Von den Grenzen der Politik

Zu Joschka Fischers Buch über einen neuen Gesellschaftsvertrag

Michael Werz
 

Die Produktion von Büchern unter den intellektuell oftmals ruinösen Bedingungen des parlamentarischen Betriebes kann zweierlei Funktionen erfüllen: Einen hohen Gebrauchswert für den Autor, weil die politischen Argumente geschärft und durchdacht werden, und - auf anderer Ebene - die Reflexion der Bedingungen des politischen Geschäftes selbst. Dazu kommt der strategische Vorteil der Publikation an prominenter Stelle, flankiert von Großanzeigen in den meinungsbildenden Blättern der Republik. Freilich werden solche Möglichkeiten von der politischen Prominenz nur selten genutzt, in aller Regel werden rhetorische Platzhalter oder Kochbücher zusammengestoppelt. Joschka Fischers neuer Text, im Duktus einer aufklärerischen Rede, ist allerdings eine offen gehaltene Anregung, aktuelle politische und gesellschaftstheoretische Fragen präziser und richtiger zu stellen.

Die Annäherung an die Gegenwart erfolgt im Gang durch die Geschichte, damit gesellschaftliche Resultate der kulturellen und ökonomischen Veränderung, allenthalben unter dem Titel der Globalisierung verhandelt, faßbar werden. Fischer erkennt einen "radikalen Wirtschaftsindividualismus" auf subjektiver Ebene und verknüpft diese Tendenz mit der bipolaren "ideologisch-kulturellen" Konstellation der Nachkriegszeit. Mit dem Ende des Kalten Krieges sei eine allseitige ökonomische Entwicklung in Gang gekommen, worin der Bedeutungsverlust des Nationalstaates nur ein Merkmal ausmache. Fischer läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß die demokratische Linke - zumal die in der eigenen Partei - mit Hilflosigkeit und "kollektiver politischer Verdrängung" auf die neue Situation reagierte, die im bedenkenlosen Verharren auf pazifistischen Ideologemen in der Bosnienauseinandersetzung ihren vorläufigen Höhepunkt fand.

Damit ist keinesfalls die opportunistische Abkehr von linken Positionen intendiert, sondern ein besseres analytisches Verständnis dessen, was ist. Fischer greift dabei sinnvollerweise auf die Kritik der politischen Ökonomie zurück, um Globalisierung als Form der Kapitalakkumulation und neue "Vergesellschaftungsstufe" zu begreifen. Um die Frage nach den gesellschaftlichen Kohäsionskräften zu stellen, die "neue soziale Frage", muß die gesellschaftsgeschichtliche Entwicklung in die politisch-theoretische Analyse der "Globalisierung" eingehen. Fischer unternimmt diesen Versuch auf über dreihundert Buchseiten, mit vielen bedenkenswerten Argumenten und einigen problematischen Vereinfachungen.

Sein Blick auf die europäische Geschichte ist von der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wie der Kritik der Vereinigten Staaten geprägt. Aus diesem Spannungsverhältnis entwickelt er seine Gedanken zur Zukunft einer solidarischen, demokratischen und nicht-nationalistischen europäischen Gemeinschaft. Daß er Nationalsozialismus und Stalinismus fast immer in einem Atemzug nennt und zuweilen auf gleicher Ebene verhandelt ("Bestien des Totalitarismus"), dabei den Sowjetkommunismus als bloße Fortsetzung des Zarismus unter ökonomisch neuen Bedingungen mißversteht, hat mit fehlender historischer Differenzierung und Abstraktion zu tun.

Eine weitere Selbstbeschränkung seiner politischen Kritik liegt darin begründet, daß er Europa und die USA zuweilen in schematischer Vereinfachung gegenüberstellt, dabei Amerika als "andere Kultur USA" stilisiert und jene mit der "Globalisierung" in eins setzt. Die USA müssen als counterpart eines "uralten europäischen Staatsverständnisses" herhalten. Solch kulturalistische Verkürzungen - von Fischer zuweilen selbstkritisch eingestanden, aber nicht aufgehoben - ermöglichen die simplifizierende Mythologie eines clash of civilizations von links. Die Kontraposition von europäischem Staat als Identifikationspunkt einer "lebendigen Kultur, Tradition und europäischer Geschichte" und der amerikanischen Einwanderungsgesellschaft läuft Fischers eigenen theoretischen Ansatzpunkten zuwider. Denn in solch kulturalistischen Begriffen ist die Dialektik von Staatsbildung und Produktivkraftentfaltung, auf die er im ersten, historischen Teil des Buches abzielt, nicht zu begreifen. Die Begrenzungen der Kritik werden sichtbar, wenn das gesellschaftsgeschichtliche Moment abgeschnitten wird: Die USA sind dann "Wirklichkeit gewordene Antithese zur europäischen Staatsidentität", "Globalisierung in ihrer heutigen Form heißt also immer auch Amerikanisierung".

Gelegentlich unternimmt Fischer Parforceritte durch die Jahrhunderte. Auf nur zwei Textseiten wird der Leser vom Ende des Dreißigjährigen Krieges über dreihundertfünfzig Jahre hinweg in die Gegenwart und wieder zurückkatapultiert. Wegen der ausbleibenden historischen Konkretionen werden die Schlußfolgerungen zuweilen allgemein und banal, wenn es heißt, alle Kriege seien Motoren gesellschaftlichen Wandels gewesen. Falsch werden sie, wenn im Anschluß Erster und Zweiter Weltkrieg, später auch der Kalte Krieg, aus solcher Perspektive nahezu gleichgesetzt sind.

Trotz dieser Einwände führt der geschichtliche Rückblick den Autor zu wesentlichen politischen Positionierungen. Das Jahr 1989 kann angemessen als tiefreichender gesellschaftsgeschichtlicher Bruch in Europa begriffen werden, anders als in weiten Teilen der Bonner politischen Szenerie.

Fischer unternimmt seine Zeitanalyse mit Hilfe der Marxschen Kategorien. Das erweist sich als produktiver Zugang, um einen Mechanismus zu beschreiben, der als "Informationskapitalismus" bezeichnet wird und als geschichtlich entstandenes Produktionsverhältnis zu einer immer schnelleren Kapitalzirkulation auf globaler Ebene drängt. Jedoch insinuiert der Autor, allein die Schnelligkeit des produktiven Umschlags von Kapital sei wertsetzendes Moment, was ja Marx gegen die bürgerlichen Ökonomen als Irrtum kritisiert hatte, weil die Zirkulationszeit immer nur einen Abzug von den Kosten bewirken könne. So bleibt die Frage unbeantwortet, wie und vor allem wo die neue Akkumulation vonstatten geht, wenn jeden Tag 800 Milliarden US-Dollar an den Börsen bewegt werden, welche das Produktionsvolumen der Volkswirtschaften um ein Mehrfaches übertreffen. Fischer beobachtet die Formveränderungen dieses globalen Prozesses, innerhalb dessen der Kapitalismus "seine Existenz mehr und mehr aus dem Raum in die Zeit hinein[verlagert]" und reagiert darauf mit der Forderung nach einer weitergehenden europäischen Einigung, damit ein neuer, angemessener politischer Handlungsrahmen entstehe. Jedoch führt ihn der gewerkschaftliche Kampf- und Verdummungsbegriff vom "Kasinokapitalismus" auf eine falsche Fährte und verstellt den Blick dafür, daß die Spekulation notwendiges Moment der fortschreitenden Produktivkraftentfaltung gewesen ist und nicht einfache "Eskalation des ökonomischen Egoismus" bedeutet. Diese Verschiebung von politisch-ökonomischer zu moralischer Kritik kapitalistischer Entwicklung kommt unter anderem durch einen unvermittelten Rückgriff auf Thomas Hobbes' Leviathan zustande - denn die aufklärungsphilosophischen Kategorien von Interesse und Egoismus hatten natürlich 1651 eine vollkommen andere Bedeutung als heute.

Fischer ist sich bewußt, daß soziale Transformationsprozesse schneller und anders ablaufen als noch vor wenigen Jahrzehnten, und schließt darum politische, das heißt staatlich regulierende Einflußnahme nicht aus, weil allein durch die "Freiheit des Finanzmarktes niemals eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung entstehen" kann. Daß der Sozialstaat für sich nie Quelle des Wohlstandes und der Emanzipation gewesen ist, weiß der Autor, und begründet ihn als historisches und politisches Resultat zweier Weltkriege und der nationalsozialistischen Verbrechen durch die Deutschen. Diese Begründung ist keinem "anthropologischen Pessimismus" des Autors geschuldet, den ihm Thomas Schmid kürzlich in der Berliner Zeitung (2./3.5.98) vorwarf, sondern der politischen Einsicht, daß mit den Mitteln parlamentarischer Praxis die Gesellschaft nicht wirklich zu verändern ist.

Joschka Fischer insistiert auf der Ambivalenz des Globalisierungsprozesses. Die Transformationserfahrungen können bislang nur vorläufig beurteilt werden - also ist Vorsicht angebracht. Es handelt sich hier um eine "neue Stufe der kapitalistischen Produktionsweise", die durch beständige zeitliche Verdichtung der Krisenzyklen und die Ausbeutungsorganisation auf internationaler Ebene charakterisiert ist. Sie konstituiert den objektiven Rahmen für ein neues gesellschaftliches Projekt, das, so Fischer, sich des sozialen Zusammenhaltes gegen die wachsende Entsolidarisierung versichern muß und der Individualisierung von Lebensrisiken entgegentreten wird. Ein ökologischer Umbau der Gesellschaft bedeutet einen "neuen Gesellschaftsvertrag" als "sozialstaatliche Antwort auf die Globalisierung". Diese fungiert als Garant des sozialen und demokratischen Zusammenhaltes - das ist die Voraussetzung, um über Emanzipation zu sprechen. Fischers vorläufige Bestandsaufnahme und seine daran anschließenden Vorschläge sind kritischer als das Immer-schon-Bescheidwissen von Mainstream-Politik und Talk-Show.

Er formuliert ein auf Menschenrechte, Demokratie und Republikanismus gegründetes Gegenprogramm zum christkonservativen Zynismus der Protagonisten einer geistig-moralischen Wende, welche die Zerstörung der sozialen Grundlagen der Gesellschaft billigend in Kauf nahm. Das ist nicht wenig für einen nebenberuflichen Autor.

Joschka Fischer, Für einen neuen Gesellschaftsvertrag. Eine politische Antwort auf die globale Revolution, Köln (Verlag Kiepenheuer & Witsch) 1998 (338 S., 39,80 DM)