Niederlande:

Brave new work (III)

Frank Eckardt
 

Auf der vierspurigen Schnellstraße N 44 rasen die Pendler nach Den Haag, vorbei an der unscheinbaren Kleinstadt Wassenaar. Vor den Toren des politischen Zentrums der Niederlande herrscht Ruhe und weht frische Nordseeluft. Nur ein ausgeprägter Dünenpark und der Golfplatz trennen die reichste Gemeinde des Landes vom Strand. Den weißgefärbt ausladenden Einfamilienhäusern ist nicht anzusehen, daß ausgerechnet hier Gewerkschaftsgeschichte geschrieben wurde. Dennoch verströmen der sogenannte "Vertrag von Wassenaar" und der Ort selbst denselben Geist. In Wassenaar, Hochburg der rechtsliberalen VVD, schaut man mit Verachtung in Richtung Westen, wo die Großstadt, die man hier noch nach dem alten höfischen Namen s'Gravenhage nennt, verludere. "VVD wählen, weil es um Leistung geht", war auf den wenigen Wahlplakaten jüngst zu lesen.

Die Gewerkschaften konnten sich hier vor 15 Jahren nur dem neoliberalen Credo, Lohnverzicht schaffe Arbeitsplätze, beugen. Als danach tatsächlich die Jobmaschine Niederlande ansprang, ward ein Mythos geboren, an dem bis heute nicht gerüttelt wird. Vergessen, daß die Gewerkschaften nicht freudestrahlend ihre heute als Ideologie gebrandmarkten Umverteilungsabsichten aufgaben. Nach dem Ende der sozialdemokratischen Regierung in den Siebzigern, die ihnen noch zweistellige Lohnerhöhungen zugestande hatte, waren sie vom konservativen Ministerpräsidenten Lubbers sechs Jahre lang mit harten tarifpolitischen Maßnahmen zermürbt worden. Tarifautonomie, wie sie in Deutschland grundgesetzlich festgelegt ist, wurde den Gewerkschaften (FNV) erst in Wassenaar teilweise eingeräumt. Nur so konnten sie hoffen, jährliche Nullrunden zu verhindern. Eine von beiden Tarifparteien getragene "Stiftung der Arbeit" errechnet neue Lohnerhöhungen, denen aber immer auch die Regierung zustimmen muß. Als "Plattform für die Diskussion sozialer und wirtschaftlicher Themen" wurde sie im letzten Jahr mit dem Bertelsmann-Preis ob ihrer so vorteilhaften "Kompromißfähigkeit" ausgezeichnet.

Heute sitzt der damalige Verhandlungsführer der Gewerkschaften, Wim Kok, als sozialdemokratischer Ministerpräsident auf der anderen Seite der Tafel. Auch er hat das Zähneknirschen von damals vergessen. Die Bilder von massenweise demonstrierenden Arbeitnehmern, selbst von sonst so loyalen wie Polizisten und Krankenschwestern, sind verschwunden, die Finanzhaushalte aber sehen immer besser aus, und das Wirtschaftswachstum scheint kein Ende zu nehmen. Doch die Gewerkschaften konnten keine Münze aus den Abstrichen schlagen. Zwei Prozent Lohnerhöhung in 15 Jahren, so lautet die ernüchternde Bilanz. Wilde Streiks, wie die der Krankenschwestern, richteten sich zum Teil sogar ausdrücklich gegen die Gewerkschaften. Alternative Gewerkschaften wie Nu 91 schossen aus dem Boden und rekrutierten für ihre Aktionen ein Vielfaches gegenüber den FNV-Verbänden. Schließlich wurden sie aber von diesen aufgeschluckt und mit geringen Lohnerhöhungen abgespeist. Als sich in diesem Jahr die Pool-Mitarbeiter der Hafenbetriebe Rotterdams mit ihren streikenden Amsterdamer Kollegen solidarisierten, wurden sie vom FNV kalt abgerüffelt. Den Entlassungen war schon von der Gewerkschaftszentrale zugestimmt worden.

@BODY TEXT-ENG = Drastisch sinkende Mitgliederzahlen und Mangel an klaren Forderungen lassen Wassenaar als Waterloo der niederländischen Gewerkschaften erscheinen. Die eingeleiteten Deregulierungen am Arbeitsmarkt haben den organisierten Arbeitnehmer zum Anachronismus in der schönen neuen Welt der Arbeit gemacht. Wer Zeitarbeit annimmt, kann sich den Luxus einer Interessenvertretung nicht leisten. Nur selten gelingt es den Flex-Arbeitern, wie den Telefonisten der Leihfirma Randstad, sich zu organisieren und gemeinsame Interessen zu formulieren. Im November hatten sich 40 Männer und Frauen in Amsterdam versammelt, weil sie die vielen Abzüge auf ihren Lohnabrechnungen nicht mehr hinnehmen wollten. "Die Bezahlung ist nicht so sehr das Problem", sagte Ben Mendes, einer der Organisatoren der Telefonisten. "Es gibt nur zu viele Wege, die Randstad offenstehen, um Unkosten abzubuchen." Als auf der ersten jemals von Flex-Arbeitern einberufenen Versammlung der eingeladene FNV-Vertreter Han Westerhof vorsichtig nach Kritik an der Firma fragte, schallte ihm unter tosendem Beifall entgegen: "Kritik? Das hier ist reine Ausbeutung!" Immerhin ließ sich mit Randstad reden und sind die landesweit ersten Grundregeln festgelegt worden. Sicherheitsmaßnahmen, Schulungen und Rentenbeiträge haben die Gewerkschaften dem Marktführer ebenfalls abfordern können. Da es inzwischen in bestimmten Sektoren sogar einen Arbeitskräftemangel gibt, scheint Randstad an einer stärkeren Bindung der flexos gelegen zu sein. In diesem Jahr ging die Leihfirma auf einen weiteren Wunsch der Gewerkschaften ein. In der darbenden Nahrungsmittelindustrie sprang Randstad ein und schloß mit den betroffenen Firmen eine Vereinbarung ab, nach der die Arbeitnehmer anstelle einer Entlassung zunächst einen Zweijahresvertrag von der Leihfirma bekommen. Damit, so hoffen die Gewerkschaften, bleibt Hoffnung auf eine reguläre Stelle, sobald die Branche saniert ist.

@BODY TEXT-ENG = Doch verglichen mit den Gewinnen auf der anderen Seite, bei den Unternehmen und den Modernisierungsgewinnern, verbucht der Gewerkschaftspragmatismus nur karge Erfolge. Hatte sich 1997, im "Jahr des Geldes" (de Volkskrant), der Börsenindex mehr als verdoppelt und die meisten Branchen exorbitante Gewinne verzeichnet, so mußte der FNV nun darauf pochen, daß auch den Arbeitnehmern ein Anteil an dieser Erfolgsstory zukommen soll. "Das letzte Jahr war in Wirklichkeit das Jahr der Habgier der hohen Herren", kritisierte Lodewijk de Wal, der FNV-Vorsitzende. Doch der vollmundigen Rhetorik folgten auch in den ersten Monaten dieses Jahres magerste Tarifabschlüsse. Im Bankensektor hatten sie nach vier Nullrunden und auf dem Hintergrund von enormen Unternehmensgewinnen bescheidene vier Prozent gefordert. Doch die niederländischen Geldunternehmen, nunmehr im großen Stil mit der Übernahme ausländischer Banken beschäftigt, zogen sich mit drei Prozent für neun Monate aus der Affäre. Da im Gegensatz zur Metallindustrie an den Schaltern und Tresoren keine Rücksicht auf die abhängigen Zulieferfirmen und das Kleingewerbe genommen werden muß, sendet auch dieser lohnpolitische Verzicht nur ein Signal aus: bei Klagen über die soziale Ungleichheit im Lande an Wassenaar denken und den Traum von Partizipation durch Bescheidenheit ersetzen.