauder, der aus dem Grenzgebiet zwischen der Mathematik und der Metaphysik einherzuwehen pflegt". Der Deutsche trat früher mit patriotischem Stolz vor sein nationales Monument. 1913 - also hundert Jahre nach der Völkerschlacht - war es fertig, gerade rechtzeitig vor dem nächsten Krieg.

Heute in der Berliner Republik ist das deutsche Nationalgefühl Scham und Betroffenheit, mit dem man sich den zwanzigtausend Quadratmetern nähern soll, auf denen das Denkmal zur Erinnerung an die ermordeten Juden stehen wird. Für dieses pompöse Kunstwerk sind 15 Millionen Mark vorgesehen. Das ist der Preis des Völkerschlachtdenkmals - plus Inflationszuschlag.

Jorge Semprun, ehemaliger Häftling des KZ Buchenwald, schreibt. "...ich hatte Fotos davon gesehen, ich kannte es: einfach abscheulich!" Gemeint ist das Denkmal des Lagers bei Weimar, geschaffen von Fritz Cremer. Wie es dazu kam, beschreibt Volkhard Knigge, Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, in seinem großen Essay "Buchenwald" (in: Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und KZ-Denkmäler 1945-1955, Frankfurt am Main, Campus-Verlag 1998) - Gedanken, die sich zwischen politischer und ikonographischer Geschichte bewegen.

Knigge stellt zahlreiche, nicht ausgeführte Entwürfe zur Erinnerung an "Leid und Kampf" im Lager Buchenwald vor. Auch solche, auf die man sich geeinigt hatte, wurden nicht gebaut - wie heute beim Holocaust-Memorial. Aber damals war kein Geld da. Wohnungen waren wichtiger als Denkmäler.

Die Erinnerung gehört den Siegern - und so ist Knigges Essay nicht nur ein Text über das KZ Buchenwald, sondern auch darüber, wie aus dem Lager ein politischer, ein nationaler Mythos, Stätte von Martyrium und Sieg der Kommunisten, gemacht wurde.

Der Mythos Buchenwald ist eng mit Ernst Thälmann verknüpft - obwohl der Führer der deutschen Kommunisten nie Häftling im KZ gewesen ist. Er war in der Nacht zum 18. August 1944 von Bautzen nach Buchenwald gebracht, vor dem Krematorium erschossen und dann verbrannt worden. Die im August 1953 angebrachte Gedenktafel erinnert an Ernst Thälmann mit den panegyrischen Worten: Ewiger Ruhm dem großen Sohn des deutschen Volkes dem Führer der deutschen Arbeiterklasse Ernst Thälmann, der am 18. August 1944 an dieser Stelle vom Faschismus ermordet wurde. Im Osten Deutschlands wurde schon 1946 vor dem "Pathos der Kriegerdenkmäler" gewarnt...

Als dann der Bau des Denkmals konkreter wird, zeigt sich, daß Kunst ein Mittel erinnerungspolitischer Suggestion sein soll. Von Bertolt Brecht gibt es ein Blatt, in dem er ein Amphitheater verlangt, das von einer Gruppe überlebensgroßer Figuren - befreiter Häftlinge - auf einem Sockel überblickt wird. Fritz Cremer erhält den Auftrag für das Denkmal und schafft, angeregt von Rodins "Bürger von Calais", eine unpathetische, stille Gruppe von befreiten Häftlingen. Einer hebt die Hand zum Schwur, einer zur Faust, die anderen stehen eng und stumm zusammen. Wilhelm Girnus, damals Redakteur des Neuen Deutschland, entfacht die Auseinandersetzung um die Plastik Cremers: Die Figuren haben "nur die Leiden gesehen, nicht den Kampf, den Sieg". Damit hat Girnus den Ton der nationalpolitischen Überhöhung des Denkmals angeschlagen, und Cremer lieferte einen zweiten Entwurf, der dann tatsächlich, pathetisch überlebensgroß, auf dem Ettersberg bei Weimar aufgestellt und zum Wallfahrtsort ungezählter Schulklassen und Betriebskollektive wurde.

Noch einmal zurück zu Semprun, mit dem der Exkurs über das Denkmal in Buchenwald begonnen hat: Der spanische Kommunist im französischen Exil, ehemaliger Häftling im KZ, kam nach dem Krieg nach Ostberlin. Natürlich zog er das Ulbricht-Deutschland dem Adenauer-Deutschland vor, aber er wollte nicht das frühere Lager bei Weimar sehen, sondern Freunde aus seiner Zeit in Buchenwald - und die hatten prompt Karriere gemacht im SED-Staat. Ein anderer ehemaliger Häftling saß in Prag auf der Anklagebank. Auf ihn wartete der Henker.

In Berlin-Mitte liegt gegenüber der Humboldt-Universität an der Straße Unter den Linden ein großer Platz, früher: Opernplatz, auf dem am 10. Mai 1933 die Bücher brannten. Heute ist unter dem Boden des gepflegt gepflasterten Geländes ein kleiner abgeschlossener Raum erbaut, "die Bibliothek", an deren Wänden leere Bücherregale stehen, ein Denkmal des israelischen Künstlers Micha Ullmann. Man kann den Raum durch eine dicke, in den Boden eingelassene Glasscheibe sehen.

Als ich dorthin ging, standen mir gegenüber einige Touristen, die in die rätselhafte, dunkle Gruft mit den Bücherregalen blickten. Einer von ihnen trat zurück und bemerkte trocken: "Fehlt nur noch das ewig brennende Buch."

Die Metropole Berlin hat viele Menschen angezogen und wieder ausgespien, jüdische und nichtjüdische, Männer und Frauen, Schriftsteller und Arbeiter. Ende der 1890er Jahre, also vor hundert Jahren, gab es in der Stadt eine rasante Entwicklung, und die Ortschaften um Berlin standen miteinander in Konkurrenz bei der Erschließung neuer Siedlungsgebiete. In Schöneberg erhielt der Unternehmer Salomon Haberland mit seiner Berlinischen Bodengesellschaft ein Gelände zur Erschließung, damals noch Aufgabe von Privatleuten. Haberland kaufte Grundstücke auf, die noch landwirtschaftlich genutzt wurden, und es entstand eines der nobelsten Wohnquartiere im Berliner Westen, das "Bayrische Viertel", mit großbürgerlichen, geräumigen Wohnungen, mit denen man ein zahlungskräftiges Städtebürgertum anlocken wollte. Zu seinem siebzigsten Geburtstag wurde der Bauherr geehrt, und man verlieh ihm den Titel eines "Kommerzienrates". Später benannte man eine Straße in seinem Viertel nach Haberland.

Inzwischen waren die Wohnungen auch durch ein arriviertes Publikum bezogen worden: In der Bamberger Straße 42 lebte Alfred Kerr, in der Prinzregentenstraße 66 Walter Benjamin, Bayrischer Platz 1 Erich Fromm, Karl Kautsky Saarstraße 14, Wilhelm Reich in der Schwäbischen Straße, Carl Zuckmayer Am Park 18, Leo Baeck Am Park 15, Kurt Tucholsky in der Bundesallee 79, Carl Einstein Haberlandstraße 5 oder Gisèle Freund zwei Häuser weiter, Haberlandstraße 7.

Ungeachtet, ob berühmt oder namenlos: die jüdischen Mieter des Bayrischen Viertels wurden nach 1933 alle vertrieben, und die "Haberlandstraße" in "Treuchtlinger-" und "Nördlinger Straße" umbenannt.

1991 erließ der Stadtbezirk Schöneberg eine Ausschreibung für ein Mahnmal, das an die Vertreibung der 16.000 Juden erinnern sollte, die 1933 noch in der "Jüdischen Schweiz", dem Bayrischen Viertel, wohnten. Die Jury entschied sich für den Entwurf von Renata Stih und Frieder Schnock, und damit sollte eines der eindrucksvollsten Mahnmale Berlins entstehen. Nichts von pompöser Größe, monumental aufdringlich, sondern eher leicht zu übersehen und als Erinnerung an Demütigungen tief in die Seele dringend: Wer in den Straßen des Bayrischen Viertels spazierengeht, entdeckt an Straßenlampenmasten ein unauffälliges Schild, auf dem zum Beispiel steht: "Arischen und nichtarischen Kindern wird das Spielen miteinander untersagt. 1938." Oder: "Juden erhalten keine Zigaretten oder Zigarren mehr. 11.06.1942" Auf der Rückseite der amtlichen Mitteilungen findet man ein Zeichen, wie aus dem orbis pictus. Bei diesem Schild ist es eine Uhr - übrigens pikanterweise in der Nähe eines Uhrengeschäfts: "Juden dürfen nach 8 Uhr abends (im Sommer 9 Uhr) ihre Wohnung nicht mehr verlassen." Es sind Markierungen, die den Charakter von Stolpersteinen haben sollen - und tatsächlich, ich schrecke auf, als ich um die Ecke biege und lese: "Juden kann ohne Angabe von Gründen und ohne Einhaltung von Fristen die Wohnung gekündigt werden. 30-4-1939". Es ist ein Panoptikum der Entmenschlichung, Demütigung und des amtlichen Irrsinns. Am Ende stand die Deportation.

Schneller, als wir dachten, haben wir vergessen, daß die neunziger Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR Jahre der Gesetzlosigkeit, von Rassismus, von Mord und Totschlag waren, in Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen. Alles, was sich in jenen Jahren ereignete, muß auch auf der Folie dieser Ereignisse betrachtet werden.

In Berlin-Steglitz wurde 1992 ein Wettbewerb für ein Mahnmal ausgeschrieben, das an die Juden des Bezirks erinnern sollte. Die Jury entschied sich für den Entwurf von Joachim von Rosenberg und Wolfgang Göschel: Eine Spiegelwand aus Edelstahlplatten, elf Meter lang, dreieinhalb Meter hoch, auf der Namen von aus Berlin deportierten Juden stehen. Drei Jahre war es unter den Parteien des Bezirksparlaments strittig, ob dieses Denkmal aufgestellt werden sollte oder nicht. FDP und CDU hätten statt dessen lieber eine unauffällige Gedenktafel gehabt, die an die ehemalige Synagoge erinnert. Das gesparte Geld könne man ja für einen Schüleraustausch zwischen Israel und Berlin ausgeben ... Und wenn schon, dann nicht so groß. Neun Meter sind genug. Die Republikaner waren 1992 mit 8 Prozent in die Bezirksverordnetenversammlung eingezogen, und im Bezirk kursierte ein antisemitisches Flugblatt: "...schlagen wir jedoch vor, dieses Bauwerk mehr dem benachbarten Steglitzer Kreisel anzupassen und es in Form eines Obelisken von mindestens 30 Metern..." Am 25. Februar 1994 wurde die Realisierung des Mahnmals mit den Stimmen von CDU, FDP und Republikanern abgelehnt, und Steglitz war eine Blamage für Berlin geworden. Die Hauptstadt wollte eine weltoffene Metropole des 21. Jahrhunderts werden - und mitten in ihr hatte sich der Schimmel der fünfziger Jahre auf einen Kiez gelegt. Kurz entschlossen zog der Bausenator Wolfgang Nagel das Verfahren an sich und ließ die Spiegelwand errichten. Das wiederum nennen die Steglitzer Provinzpolitiker "totalitär" und von "skrupelloser Machtbesessenheit". Das Mahnmal wurde im Juni 1995 der Öffentlichkeit übergeben.

Vertreibung und Ermordung der Juden in Steglitz, in Berlin, in Deutschland, in Europa: Jedem, der vor die Spiegelwand tritt, steht die Teilhabe ins Gesicht geschrieben - oder doch: die mögliche Teilhabe, und dem erschreckten Ausruf: "Warum gerade ich?" folgt die verstörende Frage: "Warum gerade ich nicht?" Der Blick in die Spiegelwand ist der Blick in das Skandalon der eigenen Seele. Das Nachdenken über sich selbst wird die Begegnung mit der Geschichte des Holocaust um so mehr bestimmen, je mehr die Zeugen der Zeit gestorben sind.

Ein Denkmal soll eine Erinnerung an eine Person oder ein Ereignis ablegen, etwa Goethe in Weimar, der Große Kurfürst vor dem Charlottenburger Schloß oder das Monument der Völkerschlacht in Leipzig. Es muß nicht eine Statue sein, es kann auch ein Triumphbogen, ein Relief, eine Gedenktafel sein. Wer im Tiergarten am "Großen Stern" an der Siegessäule vorbeifährt, weiß meist nicht, an welchen Sieg der goldene Engel über Berlin erinnern soll. Deutsche Erinnerung ist ein besonderes Ding - die Kleiststraße in Berlin etwa hat ihren Namen nicht nach dem brandenburgischen Dichter, der weltbekannt ist, sondern nach einem General, den keiner kennt. Wie Übersetzungen in jeder Generation neu geschrieben werden sollten, wäre es angebracht, Denkmäler nach zwei, drei Generationen abzureißen und neue zu errichten.

Die Bewältigungsbranche hat man dem Kulturbetrieb zugeschlagen, nicht der Politik. Die Gelände des ehemaligen KZ Ravensbrück oder Sachsenhausen verfallen, während in Berlin das Holocaust-Mahnmal vor allem groß sein soll. Kohl schenkt das Grundstück linker Hand vom früheren "Führerbunker" für den Bau des Memorials. Ursprünglich sollte es auf dem Gestapo-Gelände der Prinz-Albrecht-Straße (heute: Stresemannstraße) stehen, früher Adresse des Reichssicherheitshauptamtes und Sitz von Heinrich Himmler. Nach dem Krieg beeilten sich die Berliner - wie alle Deutschen - den SS-Staat zu vergessen, und lange war das Areal ein Zwischenlagerplatz für Abrißschutt, ein Teil des Geländes wurde zu einem Autodrom ("Fahren ohne Führerschein"), und ein Werbeschild lockte zu "Dreamboys Lachbühne", einem Transvestitenlokal.

Nach der Wende brach eine Erinnerungswut aus, als wollte der Westen Berlins dem Osten zeigen, wer Klassenbester ist: 1995 wurde der Grundstein einer Dokumentations- und Begegnungsstätte "Topographie des Terrors" gelegt - so wie alle erwähnten Stätten der Erinnerung nach der Wende entstanden, eine Art Sehnsucht nach Symbolen der nationalen Erinnerung.

Über das Denkmal für die ermordeten Juden Europas wird seit zehn Jahren nachgedacht. Ausschreibungen, die mit "Wir Deutsche" beginnen, wurden veröffentlicht, Preisträger wurden gekürt, öffentliche Diskussionen veranstaltet, und das Monument wurde nicht gebaut. Warum nicht?

Berlin als Hauptstadt des Dritten Reiches war auch die Hauptstadt des Terrors. Daran erinnern heute 500 Gedenktafeln und über 40 Denkmäler. Aber es fehlt, argumentieren einige, das zentrale Denkmal im Land der Täter oder, anders gesagt, ein Ort des Gedenkens für die Toten, die keinen Friedhof haben, die Toten von Auschwitz, Warschau oder Buchenwald. Zu diesem Bemühen um Trauer für die Holocaust-Opfer als deutscher Sinnstiftung schreibt Eike Geisel süffisant: "In Anerkennung ihrer Verdienste schenkt Deutschland den Ermordeten ein Denkmal."

Die Sache ist durch die Diskussion nicht klarer, sondern verworrener geworden. Ich ziehe einem offiziösen, zentralen Denkmal dezentrale und nicht monumentale Stätten der Erinnerung vor. Es gibt authentische Orte der Erinnerung in Berlin - das Haus der Wannseekonferenz oder "Topographie des Terrors", auch künstlerisch gelungene Mahnmale wie in Steglitz oder im Bayrischen Viertel. Ein Denkmal der nationalen Suggestion wie in Buchenwald wird scheitern, wie die Skulptur Cremers gescheitert ist.