Das Schloß in Sachsen

Als Hilfsarbeiter in Absurdistan

Marko Martin
 
 

"Es war spätabends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehen. Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an."

Als ich ins Schloß kam, schien die Sonne. Das war nicht weiter verwunderlich, denn Franz Kafkas Roman Das Schloß spiegelte laut DDR-Lexikon von 1981 lediglich "spätbürgerliche Entfremdung und Existenzangst wider" und wurde überdies auch noch "für imperialist. Ideologien mißbraucht". Wir aber schrieben August 1988, auch in Sachsen stand der Sozialismus noch für ein reichliches Jahr in voller Blüte, und ich war nicht K., der Landvermesser, sondern M., der zukünftige Hof- und Parkarbeiter.

Ich war 18 Jahre alt: Als Nicht-FDJler hatte man mich nicht zum Abitur zugelassen, aus einer mir zugewiesenen Lehre als Elektrotechniker flog ich nach ein paar Monaten wieder heraus, da ich die vormilitärische Lagerausbildung, die für DDR-Lehrlinge obligatorisch war, abgelehnt hatte. Mochte sich über solche politischen Abstrafungen empören, wer wollte, für die Behörden stellte ich lediglich eine Herausforderung an ihre grenzenlose Obhutspflicht dar. Man füllte einige Akten aus, sah mich hinter Hornbrillen strafend an, telefonierte etwas herum und fand schließlich ein neues Betätigungsfeld für mich: Ich war reif fürs Schloß, das heißt für eine Hilfsarbeiterstelle Lohngruppe IV - 540 Mark monatlich - im neuropsychiatrischen Fachkrankenhaus "Friedrich Wolf" in Wechselburg/Sachsen.

In Wechselburg, einem "Marktflecken" genannten Zwitter zwischen Dorf und Kleinstadt, der malerisch an dem von Industrieabfällen verseuchten Fluß Mulde lag, war ich bereits zur Schule gegangen. Das Schloß - auch als Klapse, Klapsmühle oder Irrenhaus bezeichnet - war der wichtigste Arbeitsplatzlieferant des Ortes; fast die gesamte Einwohnerschaft verdingte sich hier als Pfleger und Fahrer, Heizer und Gärtner, Krankenschwester oder Köchin. Nur die Ärzte und die Patienten stammten größtenteils von außerhalb.

Der Schloßpark, einst von einem Grafen als englischer Garten angelegt und nach der Enteignung zu einer Art Urwald mutiert, war der beliebteste Abenteuerspielplatz der Wechselburger Kinder. Wurden sie älter, war der mit üppigen Rhododendronsträuchern bestandene Park das natürliche Refugium für die ersten Zigaretten, im Kreis herumgereichte Schnapsflaschen oder die in angetrunkenem Zustand vollzogenen Entjungferungen, die hier regelmäßig nach jeder Dorf-Disco mehr oder weniger geräuschvoll stattfanden.

Seltsames Gefühl, hierher nun als Hilfsarbeiter zurückzukommen - eine amtlich verfügte Reinfantilisierung, eine fragwürdige Kontinuität, die allen Hoffnungen von Entwicklung, Aufbruch und neuen Perspektiven Hohn sprach.

Aber es war Sommer, am Himmel zeigte sich keine einzige Wolke, der Park leuchtete in sanftem Grün, und eigentlich war ich heilfroh, der muffigen Berufsschule mit ihren DDR-Wimpeln und ölverschmierten Werkbänken entkommen zu sein und die Infamien meiner stalinistischen Lehrmeister hinter mir gelassen zu haben.

Im einstöckigen Gebäude der Handwerkerbrigade, das sich gleich hinter der Schloßmauer etwas oberhalb der ehemaligen Orangerie befand, strich Meister Sepp sich eine seiner grauen Haarsträhnen aus der Stirn, gab mir die Hand und hieß mich willkommen. "Dir wird's hier schon gefallen", sagte er, "auch wenn unser Mitier vielleicht nicht ganz Dein Mellieu ist." Ich nickte und stutzte. Hatte er absichtlich i und e in den beiden Wörtern vertauscht, um mich zu testen? Ich blieb mir darüber so lange im unklaren, bis ich Sepps Stellvertreter Dietmar eines Tages von Mike Oldfields Song "Moonlight Shuttle" schwärmen hörte. Er meinte "Moonlight Shadow". Als ich ihn auf die Verwechslung aufmerksam machte, lachte er nur und winkte ab: "Du arbeitest jetzt in 'nem Irrenhaus. Glaub' nur nicht, daß das nicht abfärbt."

Als Dietmar dann ein paar Tage später eine Melodie vor sich hinpfiff und mir mit somnambuler Verzückung erklärte, hierbei würde es sich um "Santanamera" von "Carlos Guantana" handeln, verzichtete ich darauf, ihn zu korrigieren.

Wir hatten nach der verlängerten Mittagspause in den müden Sommernachmittag hineingefeiert, und neben den Gips-Dosen und Maurer-Kellen, die zur Reparatur einer schadhaften Zimmerwand gedacht waren, reckten bereits mehrere geleerte Bierflaschen ihre nackten Hälse in die Luft. Davor hatte man mich gewarnt: "Die Schloß-Handwerker saufen wie die Löcher", hieß es im Dorf; allerdings weniger anklagend als eher neidisch. Als es sich herumgesprochen hatte, daß ich jetzt genau dort arbeitete, hielt sich deshalb das wortreiche Schimpfen über solche politisch motivierten Degradierungen mit süffisanten Bemerkungen über mein weiteres Schicksal die Waage. "Im Schloß sind schon ganz andere versackt", sagte man meiner Mutter beim Bäcker. Mochte sie auf den Ausreiseantrag verweisen, den unsere ganze Familie gestellt hatte, die feste Absicht ihres Sohnes erwähnen, im Westen sein Abitur nachzumachen und zu studieren, beim Dorfbäcker hatte man dafür nur ein müdes Lächeln. "Nach einem Jahr Klapse", sagte die Bäckersfrau und kassierte ihre 78 Pfennige für ein frisches Dreipfundbrot, "nach einem Jahr Klapse sieht alles ganz anders aus. Auch wenn man nicht Patient ist."

Sie mußte es wissen, denn einen Teil ihres Tages verbrachte auch sie im Schloß. Aufgrund der ungerechten Besteuerung, nach der im Osten ein Bäckermeister bereits als Kleinkapitalist galt, den man kräftigst schröpfen mußte, verdiente sie als mithelfende Ehefrau so lächerlich wenig, daß sie schließlich froh war, zusätzlich jeden Mittag die Essensausgabe in der Klinik übernehmen zu können. Damit hatte auch mein erster Tag im Schloß begonnen. "Und jetzt heißt's Mahlzeit", sagte Meister Sepp und klatschte in die Hände, nachdem er mir mit ironischem Grinsen eine blaue Arbeitsjacke und die Essens-Coupons ausgehändigt hatte.

"Arbeitsschuhe kriegst du später. Ich würde dir aber raten, lieber ein paar ausgelatschte Turnschuhe von zu Hause mitzubringen. Die Schuhe, die's hier gibt, stammen nämlich von Patienten und sind orthopädische Sonderanfertigungen. Das Zeug verrottete oben in der Wäschekammer, bis irgend so ein Blödmann in der Verwaltung auf die Schnapsidee kam, sie doch der Handwerkerbrigade zur Nutzung zu überlassen." Dietmar lachte, kreuzte die Beine und stakste mit erhobener Arbeiterfaust durch die Werkstatt. Meister Sepp genoß offensichtlich meine naive Verblüffung und klopfte mit dem Zeigefinger gebieterisch auf einen Zettel, der, begraben unter unzähligem Krimskrams und überquellenden Aschenbechern, auf seinem Arbeitstisch lag. "Ach, da ist ja die Schweigeerklärung für Angestellte im medizinischen Bereich, die du noch unterschreiben mußt", sagte er. "Hat Zeit, hat Zeit. Bis zum Nachmittag wirst du sowieso genug Sachen gesehen haben, über die zu schweigen lohnt."

Die restlichen Arbeitskollegen kicherten, und los ging's in Richtung Speisesaal. Man überquerte ein verwildertes Rasenstück und öffnete neben dem ehemaligen Wintergarten, der jetzt als Abstellplatz für defekte Rollstühle diente, eine hohe, schmiedeeisern verzierte Tür. "Rechts der Küchentrakt", sagte Sepp, "links die Musiktherapie", ergänzte Dietmar, während wir einen endlosen Gang entlangschlurften, der sich oben zur Decke hin wölbte und dort mit abblätternden Stukkaturen versehen war. In diesem Moment schob sich ein kleines, dickes Männlein an uns vorbei, das mir schon vorher in der Werkstatt aufgefallen war. Mit großen, ziemlich schräg stehenden Augen blickte es zu mir auf, wiegte seinen überproportional wuchtigen Kopf und sagte: "Die Musiktherapie leitet Genosse Graf. Zur Zeit ist er aber gerade auf Entziehungskur." "Fred", mahnte Meister Sepp, "Du verletzt die Schweigepflicht." Fred kniff ihn in den Arm. "Meester, Meester", sagte er fröhlich, "unter uns Patienten können wir doch die Wahrheit sagen."

Fred war Mitte dreißig, Analphabet, körperlich und geistig behindert, aber durchaus fähig, gewisse Arbeiten in der Handwerkerbrigade zu übernehmen. Wir hatten mittlerweile den Speisesaal im ersten Obergeschoß erreicht, und Dietmar flüsterte mir zu: "Fred glaubt, daß wir alle Patienten sind. Zerstör' ihm bitte nicht die Illusion." Fred hatte uns gehört und fragte, was eine Illusion sei. "Etwas, was mit Sex zu tun hat", antwortete Sepp. Fred, den man sterilisiert und mit Medikamenten nahezu asexuell gemacht hatte, schüttelte sich voller Ekel: "Geh'n Se mir weg mit solchem Zeug!"

Die Bäckersfrau schüttelte den Kopf, machte ein paar unwirsche Bemerkungen über "die da oben, die junge Leute heutzutage nisch einmal mehr studieren lassen" und widmete sich wieder voller Hingabe ihrer Arbeit. Aus einem Blechbehälter, der - solange der Aufzug defekt war, und das war er seit vier Jahren - pünktlich zur Mittagszeit aus der Küche im Parterre hoch in den Speisesaal geschleppt wurde, schaufelte sie Kartoffeln auf die ihr hingehaltenen Teller. Aus einem anderen Topf fischte sie mit Daumen und Gabel ein Stück Fleisch.

"Wo bleibt die Mayonnaise?" brüllte Sepp vom Handwerkertisch herüber. "Weiß der Teufel, wo die bleibt", brüllte die Bäckersfrau quer durch den ganzen Saal zurück. "Der Mayo-Mann, der mir das Zeug immer unter dem Ladentisch besorgt, ist gerade im Urlaub." "Und solange er im Urlaub ist, besorgt er's dir nicht, was?" frage Dietmar anzüglich, und am Verwaltungstisch lachten die Frauen, während das etwas abseits sitzende Ärztepersonal nur die Schultern zuckte.

Nach dem Essen war der gelbe Abfallbehälter, der gleich neben den Kompottschüsseln stand, voller Kartoffeln. Die Bäckersfrau packte ihn, kam zu unserem Tisch und zeigte Fred den Inhalt: "Hier, du Verfressener, haste noch Hunger?" Die Handwerker schlugen Fred auf die Schulter und entfernten sich aus dem Saal, um ihre Siesta zu halten. Fred wurde zum Tellerwaschen abkommandiert.

Wieder angekommen im Handwerker-Häuschen signalisierte man mir, daß ein kleiner Umtrunk zu meiner Begrüßung im "sozialistischen Schloß-Kollektiv" doch eigentlich eine gute Idee wäre.

Meister Sepp gab mir eine wattierte Jacke mit tiefen Taschen. "Dort lassen sich die Bockbierflaschen am besten verstecken", sagte er, und die anderen nickten sachkundig.

Ich ging in den Getränkeladen, kaufte das Gewünschte, und mein erster Nachmittag im Schloß endete in allgemeiner Behaglichkeit. Sepp prostete mir zu und erzählte, daß er neben dem Titel "Meister der Handwerkerbrigade" extra noch die Funktion des "Sicherheitsinspektors für den gesamten Gebäudekomplex" innehabe. "Gebäudesicherheit, nicht Staatssicherheit", unterbrach Dietmar, der der einzige Genosse in der Handwerkerbrigade war. "Das will ich doch hoffen", sagte Sepp und erwähnte die Geschichte seiner verwitweten Schwester, die gerade die Ausreise beantragt hatte, um ihre große Jugendliebe, einen mittlerweile in München lebenden Angestellten, heiraten zu können. Seitdem wurde sie von den Behörden schikaniert. "Was wir dir damit sagen wollen", verlautbarte Sepp bedeutungsschwer und ließ sich in den verschlissenen Ledersessel fallen, der in der Werkstatt für ihn reserviert war, "was wir dir also sagen wollen - du brauchst dir hier keine Sorgen zu machen, hier ist keiner von uns gut auf die Zone zu sprechen." Sprach's und öffnete zischend noch eine Flasche Bockbier.

In diesem Moment kam Fred herein. Er hatte den Abwasch beendet und fuhr sich mit seinen noch nassen Händen ungelenk über den Arbeitskittel. "Fred, was ist der Unterschied zwischen einer normalen und einer sozialistischen Demokratie?" fragte Dietmar. Fred mußte den Spruch auswendig gelernt haben, denn er schloß die Augen und schoß mit der Antwort heraus: "Der gleiche Unterschied wie zwischen einem normalen und einem elektrischen Stuhl." Die Handwerker lachten und kniffen Fred in die großen Ohren, bis er "Aufhören!" schrie und noch darüber hinaus.

Ich sagte nichts, ich beobachtete. Tatsächlich enthielten diese ersten Stunden im Schloß bereits alles, was später gescheite West-Soziologen als DDR-Alltag beschreiben würden: Gemütlichkeit, Ineffizienz, Primitivität, gemildert durch einen überall grassierenden Privatismus, verbales Aufbegehren ohne jegliche Konsequenz, Repression, vermischt mit banalen Riten.

Ich sah mir meine zukünftigen Kollegen, die jetzt während der verlängerten Mittagspause vor sich hindösten, der Reihe nach an. Da war Meister Sepp, grauhaarig und desillusioniert, auf seinen Status als Chef bedacht, der schlaksige Dietmar, mit dem ich als "Hausmeistergehilfe" in den nächsten Monaten durchs Schloß schlurfen würde, um kleine und größere Reparaturarbeiten zu übernehmen. Schließlich noch die beiden knapp dreißigjährigen Söhne des Meisters, hoffnungslose Alkoholiker, die im Vollrausch aggressiv und gewalttätig wurden, im nüchternen Zustand aber als Heizer und Elektriker tätig waren; beide übrigens mit Abitur, äußerst intelligent und in wachen Momenten ihr erbärmlich dahintröpfelndes Leben einer zynischen Analyse unterziehend.

Erich, der Tischler, war von allen der Schwierigste. Im Krieg hatte er nach nur drei Monaten seine Tischler-Lehre aufgegeben, um sich freiwillig für die Waffen-SS zu melden. Über seine dortige Tätigkeit sprach er nie, Tatsache aber war, daß er in Rußland insgesamt vier Zehen und drei Finger verloren hatte. Was ihm an Gliedmaßen geblieben war, war unglücklicherweise so verteilt, daß er beim Gehen bedenklich wankte und beim Arbeiten oft die Nägel einige Meter von der richtigen Stelle entfernt ins Holz drosch. Am einfachsten fiel Erich das Hobeln, wo er sich mit seinen Fingerstümpfen auf das Gerät stützen und die Holzleiste hoch und runter fahren konnte. Da Holz-Hobeln in einer psychiatrischen Einrichtung aber nicht eben zu den häufigsten Beschäftigungen zählte, hatte Erich wenig zu tun und saß nüchtern - er vertrug keinen Alkohol - und mißmutig im Handwerkerhäuschen. Sein Lieblingsspruch war: "Tja, da kannste nischt machen", permanenter Jammergesang und Alibi-Formel in einem.

Die Handwerker waren - frei nach Kafka - "Hiesige", die die Regeln ihrer Arbeit kannten und wußten, wie weit sie mit Übertretung und Spott gehen konnten, ich allerdings war, ganz wie der Landvermesser K., "hinsichtlich der hiesigen Verhältnisse entsetzlich unwissend". Außerdem habe ich zwei linke Hände und zog es folglich in den ersten Tagen vor, möglichst unauffällig zu bleiben.

Ich nickte lediglich zustimmend, wenn Dietmar fluchend von der Parteiversammlung kam und "diesen SED-Haufen" zum Teufel wünschte, und lachte mit, allerdings ohne einen Kommentar von mir zu geben, wenn man Fred, der in seinem Patientenzimmer nur das DDR-Fernsehen empfangen konnte, jeden Morgen die Phrasen der Nachrichtensendung »Aktuelle Kamera" vom Vorabend wiederholen ließ.

Anfangs mißtraute ich dem Refugium dieses Handwerkerhäuschens oberhalb der alten Orangerie, wo Bier- und Zigarettenschwaden durch den Raum zogen, Meister Sepp an einem alten Rossini-Radio herumdrehte, bis "Bayern Drei" auf der Skala erschien, und Dietmar in den abgegriffenen Autozeitschriften blätterte, die ihm seine Tante vor Jahren aus dem Westen geschickt hatte.

Der Alltag zerstreute meine Zweifel. Meine Kollegen merkten bald, daß ich nicht zum Handwerker geboren war und gingen klaglos über meine Unfähigkeit hinweg, das Türschloß der Gummizelle zu reparieren oder das Elektrokabel des Rasenmähers zu wechseln. Statt dessen gaben sie mir leichte Transportarbeiten, führten mich durch alle Gänge des Schloßes und nannten mir jene abgelegenen Zimmer, wo ich in den zahlreichen Pausen lesen und schreiben könne. "Am besten gehst Du in den Wäschetrakt", riet mir Meister Sepp. "Im ersten Stock ist die Nähstube untergebracht, dort ist es im Sommer kühl und im Winter warm. Die Näherinnen sind fast alles ehemalige Patienten. Bißchen unterbelichtet, aber nett. Gib' denen einen Matzel, und sie geben dir den Schlüssel zu einem verborgenen Aufenthaltsraum, wo noch die alten Möbel aus der Zeit des Grafen herumstehen. Das mußt du dir ansehen, denn sonst ist kaum noch etwas da. Die besten Stücke aus dem Schloß haben sich die Wechselburger gleich 1946 nach der Enteignung in ihre eigenen Buden geschleppt."

Ich fragte dann, was um alles in der Welt denn ein "Matzel" sei. Sepp lächelte über meine Naivität. "Matzel ist die kleine Schwester des Bockbiers, auch ,Sozialisten-Tröster` oder einfach Goldbrand genannt." In der Folgezeit lernte ich, daß diese kleinen Schnaps-Fläschchen nur 1,85 Mark kosteten, in den Taschen der Wattejacken noch besser als die Bierflaschen zu verstecken waren und eine Art inoffizielle Schloß-Währung darstellten.

"Mit 'nem Matzel kommste hier immer weiter", erläuterte mir irgendwann Dietmar. "Außer bei der Direktion natürlich, die kann dir ziemlichen Ärger machen. Aber sonst ... Sogar Sex kriegste mit 'nem Matzel. Willste wissen, wie?"

Ohne meine Antwort abzuwarten, kolportierte Dietmar daraufhin alle Unterleibs-Stories, die sich im Schloß irgendwann einmal zugetragen hatten. Das war der Nachmittag, als er "Santanamera" sang, die Arbeitsgeräte in die Ecke seines Zimmers im Südflügel schmiß und sich an der Stelle an der Wand herrunterrutschend auf den Fußboden hockte, wo die Dielenbretter noch nicht herausgebrochen waren. Ich trank ein Bier nach dem anderen und hörte zu.

Die Schloß-Kulisse regte zu Geschichten, wahren wie erfundenen, förmlich an. Der Gesamtplan des Gebäudes war nur wenigen Mitarbeitern bekannt, und selbst sie stießen immer wieder auf Ecken, die ihnen neu waren: Türen, die man nach der Enteignung zugemauert oder mit einem zerschlissenen Teppich zugespannt hatte, Dachkammern, in denen Spinnweb-Fäden alte Stalin-Bilder umklammerten, Kellerräume, wo im Licht der Taschenlampe zusammengebrochene unterirdische Fluchtwege sichtbar wurden oder staubbedeckte Holzregale, auf denen seit einem halben Jahrhundert penibel beschriftete Konfitüre-Gläser darauf warteten, geöffnet zu werden. Und inmitten all diesen Mischmaschs aus deutscher Geschichte, Vergänglichkeit, Tod und Hitchcock-Horror - Sex, das unentwegte Kopulieren, Wichsen und Gurke-Spielen des deutschdemokratischen Personals. Hätte ich noch länger zugehört - an diesem Nachmittag oder an den unzähligen, in Episoden verplätschernden Nachmittagen, die noch folgen sollten -, dann hätte mir Dietmar sicherlich auch noch das Geheimnis verraten, welche weiblichen Schloß-Angestellten man denn nun mit Hilfe eines "Sozialisten-Trösters" herumkriegen könnte.

"Es war ihm klar", heißt es bei Kafka über den Landvermesser K., "daß einige Tage nur, nutzlos hier verbracht, ihn zu einer entscheidenden Tat für immer unfähig machen würden."

Zum Glück gab es auch Tage, an denen wirklich etwas geschah. Wenige Wochen nach meinem Eintreffen im Schloß, kurz vor Ende der Schulferien, wurden überall in der DDR "Pioniertreffen" veranstaltet; das heißt, man karrte die fleißigsten Halstuchträger unter den Schülern im Land umher, organisierte Wanderungen durch die thüringischen Wälder, Bootsfahrten auf den Mecklenburger Seen - und Exkursionen durch die Muldentallandschaft in Sachsen. Die leerstehenden Klassenzimmer der Wechselburger Schule wurden deshalb kurzerhand für die Pioniere requiriert, die Schulbänke durch Matratzen ersetzt und das Treppenhaus mit bunten Fähnchen versehen.

Bei diesen Aktivitäten durften natürlich auch die Schloß-Handwerker nicht abseits stehen. Da in ihrem (mittlerweile: unserem) Häuschen aber selten jemand reagierte, wenn das Telefon schrillte, kam eines Morgens der Bürgermeister angejapst und übergab, kurzatmig und schwitzend seine Instruktionen wiederholend, Meister Sepp einen Entscheid des "Rates des Kreises", der die Aufgaben des Schlosses im Rahmen des Pioniertreffens penibel auflistete.

Die Handwerkerbrigade erhielt die Order, auf der Dorfstraße von Laterne zu Laterne eine Kette von Pionier-Wimpeln anzubringen. "Blaue Wimpel", sagte der Bürgermeister augenzwinkernd, "daß mir ja keiner auf die Schnapsidee kommt, etwa weiße zu flaggen." Weiße Fähnchen waren in dieser Zeit zum Symbol für einen soeben gestellten Ausreiseantrag geworden; grüne Fähnchen bedeuteten den Erhalt des ersehnten "Laufzettels", während die Farbe schwarz auf einen abgelehnten Antrag hinwies. Wohnungsfenster und die Heckscheiben von Autos zählten deshalb für einige Monate zu den sensibelsten Observierungspunkten der Staatssicherheit, bis sich die Antragsteller neue Methoden ausdachten, ihrem Ausreisewunsch Nachdruck zu verleihen.

"I wo", zerstreute Meister Sepp alle amtlichen Ängste. "Wir flaggen blau, und danach machen wir blau." "Dann sind wir blau", ergänzte Dietmar sinnig.

Und so geschah es: Bis zum frühen Nachmittag hatte man vom Marktplatz über das Postamt bis hoch zum Bahnhof eine dicke Schnur gezogen, an der im Sommerwind die blauen Fähnchen, Symbol der Pionierorganisation, flatterten. Ein Teil der Handwerkerbrigade hatte den oberen Teil der Straße übernommen und begoß nun das Ende dieser staatstragenden Aktion im Bahnhofsrestaurant, dessen Gardinen vom Zigarettenrauch schon seit Jahren bräunlich-gelb waren. Dietmar aber tauchte mit ein paar anderen Kollegen in Richtung Brückenschenke ab, in jene Kneipe, die den Eingang zum Schloßpark am Ufer des Flusses Mulde flankierte. "Bei der Brückenschenkenwirtin kriegste immer 'n gutes Bier und 'n anständig gebrat'nes Schnitzel", versuchte man mich zu locken, aber ich hatte wenig Lust darauf, warf die übriggebliebenen blauen Fähnchen in einen Abfallbehälter, wünschte allen einen netten Feierabend und trollte mich nach Hause.

Die "Brückenschenkenwirtin". Äußerst seltsam, gab es in Kafkas Schloß doch eine "Brückenhofwirtin", die den bemerkenswerten Ausspruch tat: "Freilich, unwissend bin ich, und das ist sehr traurig für mich; aber es hat doch auch den Vorteil, daß der Unwissende mehr wagt, und deshalb will ich die Unwissenheit und ihre gewiß schlimmen Folgen gerne noch ein Weilchen tragen, solange die Kräfte reichen."

War es diese Unwissenheit oder vielleicht eher der Grad höchster Abgeklärtheit, der in den nächsten Tagen die Handwerker so gutmütig darüber spotten ließ, wie der Staat das Pioniertreffen organisierte? Um die Kinder vierundzwanzig Stunden im Auge behalten zu können und nächtliche Ausgeh-Abenteuer zu verhindern, hatte die Volkspolizei vor dem Schuleingang ein Zelt aufgeschlagen, in dem sie bis zum Morgengrauen kampierte. Dann wurde es abgebaut und verschwand tagsüber verschämt auf der Ladefläche eines parkenden LKW - einer der Handwerker, nach einer Zechtour in der Gartenschenke, einer weiteren Wechselburger Destille, nach Hause wankend, hatte alles mitbekommen und erzählte es natürlich sogleich brühwarm weiter. Dann wurde die Pioniertruppe durch das bewimpelte Dorf geführt, vor und hinter ihnen ein Polizist, der per Sprechfunk stets mit der Zentrale Kontakt zu halten hatte. Von dort kam schließlich auch die Weisung, bei der Wanderung durch den Schloßpark doch auf jeden Fall die katholische Basilika zu meiden; der katholische Pfarrer - ein Provokateur, dessen Beziehung zu seiner Hausangestellten überdies alles andere als eindeutig war - hatte nämlich die beiden Türflügel der Kirche geöffnet, um etwaigen wißbegierigen Pionieren die in Sachsen einmalige Silbermannorgel, den kunstvollen Altar und die jahrhundertealten Wandgemälde zu zeigen. Die Marschrichtung wurde deshalb geändert, obwohl Karl, der listige Parkgärtner, kurzerhand ein rostiges STOP-Schild herbeigeschleppt hatte, um die Ausweichwege zu versperren und die uniformierte Gruppe zu zwingen, doch noch rechts vom Tischtennis-Platz die Treppe hochzusteigen, die vom Schloßvorplatz direkt in Richtung Basilika führte. Es nutzte alles nichts. "Tja, da kannste nischt machen", kommentierte Fred, der dem Pfarrer von Zeit zu Zeit mit kleineren Diensten zur Hand ging, diese merkwürdige Anekdote, in der sich die Elemente Anpassung und Renitenz so merkwürdig gegenüberstanden, daß sie schließlich nur durch die Bindemittel Bockbier, Goldbrand und F-6-Zigaretten einer Synthese zugeführt werden konnten.

Bei alldem blieben die eigentlichen Insassen der Klinik eher im Hintergrund. Die schlimmsten Fälle wurden auf der Station IV behandelt: Kleinkinder mit verkrüppelten Gliedmaßen, Tobsüchtige, Zehnjährige, die nicht sprechen konnten, permanent unter sich machten und ihr Gesicht voller Geifer hatten. Diese Station war nur mit einem Spezialschlüssel zu betreten; lief man die Gänge entlang, schlug einem aus den Zimmern ein übler Gestank von Urin, Kot, Desinfektionsmitteln und Kamillentee entgegen. Die Blümchentapete an den Wänden war vergilbt, und die Kinderzeichnungen und Farbbild-Reproduktionen, die von irgendwelchen Kalenderblättern stammten, verstärkten noch den Eindruck absoluter Hoffnungslosigkeit, der das Pflegepersonal anscheinend nur dadurch zu entkommen glaubte, daß es eine demonstrative Burschikosität, ja Ruppigkeit zur Schau trug.

Wenn ich jeden Morgen mit Dietmar zum obligatorischen Schloßrundgang aufbrach, um zu notieren, welche Arbeiten diesen Tag anfallen würden, betraten wir die Station IV immer zuerst und waren froh, wenn es dort keine Spieltische zu reparieren, keinen vollgepinkelten Fußbodenbelag auszuwechseln und keine verstopfte Toilette zu reparieren gab. Es herrschte ein wortloses Einvernehmen, sich nach dieser Visite eine der starken Karo-Zigaretten anzuzünden, um den penetranten Gestank aus der Nase zu bekommen, ansonsten aber das Gesehene mit keinem Satz zu erwähnen.

Mit dem überall präsenten Staat und der Partei konnte man sich unter Umständen noch arrangieren; mit den Schicksalsschlägen des Lebens, die sich in Krankheit und irreparabler Behinderung äußerten, hingegen nicht. Der Schrecken war zu offensichtlich, um weggewitzelt werden zu können. Was woanders durchaus üblich war - grinsende Bemerkungen über Behinderte und deren Aussehen -, erlebte ich während meiner ganzen Tätigkeit im Schloß kein einziges Mal.

Waren die Handwerker also moralisch? Aber weshalb zögerten sie dann nie, den kleinen dicken Fred auf ihre kumpelhafte Weise zu quälen? Sie gaben ihm bereits angerauchte filterlose Zigaretten, befahlen ihm, einen Zug nach dem anderen zu nehmen und amüsierten sich königlich, wenn seine Zungenspitze die brennende Asche berührte und Fred wie ein waidwunder Elefant mit dem Fuß aufstampfte, schmerzhafte Grimassen zog und den heißen Glimmstengelrest von einer schwieligen Hand in die andere balancierte, wobei er es niemals wagte, sich Meister Sepps Aufforderung zu widersetzen, doch "noch ä bissl weiter zu qualmen". Ein anderes Mal rief man ihn mit todernstem Gesicht in das Handwerker-Häuschen und teilte ihm mit, daß sich der Genosse Chefarzt über ihn beschwert habe, da Fred abends nicht mehr aufmerksam genug die "Aktuelle Kamera" verfolge - aus diesem Grunde würde er aus der Handwerkerbrigade ausgeschlossen und noch heute Nachmittag der Stasi übergeben.

Wenn Fred dann zu weinen anfing und sich in wortlosem Entsetzen immer wieder über den kurzgeschorenen Schädel fuhr, beruhigten sie ihn, ließen ihn Platz nehmen und spendierten ihm sogar mehrere Flaschen Bier. Wenige Sekunden später schlug sich Fred vor Lachen auf die Schenkel, und die Handwerker fielen in das Gelächter ein.

Wahrscheinlich waren sie weder besonders schlecht noch übermäßig edel, Trägheit und mangelnde Phantasie hinderten sie im Positiven wie im Negativen daran, "zu weit" zu gehen. Zwischen kleinen Reparaturarbeiten und Bockbierflaschen hatten sie es sich im Mediokren gemütlich gemacht, wobei ihre Flüche über die "Scheiß Zone" ihnen selbst vorgaukelten, daß man sich doch noch nicht mit allem abgefunden habe, gewiß nicht.

Heute, nach dem Ende der DDR, ist die Handwerkerbrigade um die Hälfte reduziert worden, das Schloß beherbergt nur noch zehn Prozent seiner ursprünglichen Patientenzahl und ist jetzt ein modernes Krankenhaus, das mit der Anstalt vor 1989 nur noch das Gebäude gemein hat.

Freilich fehlt mir die Energie, dies genauer zu überprüfen. Zweimal war das Schloß noch in meinem Westleben aufgetaucht. Im Sommer 1994, als mir meine Stasi-Akte nach Paris zugeschickt wurde und ich, an einem Seine-Quai in der Höhe des Boulevard Saint Michel sitzend, nicht ohne Rührung las, daß keiner meiner damaligen Arbeitskollegen - kein einziger! - über mich beim MfS berichtet hatte, obwohl das Ministerium in einem internen Papier bereits mit dem Gedanken gespielt hatte, Dietmar auf mich anzusetzen. Kam es nicht dazu, oder verweigerte er sich? Müßige Frage im Nachhinein. Eines zumindest ist sicher: Statt Denunziation gab es nur Bockbier. Selbst der Chefarzt berichtete in seinen monatlichen Stasi-Unterredungen nur Nichtssagendes, wobei er allerdings "das hilfsbereite Auftreten des Hof- und Parkarbeiters M." nicht zu erwähnen vergaß.

Bereits im Januar 1990, in Chemnitz waren noch die Montagsdemonstrationen gegen die SED in vollem Gange, hatte ich vom Westen aus dem Schloß einen letzten Besuch abgestattet und die Handwerker bei ihrer alten Lieblingsbeschäftigung, dem Leeren von Flaschen, vorgefunden. Doch da war Meister Sepp bereits in Rente gegangen, und das fröhliche Nörgeln am DDR-Alltag hatte einer nervösen Mischung aus Enthusiasmus über den Mauerfall und uneingestandener Sorge über das nun Kommende Platz gemacht. Dietmar nahm mich kurzerhand mit nach Hause - seine Hausmeisterwohnung lag im gleichen Gebäudetrakt, in dem sich auch der erste Torbogen aus zerbröckelndem Porphyr befand, der, wenn man vom Marktplatz kam, den eigentlichen Eingang ins Schloß-Areal markierte.

Seine Frau briet schnell ein paar Spiegeleier, während er es sich auf der Wohnzimmer-Couch gemütlich machte und mich eingehend über meine "West-Erfahrungen" befragte. Einige von Dietmars Freunden waren vor 1989 von Besuchsreisen in die Bundesrepublik nicht in den Osten zurückgekehrt; nun kamen sie in schicken West-Autos nach Wechselburg, brachten Kaffee, Parfüm, West-Bier und jede Menge Fremdheit im Gepäck mit. Dietmar registrierte es melancholisch, ohne dafür die entsprechenden Worte finden zu können. Etwas hatte aufgehört zu bestehen, und vielleicht war er, dem der Absprung nie geglückt war, unsicher, ob er mit seinen knapp vierzig Jahren bereits zu den Relikten einer verlorenen Zeit zählte. Ich bedankte mich für die Spiegeleier und stand auf. Das alles hatte mit meiner Schloßgeschichte nichts mehr zu tun.

Der zweite Teil der Erzählung folgt im nächsten Heft.