Der Zauber des Knotens

Adrian Sofri ermutigt die Linke, ihr Mißtrauen gegenüber der Tradition zu überdenken und in Reformen kein kleineres Übel zu sehen

Thomas Schmid
 

Manchmal leuchtet ein Licht auf, wenn man Fragen stellt, die eigentlich sinnlos sind und längst zu den Akten gelegt scheinen. Etwa die nach dem Grund für Hammer und Sichel. Beide zierten, zum Symbol entstofflicht, die Fahnen der Arbeiterbewegung, sie verkörperten Schnelligkeit, Härte und Entschlossenheit. Was wäre gewesen, wenn auf den Fahnen der linken Bewegungen und Parteien statt dessen ein Knoten zu sehen gewesen wäre? So fragt Adriano Sofri auf den knapp 300 Seiten seiner flickenteppichartigen Studie Der Knoten und der Nagel. Ein Buch zur linken Hand.

Die Frage klingt mutwillig und spielerisch, ist das auch, ist aber dennoch ernst gemeint. Ins Grundsätzliche übersetzt lautet sie: Warum hat die Linke, die doch den Wandel zur Freiheit hin wollte, so gerne und nachhaltig auf die vermeintlich starken Bataillone, auf Gewalt und den Zwang zur Umwälzung gesetzt? Warum hat sie sich in oft fundamentalen Gegensatz zum Herkömmlichen gesetzt? Warum hat sie die schwere Industrie gefördert und das leichte Handwerk eher behindert? Warum gab sie sich so männlich? Warum idealisierte sie den Angriff und verleumdete den Umweg? Warum verehrte sie die angeblich befreiende revolutionäre Tat und wollte den größeren Glanz nicht sehen, der von der Reform - der sachten Art der Umwälzung - ausgehen kann?

Ich erlebte Adriano Sofri zum ersten Mal in den frühen siebziger Jahren auf einem "Arbeiterkongreß" von Lotta continua in Florenz. Brütende Hitze und ein Kongreßzentrum, das bis zum letzten Platz und weit darüber hinaus gefüllt war. Adriano Sofri, damals unbestrittener Leader von Lotta continua, sprach - etwa zweieinhalb Stunden lang: laut, schnell, aggressiv, wortmächtig. Der Redner, oft von Beifall unterbrochen, war sich seiner selbst und seiner Wirkung sehr sicher. Sofris Rhetorik war freilich nicht die castristische der Materialschlacht, der Drohung und des Letzten Gerichts, sie war auf italienische Weise operettenhafter, zeugte aber auch von einer ganz spezifischen Verführungskraft des Redners, der das schöne und elegante Wort bevorzugte. Adriano Sofri, geschmeidig und arrogant, war ohne Zweifel ein linksradikaler Liebling der Götter. Wie kaum ein anderer verkörperte er den Größenwahn der Zeit von 1968 und die Gewißheit ihrer ephebenhaft-selbstverliebten Akteure, daß auf ewig das Zeitalter der ewigen Jugend angebrochen sei.

Bekanntlich kam es anders, der Glanz der Revolte verblühte. Das Ende aber, das Lotta continua fand, war ein besonderes: Die Organisation zerfiel nicht (wie viele andere in Italien und anderswo), sondern sie löste sich bewußt und willentlich auf. Das hatte mit einem Angriff der Frauenbewegung zu tun, den die Genossen auf sich wirken ließen, und mit der Einsicht, daß die Zeit der geschlossenen Organisationen der Revolte, die sich - wie leidenschaftlich und antiautoritär auch immer - der Facharbeit der Umwälzung widmen, vorbei ist. Adriano Sofri, der sich leicht in die folgenden politischen Projekte hätte retten können, machte einen Schnitt und sagte der Politik für immer ade. Man kann darin den Grad der Erschütterung (oder auch der Befreiung) erahnen, die von dem abrupten Ende der Organisation ausging. Im Nachwort des Buches schreibt der Historiker Carlo Ginzburg über seinen Freund Sofri, der nun in Pisa im Gefängnis sitzt: "Sein Leben scheint mir heute in zwei Teile geteilt. Der zweite Teil war ein langes Nachdenken über den ersten Teil. Die Niederlage, die den einen Teil vom anderen wie eine Narbe trennt, ist nicht die Ungerechtigkeit, die ihn hinter Gitter gebracht hat: Es ist das Ende eines (von vielen geteilten) Traums von der Politik als Gipfel und als Bewahrheitung des Lebens."

Das lange Nachdenken über eine Niederlage: es hätte dabei ein grämliches Buch herauskommen können, das aus dem sicheren Hort späterer Erkenntnis die Vergangenheit aburteilt und in dem das giftige Feuer der Ungeselligkeit brennt. Doch keine Spur solchen Furors findet sich auf Sofris Seiten. Der Autor sucht sich einer politischen Geschichte zu vergewissern - auch in der Absicht, alte Fehler mögen in Zukunft nicht mehr wiederholt werden. Und er verteidigt durchaus auch den Dezisionismus, der radikalen politischen Bewegungen eigen ist. Sie entstehen, sagt Sofri, ja immer im Bruch mit dem Herkömmlichen, und sie sind unduldsam durch die Entdeckung, "daß es so viel Leid auf der Welt gibt und daß dieses Leid mit Ungerechtigkeit, Absurdität und Dummheit zu tun hat, kurz mit den Machtverhältnissen". Links, eigentlich die Seite der Empfindsamkeit und des Sinnes für Kontinuität und Gewachsenes, ist von der "Leidenschaft für Veränderung" getragen. Da bewegt man sich immer auf schmalem Grat. Denn klein ist der Schritt vom Geist des Angriffs zu dem der Vernichtung, von dem der Barmherzigkeit zu dem der fürsorglichen Erziehungsdiktatur, und die Linke hat sich auf dem Grat nicht halten können. Dies ist das Rätsel, dem Sofris Buch nachstreift: Warum hat die revolutionäre Linke so oft zum Ungeist der gewaltsamen Umwälzung gegriffen, und warum hat sie sich so selten mit dem verbündet, was schon da ist? Warum verfehlte sie Welt und Gesellschaft, indem sie sie neu zu erfinden trachtete?

Dieser Frage geht Sofri, mit einer Doppelmetapher gerüstet, zu Leibe. Knoten und Nagel erscheinen hier gewissermaßen als Urprinzipien, und Sofri spürt ihnen überall nach - in der Mythologie, der Literatur, der Bergsteigerei, der politischen Philosophie, der Geschichte, dem Alltag, der Hausarbeit. Die Gegenüberstellung beider Prinzipien hat durchaus etwas Dualistisches, und darin klingt der Manichäismus (nicht nur) der Linken nach, so leicht entkommt man den Traditionen eines Denkens nicht, das so lange schon Gut von Böse messerscharf trennen möchte. Der Knoten steht hier (eher) für das Gute, der Nagel (eher) für das Schlechte. "Der Knoten gibt nach, der Nagel bleibt hart. Der Nagel zerstört auf irreparable Weise, der Knoten löst sich und stellt die Dinge wieder her, wie sie waren. Er ist die Reversibilität, die Möglichkeit zur Umkehr - ohne Ausschluß, ohne Verluste." Der Nagel hinterläßt Spuren; der Knoten - der halten wie fesseln kann! - hinterläßt nichts, wenn er gelöst ist. Der Nagel steht für Geschichte, Tat, Männlichkeit, Eingriff, Jagd und die Schläue des Kriegers - der Knoten für Herkunft, Tradition, Zyklus, Dauer, Weiblichkeit, das Fischen und die Listen der Passivität. Der Nagel - immer ein einzelner und für sich - durchdringt, der Knoten - im Netz Teil einer Vielzahl - verbindet, seine Kraft liegt in der Schmiegsamkeit. Der Nagel steht für das stolze Selbstbewußtsein von Gesellschaft, der Knoten für die erdhockende Stärke von Gemeinschaft. Christus, der Seelenfischer, läßt an Knoten und Netz denken - undenkbar, den Retter der Seelen einen Seelenjäger zu nennen, der dann ja mit Pfeil und Speer, Verwandten des Nagels, vorgehen müßte.

Das erinnert ein wenig an die abgehangene, selbstgefällige und neugierfreie Kritik am männlich und macherisch dominierten Fortschrittsmodell, wie sie von ökologischer wie feministischer Seite formuliert wurde - erinnert also an eine Kritik, die auch deswegen so an Ansehen verloren hat, weil sie hartnäckig so tat, als spreche sie von einem sicheren archimedischen Punkt des Außen her, als sei sie selbst nicht involviert. Sofri meidet das Dilemma dieser hartleibigen Kritiken, indem er erstens auf den sicheren Punkt verzichtet und zweitens die Historie nicht zum Urteilen, sondern zum Verflüssigen von Urteilen anführt. Dieser Autor sucht zu verstehen; anders als der Feind zu sein, verschafft ihm keine Befriedigung. Und schon gar unterscheidet ihn die Anmut seines Denkens wie seines Stils von den kritischen Trampeltieren. Wenn Sofri um Aufmerksamkeit für das "Schwache", für die mögliche Harmonie repetitiver Arbeiten wirbt, klingt das nie strickstrumpfhaft: "Gestricktes, Geknüpftes und Gewebtes sind weder voll noch leer. Sie sind mehr oder weniger locker, mehr oder weniger dicht. Sie verdecken und decken auf, halten ab und lassen durch, verhüllen und enthüllen. Eine junge Frau, die weder ausgezogen ist noch angezogen. Das Netz öffnet sich dem Geschmeidigen und sperrt sich dem Starren. Es hält fern und läßt heran. Es hält den Fisch und läßt das Wasser durch. Es dient als Vorhang vor dem Fester und dämpft die Fülle des Lichts, läßt es aber durchscheinen. Es ist Halbschatten und Mittelbarkeit, Sieb, Raster und Transparenz."

Der verzweifelt die Harpune schwingende und am Ende doch von Seil und Meer verschlungene Kapitän Ahab in Melvilles Moby Dick; die Bergsteiger, die - wie Reinhold Messner - auf Haken und Pickel verzichten, für die der Weg das Ziel ist und der Umweg der rechte Weg; die magischen Verschnürungen, die mehrere Konzilien der katholischen Kirche verdammten - vielleicht nicht eingedenk der Tatsache, daß "religio" ja auch Bindung, Verknüpfung meint; der russische Revolutionär und spätere Weltbürger Alexander Herzen, der sich vom Blanquismus und Bakunins Politik des zerstörerischen Hasses abwandte und in reformerischer Absicht eine "Vorliebe für die geduldige Arbeit des Teppichknüpfens" entwickelte; die Knotenschnur, die dem Geschichtenerzähler der Maori als Inhaltsverzeichnis dient, und das quipu, ein Bündel bunter Baumwollschnüre, mit dem die Inkas Botschaften übermittelten, Buchhaltung betrieben, Volkszählungen durchführten: an zahllosen, oft überraschenden Beispielen führt Sofri vor, wie häufig das Kontrastmuster von Knoten und Nagel wirksam war und ist. Das Buch macht dabei manchmal einen dezentrierten Eindruck, und man argwöhnt zuweilen, das könnte modische (oder: bis vor kurzem noch modische) Absicht eines postmodernen Spielers sein.

Doch das täuscht. Sofri, der sich selbst der Politik und ihrer Systematik entwöhnt hat, wirbt mit seinem Buch für die Kunst der Abschweifung, der Umwege. Die aber ist keineswegs absichtslos. Und nicht alles Alte gibt er auf. Als Vertreter jenes aufmerksamen, historisch gebildeten Pazifismus, der in Italien verbreitet ist, sagt er schon: "Gewaltfreiheit verzichtet nicht auf den Einsatz von Stärke. Es gibt Momente oder Umstände, bei denen man zum Nagel greifen muß." Bosnien war so ein Umstand. Und Sofri fügt hinzu: "So strahlt das, was im früheren Jugoslawien geschehen ist, ruinös auf die willfährige Scheinheiligkeit unserer historischen Rekonstruktion des Völkermords zurück." Mit anderen Worten: der angeblich historisch so belehrte Antifaschismus ist nichtswürdig, wenn er ganz einfach unfähig ist, das "absolut Böse" wahrzunehmen, zu erkennen, zu identifizieren, das auf dem Balkan am Werk war und vielleicht noch ist.

Woher kommt solche linke Trägheit des Herzens (die, mit Macht ausgestattet, oft mörderische Züge angenommen hat)? Im Grunde - so legt Sofri nahe, ohne es auszusprechen -, weil die Linke immer aus dem Lot gewesen ist. Die Welt (und sich selbst) erschaffen, das sah sie gerne als einen Akt des Abräumens, Zerstörens, Vernichtens. Über die eigenen Ursprünge nicht aufgeklärt, fürchtete sie die Normalität, die Herkunft. Deswegen mochte sie von der "menschlichen Natur" nicht reden, das wäre ihr reaktionär, biologistisch vorgekommen, würde die Menschen - die doch zum Exodus geboren sind - an ihre Herkunft binden. Sie hat (nicht aus Gewißheit heraus, sondern im Gegenteil aus übergroßer Angst vor der Macht der Biologie) die Geschichte der Evolution als Emanzipation von der Biologie gesehen. Sie hat sich mit der Schwerindustrie verbündet - gegen das Zeitlose, gegen das geduldige Weben. Sie hat das aus einem ehrenwerten Motiv - dem der Befreiung von Fesseln - getan, sie hat sich damit aber nachhaltig von dem abgewandt, was über das Menschenwerk hinausgeht.

Sofri spricht - in heller Diktion, anders als der raunende Botho Strauß - vom "Widerstand der Dinge, sich von menschlichen Absichten dirigieren zu lassen". Was schon in den verwegenen Zeilen des Kommunistischen Manifests gefeiert wurde, daß nämlich die neue Zeit rücksichtslos mit allem Zurückgebliebenen aufräume, das hat die Linke nicht mehr zurücknehmen wollen. In dem fast prometheischen Drang, eine zweite, eine bessere Natur im Kampf zu schmieden, hat sie die tieferen Ströme der Geschichte übersehen - manchmal übrigens aus dem Übermut der Jugend heraus: "Wir hatten den Skandal von Krankheit, Alter und Tod noch nicht kennengelernt." So kam die Revolte (deren Akteure doch so gern die zutiefst biologistische Metapher vom Heranreifen der neuen Gesellschaft im Schoße der alten verwendeten) als Abspaltung, als Absetzbewegung von der Tradition in die Welt: halbiert. Den radikalen Wandel umgibt der eschatologische, zumindest religiöse Zauber des Bruchs. Es kann und soll aber auch die Leidenschaft für das geben, was bleibt. Sofri zitiert da Lévi-Strauss: "Die Stabilität ist nicht weniger geheimnisvoll als der Wandel." Wir werden nicht schwächer und vielleicht sogar stärker, wenn wir einräumen, daß wir - mit Alexander Herzen zu reden - Teil des Teppichs sind.

Sofri weist auf ein offensichtliches Paradoxon hin: die Nazis, die die Juden als wurzellose und vernünftelnde Kosmopoliten sowie Feinde des Herkömmlichen diffamierten, beschrieben sie zugleich als das schiere Gegenteil - als feminine, animalische Wesen, die ihre Stärke "durch das Ausweichen vor der Kraft", durch "die Passivität des Spinnennetzes" gewinnen. Die Ausgrenzung des Kreatürlichen hat keine gute Tradition. In der Linken hat sie - über die Mordbarbarei des Kommunismus hinaus - vor allem dazu beigetragen, die Reform herabzusetzen. Diese erschien stets als Ware zweiter Wahl: Sie war mit dem Makel des Kompromisses geschlagen, der ja stets die Brücke (Sofri: Brücken sind "Engel mit ausgebreiteten Flügeln") zum Soseienden schlägt. Voll des mystischen Denkens, fürchtete die Linke, in der Berührung mit dem Herkömmlichen werde sie verschlungen. Im Grunde dem Herkömmlichen wehrlos augeliefert, schützte sie sich vor dessen mauersprengender Kraft mit dem Mauerbau. Sofri dagegen setzt - das nachgiebige Netz gegen den durchschlagenden Nagel ausspielend - auf die listige, dauerhafte Kraft der Reform. Letztlich wird sie die besseren Karten haben, denn sie ist im Bündnis mit dem, was ist. So gesehen, wirbt Sofris bilder- und beispielreiches Buch für die kleinen Abenteuer des Gradualismus: Wer Stifter nicht manchmal ehrt, lebt verkehrt.

Das ist natürlich - der Abkehr des Autors zum Trotz - außerordentlich politisch. Bei Sofri blitzt die Lust an der Intervention immer wieder durch, versteckt zumeist in Randbemerkungen. Eine einzige sei zitiert, um die Lust am politischen Florett zu wecken. In der allerletzten Anmerkung des Buches wirft Sofri die (in Italien aktuelle) Frage auf, ob das Mehrheitswahlrecht wirklich jene Klarheit schaffen könne, von der deren Verfechter schwärmen. Mag sein, deutet Sofri an. Doch müsse es zu denken geben, daß das Mehrheitswahlrecht (gewissermaßen ein zivilisiertes Zweiparteiensystem) "vielleicht unabsichtlich dualistische Vorlieben und Entweder-Oder-Lösungen" wieder anfacht. So gesehen, könne das Mehrheitswahlrecht, das dem verworrenen Hin und Her und der Langsamkeit komplizierterer Wahlverfahren den Garaus machen soll, doch ein Schritt nach hinten sein: "Vielleicht mag man dabei eine Verarmung feststellen, wie beim Wechsel von Schach zu Dame." Sisyphos, sagte Camus, ist glücklich. Jetzt wissen wir auch noch, daß er Schach spielt. Und ein fröhlicher Urenkel Eduard Bernsteins ist.

Adriano Sofri, Der Knoten und der Nagel. Ein Buch zur linken Hand. Mit einem biographischen Essay von Carlo Ginzburg. Aus dem Italienischen von Walter Kögler, Frankfurt/M. (Eichborn Verlag, Die Andere Bibliothek) 1998 (323 S., 49,80 DM)