Die Ostlichterkette

61. Kerze

Wilhelm Pauli
 

Rosenlöcher hat recht: Ich hätte nicht mit der Bahn nach Dresden fahren dürfen. Rosenlöcher ist einer der wenigen Ost-Autoren, deren Reflexionen über das Glück oder Unglück der deutschen Vereinigung mit Gewinn und Vergnügen lesbar sind. Er rechnet nicht ab. Aber sich dazu. Möglich, daß Rosenlöcher ein guter Mensch ist. Jedenfalls ist er einer, der begreift, daß für Mitläufer oder -träumer die große Lippe nicht der rechte Schmuck ist. Rosenlöcher zeichnet die tragikomischen Züge der Bürger der neuen Republik mit Zuneigung. Ob sein Dresdner Tagebuch aus dem 89er, ob das Ostgezeter aus dem vergangenen Jahr, es scheint ein Ahnen davon in ihm, wie wenig sich unsere lieben Deutschen unterscheiden, und gerade daraus sich Konflikte zwirbeln und für diverse Interessen funktionalisieren lassen, und auch davon, daß dem in seiner Datscha grillenden und am Auto polierenden Menschen demokratische Freiheiten selten fehlen und er eher ungehalten darüber wird, wenn ihn ein Nachbar mit solchem Zeug beim Grillen oder Polieren stört. Bis auf die Reisefreiheit. Natürlich. Von der DDR werden ihre Bürger einst berichten, daß sie nicht reisen konnten. Während vom Faschismus bleibt, daß Hitler die Autobahnen gebaut hat. Darüber müßte man einmal nachdenken. Kurz: Ich wollte mit Rosenlöcher sprechen. Aber Rosenlöcher antwortet nicht. Der Verlag weiß auch nicht weiter. Dann treibe ich seine Adresse auf, schmeiße eines schönen Sonntags alles hin und bediene mich der niedergelegten Rosenlöcherschen Offenbarungen, um ihm auf die Spur zu kommen.

Ich hätte, wie gesagt, nicht den Zug nehmen dürfen. Man steigt aus und will wieder umkehren. Was da steht, ist die in Platte gegossene Menschenverachtung. Stellt man sich dann die Verkaufsverschläge der Prager Straße, in der Rosenlöcher bei den 89er Demonstrationen aus der dritten Reihe heldenhaft Sätze demokratischen Inhalts gegen die Staatsmacht schleuderte, stellt man sich die aus diesen Verschlägen, die jetzt von der normierten Buntheit der deutschen Einheitseinkaufsstraßen kleinwüchsig möbliert sind, ödende sozialistische Bescheidenheit vor, versteht man Rosenlöcher sofort: Dresden ist nicht mehr. Dreifach vernichtet - Bomben, sozialistischer Aufbau, kapitalistische Okkupation. Am Altmarkt haben Roland Berger und C&A ein großes Loch geschaufelt. Vor der Kreuzkirche stellen Weihnachtsmarktblockhütten ein Frühlingsfest dar. Dann ist man schon mittendrin in der Kultur. Semper-Oper, Schloß, Ruine der Frauenkirche. Und ich krieg' mein notorisches Kulturkotzen, weil hier wieder unausweichlich erfahrbar wird, wie wir es mit der Schönen halten. Da steht sie. Da brauchen wir selbst keine mehr. Die numerierten Brocken der Frauenkirche in den numerierten Regalen geben mir den Rest, und ich suche in der Nähe Sedierung: 6,50 DM kostet das Weizen. Kaum aus der Scheiße gekrochen, schon unverschämt, der Dresdner.

Schiffe mich fliehend ein. Schaukle mit dem Schaufelraddampfer flußauf nach Pillnitz. Hier fuhren die ersten Dampfmaschinen der Welt. Heute die ältesten in Gebrauch befindlichen der Welt. Wir durchfahren die erste Hängebrückenkonstruktion der Welt, das "Blaue Wunder". Und lassen linker Hand die erste Standseilbahn der Welt liegen. So sieht's aus. Jetzt, am frühen Morgen, säumen die Bewegungsfanatiker die Ufer. Auf der Werft in Laubegast wird gerade die "Gräfin Cosel", die einst Rosenlöcher heimkehrend mit "August dem Starken" überholte, gewartet. Und dann Schloß Pillnitz, dem man schon von weitem seine völlige Gespensterlosigkeit ansieht. Dafür ein prächtiger Park mit der ollen Kamelie. Einzige Überlebende eines 1767 erfolgten Kamelienimports. Unterdessen 9 Meter hoch und 33 dick, übergossen von karminroten Blütchen. Seit 1992 hat sie ein fahrbares, elektronisch temperaturgeregeltes Schutzglashaus. Steht man davor, wähnt man sich in einer verfahrenstechnischen Abteilung der BASF.

Ich aber will hinüber nach Kleinzschachwitz, wo an der Anlegestelle der Fähre ein Bierkiosk mit angenageltem Freisitz steht, in dem Rosenlöcher sich zuzuknallen pflegt. Indes, der Dichter von "De Vöchel singen im Gezweich" ist nicht anwesend. Ich gehe ein paar Schritte nach Kleinzschachwitz hinein und biege in die Weitlingstraße. Erst äußerster Zerfall, dann gemäßigter. Da wohnt er. Ich betrete ein Haus, wie ich's nie gesehen. Eine große Aufgangshalle, in die Wintergärten oder Söller oder Erker, die sonst aus Häusern herausragen, hineindrängen. Buntglas, schönste Holzfarben im bröckelnden Putz. Ein Denkmal. Mißtrauisch umschleichen mich die Parterrebewohner. Die Treppen hoch. Schon erfüllt mich Hoffnung. Der Schlüssel steckt außen in der Tür. Allein, es ist niemand da. Und nun einzudringen, um der Rosenlöcherschen Unauffindbarkeit schnüffelnd näher zu kommen, versage ich mir angesichts des ungeduldiger werdenden Scharrens der Erdbewohner. Schnell werfe ich noch einen Blick in die Pirnaer Landstraße, deren Pflastersteine, nach Rosenlöcher, in den Westen verbracht wurden: teerübergossen, tatsächlich. Dann laufe ich, die Elbe abwärts, nach Dresden zurück. Das Auge des Weltstädters erfrischen Wiesen mit so hohem Bewuchs, daß selbst Mörderhunde darin verschwinden. Blutjunge Studentinnen pflücken Sträuße zum Schmuck ihrer Brunstzimmerchen. Die Läufer sind nun verdrängt von massenhaft tretenden Radfahrern. In Wachwitz Dresdner Sauerbraten. Dann über das Blaue Wunder, das 1893 vor Inbetriebnahme mit Dampfwalzen, beladenen Waggons und hunderten von mutigen Soldaten getestet wurde, hinein ins Dresdner Vorstadtleben, wo abwechselnd böhmische und altbimbohafte Musik die Biergärten überschwemmt, vorbei auch an der Villa Maria. Eine jener kahlen italienischen Wirtschaften, in denen die bürgerliche deutsche Frau so recht vom Brusthaar des Italieners zu träumen vermag. Also jener Kontrast zwischen Kargheit, dem weißen Tischtuch auf dem alten Tisch und sonst nichts, sie schon filmmäßig draufgepackt, und dem im Kandelaberleuchten sich beugenden Brusthaarwuchern im Schattenwurf. Ein Räufeln und Stöhnen.

Aber weiter, denn es gibt noch eine Chance. Das Café Donnersberg in der Neustadt, wohin sich Rosenlöcher gerne zu tiefen Gesprächen zurückzuziehen pflegt. Und aus dem er ein ständiges DD-Dichter-Ein-und-Ausgehen vermeldet. Bis ich es in einem totsanierten Eckchen finde, ist es zu spät. Es ist 19 Uhr 15. Um 19 Uhr schließt der Laden. Was müssen das für Dichter sein?

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