Nussbaum

Wilfried W. Meyer
 
Ist das nicht Nussbaum da drüben? Diese Gesichtszüge, tief gekerbt, die lange Wölbung der Brauen, jetzt grau, über den verschatteten Augen, die Stirn, auf der sich eine faltenalte Drei abzeichnet, und - statt auf dem kahlen, altersfleckigen Schädel - neben sich auf dem Tisch eine dieser merkwürdigen Kopfbedeckungen, jarmulkasamtene Baskenmützen, Papier- und Pierrothüte, trichterförmige Kippas, die er auf seinen Bildern auch immer trug, der Mantel, tallithweiß über der Stuhllehne, englischer Anzug, verschlissen und faltig um die knochendürre Gestalt, das Malertuch über der Schulter, der Künstlerschal, der rote Pullover, der blaue, der braune, das kragenlose Totenhemd - und wieder dieses schmerzlich vertraute Gesicht darüber, das unentwegt arbeitet, zuckt, verspringt, Masken werfend, grimassierend, als posierte er noch immer, um sich malend zu fixieren, sich seiner selbst innezuwerden, mit forschendem Blick vor unsichtbaren Spiegeln - all die Einzelheiten, Antlitze eines verlorenen Lebens, die mir noch bei der Nussbaum-Ausstellung im Joods Historisch Museum ein weiteres Mal ins Auge gefahren waren, ja, ich kenne ihn gut, seine Bilder, seine fremdelnden Selbstvergewisserungsporträts im belgischen Exil - Bin ich das? Sehe ich so aus? Lebe ich? -, diese Versuche, sich ins Leben zurückzumalen, hier regen sie sich plötzlich in Fleisch und Blut - Wiedererkennen wie eine aufsteigende Welle in mir: Nur wenige Schritte entfernt, mitten in der Caféteria des Stedelijk Museum, sitzt Felix Nussbaum, der jüdische Maler, 1904 in meiner Heimatstadt geboren, 1944 umgebracht in Auschwitz, sitzt vornübergebeugt, ein alter Mann, über dem Spiegel einer Tasse Tee und atmet ein und trinkt und atmet aus und lebt. Kein Zweifel, er ist es, unmöglich, er kann es nicht sein. Wer sollte mir glauben, daß ich Felix Nussbaum gesehen habe, 94jährig? Und doch sitzt er da, über ihm bricht sich ein Leuchten (aus Carel Appels Wandgemälde), ich sehe ihn deutlich und klar, sitzt da am Tisch gegenüber, blickt selbstvergessen vor sich hin, in seinen Tee wie in einen Spiegel, posiert, als ob, grimassiert, als ob, ein Mund, der lacht und feixt und pfeift, zwar tonlos, aber so, daß ich den Luftstrom höre, der seine Lippen verläßt, und zieht ein Taschentuch hervor, erkenne es wieder: gemustert wie die alten deutschen Geschirrtücher auf seinen Bildern, nur kleiner, viel kleiner, wischt sich über die Stirn, trinkt aus und erhebt sich, mühsam, nein, er kann es nicht sein, war Nussbaum nicht größer, schlägt seinen Mantel über den Arm, setzt einen dieser merkwürdigen Hüte auf und ist es doch, bewegt sich, bewegt sich, nie sah ich ihn so, langsam Richtung Foyer. War das sein Gang, sein Altersgang, ruckartig, als müsse er den rechten Fuß von einem zähklebrigen Boden losreißen, schleppend, als schleife der linke an einem zu langen Marionettenfaden? Ich starre ihm zwischen zwei akkurat gefalteten Japanerinnen hinterher: Soll ich ihm nachgehen, ihn ansprechen? Zögernd leere ich meine Tasse, schiebe die Zeitung zusammen, unschlüssig, schreibe "Nussbaum?" an den Rand eines Artikels zum "54. Mai", und dann, mit einem Ruck, gehe ich ihm nach, halte Ausschau nach ihm, im Foyer, an der Kasse, draußen vor dem Museum, aber er ist verschwunden. Nein, glaube ich, es war doch nicht Nussbaum, unmöglich. Und was, wenn doch?

Gestern habe ich Nussbaum wieder gesehen, schon von weitem, als ich von der Verandaseite her die Caféteria des Stedelijk Museum durchqueren wollte, habe ich ihn erkannt, er saß am selben Tisch wie ein paar Tage zuvor und trank seinen Tee. Ich wollte ihn ansprechen, er war es, bestimmt, und steuerte auch gleich auf ihn los, als mir eine Tabletts balancierende Nonnenschar den Weg versperrte und er im selben Moment sich erhob, in Richtung Foyer sich bewegte, wie neulich - und ich ihm nach, gerade noch erspähend, wie er in einen Bildersaal verschwand.

Doch als ich dort anlangte - eine Handvoll Besucher in die Stille gestreut, an den Wänden holländische Meister der zwanziger, dreißiger Jahre: Pyke Koch, Wim Schumacher, Carel Willink, Charley Toorop und andere Maler aus Nussbaums Generation - war er wieder wie vom Erdboden verschluckt. Unmöglich, daß er den Durchgang zum nächsten Saal schon erreicht haben konnte, aber auch dort keine Spur von ihm. Es schien, als habe er sich aufgelöst in seinem ureigensten Metier, aufgesogen von den Formen, Farben, Bildern, die ihn ansprachen. Notierte: Erstaunliche Affinitäten. Ungeahnte Zusammenhänge? Näher untersuchen!

Entschuldigung, daß ich Sie anspreche, aber sind Sie nicht Felix Nussbaum?" Endlich hatte ich ihn erwischt, und ich wollte Gewißheit.

Er sah verwundert zu mir auf, kein Muskel bewegte sich in seinem Gesicht: "Leider nein."

"Aber..." (Stutzend.) "Aber diese Ähnlichkeit..." stammelte ich, verlegen und aufgeregt zugleich - ich mußte auf ihn wirken wie jemand, der unter fadenscheinigem Vorwand Kontakt suchte. "Sie sind ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, und - Pardon! - auch vom Alter her... Darf ich nach Ihrem Geburtsjahr fragen?"

"Dürfen Sie. Jahrgang Nullvier."

"Sehen Sie," platzte ich heraus, "das gleiche Alter wie Felix Nussbaum."

"Und wer soll das sein, dieser Felix Nussbaum?"

"Einer der bedeutendsten jüdischen Maler dieses Jahrhunderts, geboren in Osnabrück, wo auch ich herkomme, wissen Sie, eine kleine deutsche Stadt zwischen -"

"Jaja."

"Sie kennen Osnabrück?"

"Flüchtig."

Einer, der aussah wie Felix Nussbaum und noch dazu dessen unscheinbare Geburtsstadt kannte!

"Bin da mal hängengeblieben", fügte er hinzu, als er mein gläubig-ungläubiges Staunen bemerkte, "schon Jahre her, auf dem Weg nach Berlin, und habe mir das Städtchen ein wenig angesehen. Aber setzen Sie sich doch, erzählen Sie, was ist mit diesem Nussbaum?"

"Danke." Ich nahm auf der anderen Seite des Tisches Platz, redlich bemüht, mich der Vorstellung zu erwehren, jemandem dessen eigene Lebensgeschichte erzählen zu sollen: "In Osnabrück hat er zu malen begonnen, dann Berlin und erste Erfolge. 1932 Stipendium für die Villa Massimo in Rom. Währenddessen brennen sie ihm in Berlin das Atelier ab, 150 Bilder. Kann wegen der Nazis nicht zurück und geht mit seiner Frau ins Exil nach Belgien: Ostende, Brüssel, Ostende, jahrelanges Suchen nach einer dauerhaften Bleibe. Malt unter widrigsten Umständen. 1940 Verhaftung nach dem Einmarsch der Nazi-Truppen und Internierung im Lager Saint-Cyprien bei Bordeaux. Flucht und erneut Unterschlupf in Brüssel, verzweifeltes Malen, ein Leben in Verstecken. 1944 die zweite Verhaftung, auch seine Frau. Dann Auschwitz."

"Aber wie können Sie dann annehmen, daß ich Felix Nussbaum sei?"

"Wäre doch nicht das erste Mal, daß ein Totgeglaubter eines Tages unter den Überlebenden auftaucht. Unwahrscheinlich, ja, aber doch nicht ausgeschlossen. Und hätte es nicht auch für ihn eine Überlebenschance geben können?! Stellen Sie sich vor, er ist seinen Bewachern irgendwo entwischt, schon vor dem Transport, und hat sich nach Amsterdam durchgeschlagen, Amsterdam-Zuid, rechts und links von der Beethovenstraat, wo die kleine jüdische Emigrantenkolonie aus Osnabrück sich versteckt hielt, vielleicht, daß er mit Hilfe Otto Meyers aus der Widerstandsgruppe Limpers..."

"Limperg, Verehrtester, nicht Limpers, Sie meinen die Widerstandsgruppe Koen Limperg. Der Bildhauer Johan Limpers gehörte zwar auch zum Widerstand, wurde zusammen mit Gerrit van der Veen füsiliert, aber Otto Meyer stand in Kontakt zur Gruppe Limperg, wenn ich Sie korrigieren darf."

Hastig, wie um sich selbst zu unterbrechen, nahm er einen Schluck Tee, während ich ihn verdutzt anstarrte und meiner Verblüffung Herr zu werden versuchte, ein Anstrengung, die schließlich in die stockende Frage mündete:

"Haben Sie Otto Meyer gekannt?"

"Er war kein Unbekannter in der Kunst- und Museumswelt nach 1945: Neubegründer und Direktor des Joods Historisch Museum, Hauptkonservator der städtischen Museen, stellvertretender Leiter des Stedelijk Museum, überhaupt ein unermüdlicher Anreger und Initiator. Für einen Mann deutscher Herkunft war sein Ansehen hier enorm. Große Nachrufe, als er 1964 starb. Aber ich wollte Sie nicht unterbrechen..."

"Ich meine: Haben Sie ihn persönlich gekannt?"

"Ja, ziemlich gut sogar. Er hat mir seinerzeit Arbeit verschafft, erst bei der Neuordnung des Museums Willet-Holthuysen, später hier im Archiv vom Stedelijk Museum."

Der Mann, den ich für Felix Nussbaum gehalten hatte, schien sich in einen treuen Museumsmitarbeiter zu verwandeln, den es auch im Ruhestand immer wieder mal an die alte Wirkungsstätte zog, auf einen kleinen Plausch mit Kollegen, die längst selbst an der Pensionierungsgrenze stehen mußten, oder nur auf eine Tasse Tee in vertrauter Umgebung. Wahrscheinlich hat er eine Karte auf Lebenszeit, dachte ich. Aber im selben Moment nahm er eine dieser merkwürdigen Kopfbedeckungen vom Tisch, um sie neben sich auf den Stuhl zu legen - und da war sie wieder, diese unglaubliche Ähnlichkeit, die wie aufbrandendes Wiedererkennen durch mich zuckte.

"Dann wissen Sie ja vielleicht," fuhr ich zögernd fort, "daß Otto Meyer ursprünglich auch aus Osnabrück stammte." (Nicken.) "Er besaß dort eine Kunsthandlung, die das verschlafene Provinzstädtchen mit der Moderne konfrontierte: Kokoschka, Dix, Kandinsky, Klee... und natürlich hat er auch ein so vielversprechendes Talent wie Felix Nussbaum ausgestellt. Die beiden kannten einander also. Nussbaum hätte nur zu erfahren brauchen, daß Meyer ebenfalls aus dem Land getrieben worden war und seit 1937 hier in Amsterdam lebte - er wäre genau die richtige Adresse für ihn gewesen! Denn Meyer wußte bestimmt auch von Hans Calmeyer, einem Osnabrücker Rechtsanwalt, der bei der Besatzungsverwaltung in Den Haag die Stelle für ,rassische Zweifelsfragen` leitete. Hat durch amtliche Fälschungen mehrere tausend Juden ,entsternt` und vor dem Tod bewahrt. Und so könnte ja auch Nussbaum gecalmeyert worden sein, wie das damals hieß."

Ich hielt erwartungsvoll inne, und für den Bruchteil einer Sekunde sah er wie jemand aus, der nur zu gern auf diese Weise überlebt hätte, aber das flüchtige Lächeln um seinen Mund wich schnell einem Ausdruck gütiger Besorgnis, die zweifellos mir und meiner Zurechenbarkeit galt.

"Schöne Geschichte, die Sie mir da erzählen," sagte er, "schreiben Sie sie auf, machen Sie ein Buch daraus - Stoff für Hollywood!" Er hob die papierhäutigen Hände ein wenig vom Tisch, ein Achselzucken andeutend, das ihm sichtlich schwerfiel, und verschob den Teelöffel auf der Untertasse. Dann: "Aber gut: Nehmen wir mal an, daß es so gewesen sein könnte, mehr oder weniger. Wie stellen Sie sich denn sein weiteres Leben vor?"

"Ähnlich wie Ihres", sagte ich ein wenig herausfordernd, "schwierige Anfänge nach dem Krieg, dann aber geregelte Arbeit, bescheidenes Einkommen in einer lebbaren Stadt, vielleicht als Restaurator oder Museumsaufseher, vielleicht im Archivdienst, jedenfalls unauffällig und doch in ständigem Kontakt mit der Kunst."

"Sie meinen also, der große Maler Felix Nussbaum hätte sein künstlerisches Genie aufgegeben und all die Jahre in der Anonymität verbracht?"

"Es wäre immerhin denkbar", erwiderte ich und spürte plötzlich eine Art Lampenfieber vor der Erklärung, die ich ihm jetzt schuldete: "Vielleicht war er mit seinem letzten Gemälde, dem Triumph des Todes, selbst noch als Überlebender an einem point of no return angelangt: Diese wahr gewordene apokalyptische Trümmervision, die ausgerechnet ihn, der sie so klarsichtig auf die Leinwand gebannt hatte, in der Realität verschonte, eine gebrochene Existenz zurücklassend, der es unmöglich war, zu künstlerischer Identität und Entwurfsfreiheit zurückzufinden. Ganz zu schweigen von der Überlebensschuld als Mensch, die er wie viele andere gegenüber den Toten empfunden haben mag."

"Kommen Sie mir nicht mit der ,Überlebensschuld`!" brach es mit unvermuteter Heftigkeit aus ihm hervor. "Davon zu sprechen, ist Sache der Überlebenden. Aus dem Munde eines Nachgeborenen, noch dazu deutscher Herkunft, hat dieses Wort immer etwas von einem Entlastungsangriff, wenn Sie verstehen..."

"Wahrscheinlich haben Sie recht", sagte ich nach betretenem Schweigen. Er spitzte den Mund unter Zuhilfenahme der Finger zu einem kurzen, tonlosen Pfeifen über seinem Tee, als sei ich gar nicht vorhanden, dann leise, wie zu sich selbst:

"Schwerer als das Empfinden einer Überlebensschuld wiegt die Einsamkeit des Überlebens."

Erst nach einer quälend langen Pause, in der sein Gesicht in Maskenstarre fiel und ich seinen Atem schleifen hörte, kehrte sein Blick wieder zu mir zurück: "Was hätten Sie denn an Nussbaums Stelle gemacht? Wären Sie in Ihre Stadt zurückgegangen?" Und als ich zögerte: "Hat sie wenigstens nach dem Krieg ihre anständigen Söhne zu würdigen gewußt?"

"Nussbaum ja, allerdings erst seit den siebziger Jahren, und manche meinen, viel zu spät. Calmeyer, der nach dem Krieg wieder als Rechtsanwalt in Osnabrück tätig war, zu Lebzeiten nie und nach seinem Tod 1972 nur zögerlich, eigentlich erst, als Israel ihn posthum mit der Yad-Vashem-Ehrung auszeichnete und Schindlers Liste für eine gewisse Nachfrage sorgte."

"Und Otto Meyer?"

"Hat nie wieder einen Fuß in seine Heimatstadt gesetzt und ist dort praktisch unbekannt."

"Wäre wohl nicht das erste Mal," sagte er wie in einer matten Erinnerung, "daß ein Überlebender sich weigert, wieder unter denen aufzutauchen, die ihm den Tod gewünscht haben." Dann, mit jäher Entschlossenheit: "Und was hätte ihn denn auch erwartet, wenn er in seine Geburtsstadt zurückgekehrt wäre?" Er griff mit zittriger Bewegung in die Innentasche seines englischen Anzugs, zupfte ein gefaltetes Blatt Papier hervor und schob es über den Tisch. "Lesen Sie!"

Verdutzt und neugierig zugleich, faltete ich das Blatt, eine graustreifige Kopie, auseinander und hielt ein engzeiliges Schriftstück in Händen, mit Schreibmaschine geschrieben, voller Fehler und verrutschter Anschläge:

Museum Osnabrück, den 24. Januar 1956

Herrn Stadtdirektor

Herr Dr. Rasch, Bramsche, war heute bei mir und bat mich, mit Ihnen Rücksprache zu nehmen wegen eines Amsterdamer Herrn, der gebürtiger Osnabrücker und jüdischer Herkunft ist. Es handelt sich um den Sohn des Antiquitätenhändlers Meyer, ehemals in der Hegernstr.
Dieser Mann ist heute Konservator des Stedelijk-Museums und spielt in der Kunstwelt Hollands eine große Rolle. Er hat eine furchtbare Haßliebe auf die Stadt Osnabrück, da seine Mutter und seine Geschwister vor seinen Augen von der Gestapo gefangengenommen und später getötet wurden. Sein ganzer Haß entläd sich nicht auf das Deutschland der Zitler-Zeit, sondern auf die Stadt Osnabrück. Die Einzigen, auf die er hört, sind die Familie Rasch. Er ist sehr interessiert an allem, was in Osnabrück vor sich geht, will aber mit keinem Osnabrücker zu tun haben. Dieser Mann kann aber dem Ansehen der Stadt Osnabrück außerordentlich schaden durch seine Bemerkungen über Kultur und Politik der Stadt. Wie wäre es, wenn wir diesen Mann nach Osnabrück einlüden und versuchen würden, ihn vor unseren Wagen zu spannen, um die deutsch-holländischen Kulturbeziehungen zu intensivieren.
Man könnte es ja inform einer offiziellen Einladung machen und ihm das neue Osnabrück zeigen.

Fragend, konsterniert, sah ich von diesem Dokument plumper Einfalt und berechnenden Kalküls auf in das ungerührte Gesicht des alten Mannes, den ich - mehr denn je - für Nussbaum hielt, und wieder zurück.

"Woher haben Sie das?" brachte ich schließlich hervor.

"Aus dem hiesigen Archiv." (Lächeln.) "Aber, um die ganze Wahrheit zu sagen: Das Original liegt natürlich in Osnabrück, wo ich es seinerzeit einsehen und mit verschiedenen anderen Dokumenten für unsere Sammlung kopieren durfte."

"Auf der Durchreise nach Berlin... Und wieso tragen Sie das mit sich herum?"

"Ich schreibe einen biographischen Aufsatz über Otto Meyer, habe mir heute diese Kopie von der Kopie anfertigen lassen."

"Zuviel des Zufalls." Kopfschüttelnd gab ich ihm den Brief zurück.

"Vielleicht ist er Ihnen gewogen, der Zufall. Ihre Nussbaum-Phantasie, mein Lieber, macht auf mich jedenfalls den Eindruck, als ob Sie ganz gern an den Zufall glauben, glauben möchten. Immerhin waren Sie es, der mich von einem höchst unwahrscheinlichen Zufall überzeugen wollte, bei dem ich selbst die Rolle Nussbaums als Möglichkeitsmensch übernehmen sollte. Und jetzt, nachdem ich Ihnen längst gesagt habe, daß ich nicht Nussbaum bin, komme ich mir immer noch vor wie ein Einfall von Ihnen - oder eine Wunschprojektion."

"Es fällt mir in der Tat schwer, Ihnen zu glauben. Und verzeihen Sie, aber mir erscheint es offen gestanden eher so, als käme ich nicht ganz unerwartet, ja, als hätten Sie mich gewissermaßen zu sich kommen lassen... doch nicht nur, um mir diesen Brief zu zeigen?"

"Ich wollte nur verdeutlichen", erwiderte er mit Ironie - und war da nicht auch eine Spur Koketterie? - "daß es wenig Veranlassung gab, sich Ihrem famosen Wirtschaftswunderstädtchen als der Überlebende Felix Nussbaum zu erkennen zu geben. Statt mit Anzeichen von Scham über die Vertreibung und Auslöschung seiner Familie, hätte man wohl eher mit den besitzergreifenden Umarmungsversuchen wendiger Verdrängungshelfer rechnen müssen - wenn, ja, wenn das Werk in seinem künstlerischen Wert und mehr noch in seinen Vermarktungsmöglichkeiten schon damals erkannt worden wäre! Und gibt es nicht auch heute Grund genug, das erwachte Verständnis vor allem als Verständnis fürs Stadtmarketing zu beargwöhnen?"

"Aber die ganze Welt verehrt Ihre Bilder, Nussbaum!" platzte ich heraus. Und er, kühl, unbeirrt:

"Ich bin nicht Nussbaum, junger Freund."

"30.000 Besucher im Joods Historisch Museum, erfolgreichste Ausstellung! Und in Osnabrück hat man sich endlich dazu durchgerungen, ein Nussbaum-Museum zu bauen!"

"Liebes Kind," sagte er mit der milden Herablassung des Doppelt-so-Alten. Oder meinte er Daniel Libeskind, den Architekten dieses neuen Museums? "Stellen Sie sich vor, Nussbaum käme zur Einweihung, und die wackeren Stadtväter müßten ihm offenbaren: Deine Bilder, die wir jahrelang aus allen Teilen Europas zusammengetragen und restauriert haben, sind jetzt eine Dauerleihgabe der Niedersächsischen Sparkassenstiftung. Weißt Du, sechs Millionen, wir mußten die Bilder leider verkaufen, um den Museumsbau zu finanzieren und sie wenigstens in angemessener Form zeigen zu können. Und das Haus Deiner Eltern konnten wir bedauerlicherweise auch nicht zurückkaufen. Aber in ihrer Verehrung für Dich lassen sich die Osnabrücker von niemandem übertreffen, von niemandem, nicht mal von der Niedersächsischen Lottostiftung, die auch noch fünf Millionen dazugegeben hat."

Meine Verwirrung war komplett. Der alte Mann, der aussah wie Nussbaum und Bescheid wußte wie kein anderer, der jetzt wieder über seinem Tee feixte und doch partout nicht Nussbaum sein wollte, versetzte mich in verstörtes Schweigen. Ich blickte umher, die Caféteria hatte sich geleert, Geschirrgeklapper füllte den Raum und dann das akustische Signal, das den Besuchern das nahe Ende der Öffnungszeit anzeigt.

"Oh", sagte der alte Mann, "ich muß gehen, das Abendbrot, im Seniorenheim warten sie nicht gern."

"Darf ich Sie noch ein Stück begleiten?" fragte ich, mechanisch, ohne zu wissen, was in meiner Absicht lag.

"Warum nicht. Wie heißen Sie eigentlich?"

Ich hörte mich meinen Namen sagen und hinzufügen, wahrscheinlich um Mißverständnissen vorzubeugen: "Nicht verwandt. Reiner Zufall. Und Sie?"

"Notelaar." Und mit einem schalkhaften Lächeln, als er das Aufhorchen in meinem Gesicht sah: "Nicht verwandt. Auch reiner Zufall."

Notelaar (?) hatte wieder einen dieser merkwürdigen Hüte, der auf dem Stuhl lag, aufgesetzt. Den Mantel trug er über dem Arm, es war ein warmer Spätsommernachmittag. Gemeinsam, im stockenden Tempo seiner Schritte verließen wir die Cafeteria, gingen durch das Foyer, wo N. zur Kassiererin hinübergrüßte, zum Haupteingang hinaus, bogen von der Paulus Potterstraat nach links in die Van Baerlestraat, und dann, an der Haltestelle der Linie 5, sah ich mich mit N. Seite an Seite über den meerweiten Museumplein Richtung Rijksmuseum wandeln: Der eine, der den anderen für Felix Nussbaum hielt, und der andere, der den einen nicht zu überzeugen vermochte, ein anderer zu sein. So schienen sie, einander zugewandt, wieder im Gespräch, wie zwei auf einem angeregten Gedankengang in die Stadt. Jetzt waren sie unter den großen Bäumen, dunkelten in ihrem Schatten und wurden kleiner und kleiner, bis sie sich weit draußen auf dem flachen Atem aus Abenddunst in graugrünes Punkteflimmern auflösten. Die Stadt hatte sie aufgesogen, ich spürte ein leichtes Ziehen in der Seite, als ich die Straßenbahn Richtung Amsterdam-Zuid bestieg.