Nordkoreas Dilemma

Zwischen Beharrung und Wandel von unten

Thomas Heberer
 

Das World Food Program (WFP) erklärte Anfang 1998, die Mehrheit der nordkoreanischen Bevölkerung sei von Hungersnot bedroht. In diesem Jahr soll das größte Hilfsprogramm in der Geschichte des WFP anlaufen: die Bereitstellung von 723.800 Tonnen Nahrungsmitteln für ein Drittel der Bevölkerung. Alle Teile des Landes sind von Hunger betroffen, wenn auch in unterschiedlichem Grad: Industriegebiete außerhalb der Hauptstadt (ohne größeres landwirtschaftliches Umfeld), abgelegenere Bergregionen und die Gebiete an der Westküste sind am stärksten in Mitleidenschaft gezogen.

Der Wirtschaftsverfall Nordkoreas begann in den 80er Jahren, er beschleunigte sich aber nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa und der UdSSR. Seit 1985 weist die Wirtschaft ein Negativwachstum auf, wozu Mangel an Brennstoffen und Devisen erheblich beigetragen haben. Nur noch zwischen 10 und 30 Prozent der Betriebe produzieren gegenwärtig. Auch das Außenhandelsvolumen ging in den letzten Jahren kontinuierlich zurück, allein zwischen 1992 und 1996 um 13 Prozent. Der Energiemangel ist so groß, daß im Dezember 1997 sogar die Propagandalautsprecher an der Demarkationslinie zu Südkorea ihren Betrieb einstellen mußten. An nahezu allen Gütern herrscht Mangel. Am gravierendsten wirkt sich jedoch der Niedergang der Getreideproduktion aus. Dieses Problem wurde nicht durch Naturunbilden 1995-1997 ausgelöst, sondern dadurch lediglich verschärft. Mangel an Nahrungsmitteln und damit Hunger herrscht seit Anfang der 90er Jahre.

Das notwendige Ernährungsminimum für Erwachsene beträgt 450 Gramm Getreide pro Tag. Umgerechnet auf die 24 Millionen Einwohner Nordkoreas (inkl. der Kinder) entspräche das einem Jahresbedarf von etwa 3,9 Millionen Tonnen, Getreide für Futterzwecke und Industriebedarf nicht eingerechnet. 1996 erzeugte das Land 2,44 Millionen Tonnen, ein Defizit von etwa 1,46 Millionen allein für 1997. Da ein Teil der Ernte bereits 1996 konsumiert worden war, lag der reale Bedarf für 1997 erheblich höher (bei 2 bis 2,4 Mio. t). Damit mußte von der langjährigen Ration von 700 Gramm Getreide pro Person/Tag erheblich abgewichen werden. Internationalen Organisationen zufolge werden in manchen Gebieten nur noch 100 Gramm täglich ausgegeben.

Ursachen des Hungers

Nordkorea besaß von Anfang an keine guten Voraussetzungen für agrarische Selbstversorgung. Nur weniger als ein Fünftel der Fläche (18 %) ist landwirtschaftlich nutzbar, bei rauhen klimatischen Bedingungen und minderer Bodenqualität. Dieser strukturelle Mangel wurde bis Ende der 80er Jahre durch Lieferungen Chinas und der Sowjetunion weitgehend ausgeglichen. Mit dem Zerfall des sozialistischen Lagers und der Reform- und Öffnungspolitik Chinas verlangten die Hauptlieferanten Rußland und China die Bezahlung in Devisen. Aufgrund chronischen Devisenmangels war Nordkorea dazu nicht in der Lage. Dazu kommen systembedingte Gründe. Mit der Durchsetzung des Genossenschaftssystems in der Landwirtschaft 1958 kam es zu deutlicher Produktivitätsverschlechterung. Der Niedergang bewirkte, daß ab 1963 keine landwirtschaftlichen Statistiken mehr veröffentlicht wurden. Zwar meldete Pjöngjang von Jahr zu Jahr wachsende Getreideerträge, die Meldungen stimmten allerdings nicht mit der Realität überein. Die FAO hat nachgewiesen, daß alle gemeldeten Daten seit 1963 überhöht waren. 1976 (Ende des 6-Jahres-Plans) meldete Pjöngjang 8 Millionen Tonnen, am Ende des 2. Sieben-Jahres-Plans (1984) 10 Millionen. Am Ende des 3. Sieben-Jahres-Plans (Ziel: 15 Mio. t) wurden keine Daten mehr veröffentlicht: Es hieß nur, die Produktion sei um das 5,3fache höher als 1946, was etwa 10 Millionen Tonnen entsprochen hätte. 1995 wurde dann eingestanden, daß lediglich 3,76 Millionen erzeugt worden seien, Beleg dafür, daß frühere Angaben übertrieben waren.

Der Ausfall der Versorgung durch die Comecon-Staaten und teils auch durch China, nicht nur im agrarischen, sondern auch im technischen Bereich und in der Versorgung mit Ersatzteilen, Rohmaterialien und Brennstoffen, bewirkte einen drastischen Rückgang in der Herstellung von Kunstdünger, Pestiziden und anderen in der Landwirtschaft benötigten Produkten sowie für das Betreiben von Agrarmaschinen und Transportmitteln. Unter den zum Teil mangelhaften Bodenbedingungen Nordkoreas bedarf es aber eines hohen Inputs an Kunstdünger und anderen Chemikalien. Fehlende Transportmittel erschweren überdies Abtransport und Verteilung.

Auch die sich angeblich an der Juche-Ideologie (Sicherstellung der Autarkie) orientierenden Anbaumethoden, die nicht auf wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auf laienhafte Anweisungen Kim Il-sungs zurückgingen, wirkten sich katastrophal aus. Überdichte Pflanzung von Reissetzlingen, Terrassierung von Bergabhängen im Interesse von Getreideanbau und damit verbundene Abholzung von Baumbeständen in Gebieten, die sich nicht für den Getreideanbau eigneten, die Vernachlässigung anderer Agrarbereiche (Forstwirtschaft, Viehzucht) durch Überbetonung des Getreideanbaus und die "hohes Tempo"-Politik von Vater und Sohn Kim haben weniger mit Juche zu tun, sondern sind bereits ausgiebig im China der 60er und 70er Jahre praktiziert worden, mit ähnlich katastrophalen Folgen. Auch in Nordkorea wurde Monokultur begünstigt, mußten traditionelle Erzeugnisse zugunsten des Getreideanbaus aufgegeben werden. Die Überschwemmungen der letzten Jahre, die große Anbauflächen zerstörten, lassen sich nicht zuletzt auf die massive Abholzung von Forstarealen zurückführen. Denn dadurch fließen die Regenmassen schneller ab und nehmen gleichzeitig große Mengen fruchtbaren Bodens mit.

Folgen

Obwohl Reformen wie in China und Vietnam von der Führung bislang zumindest verbal vehement abgelehnt werden, gibt es Anzeichen reformähnlichen Wandels, die direkt mit dem Wirtschaftsdesaster zusammenhängen. So wurde 1996 eine neue Politik der Anreize eingeführt: Die Arbeitsgruppen, in die sich die ländlichen Kollektive ("Genossenschaften") unterteilen, wurden verkleinert, und den einzelnen Mitgliedern wurde erlaubt, über Produkte, die über das Plansoll hinaus erwirtschaftet werden, frei zu verfügen (Eigenverbrauch oder Verkauf auf den Bauernmärkten). Überall entstehen offizielle und inoffizielle Märkte, auf denen nicht nur bäuerliche Überschußprodukte gehandelt werden, sondern auch Schmuggelware aller Art, sowie privates Handwerk und Dienstleistungen im Umfeld dieser Märkte (Restaurants, Fotografen, Reparateure etc.). In ausgewählten Gebieten wird mit dem Verantwortlichkeitssystem nach chinesischem Vorbild experimentiert, wobei der Boden Gruppen von Bauern oder einzelnen Familien zur Nutzung übergeben wird. Veränderungen gibt es auch im industriellen Bereich. Zwar trug ein 1984 erlassenes Joint-venture (JV)-Gesetz wenig Früchte. Nur 30 bis 40 Kleinunternehmen mit Investitionen von Auslandskoreanern entstanden, kein einziges davon erwirtschaftete Gewinne. 1992 wurden daher drei weitere Gesetze für Auslandsinvestitionen erlassen, die weitergehende Konditionen boten. Und die Revision der Verfassung von 1992 stellte in Artikel 37 ausdrücklich fest, daß Gemeinschaftsprojekte mit ausländischen Partnern gefördert werden sollen. Als Investitionszone war bereits 1991 die Freihandelszone Rajin-Sonbong an der Grenze zu Rußland und China (Tumen-Fluß) eingerichtet worden. Obwohl nun rein ausländische Tochterunternehmen und Investitionen von Koreanern aus Südkorea zugelassen wurden und die Einkommensteuer für Unternehmen von 25 auf 14 Prozent gesenkt wurde, wurden bis 1995 lediglich circa 20 Millionen US-Dollar investiert (bei einer Zielsetzung von 3,6 Mrd. US-$ bis 1993), vornehmlich von Koreanern aus Japan. Eigentliches Hindernis für Investitionen bilden das US-Einfuhrverbot für in Nordkorea hergestellte Güter sowie ein generelles Lieferembargo. Erst die Aufhebung des Handelsembargos und damit der Zugang zum amerikanischen Markt würde Investitionen in Nordkorea attraktiver machen.

Ab Juni 1997 erlaubte Pjöngjang dann freiere Geschäftstätigkeiten in der Freihandelszone Rajin-Sonbong und verkündete die Einrichtung der Freihandelszone Rason. In den Freihandelszonen sollen Staatsbetriebe als "unabhängige Einrichtungen" tätig werden und Freihandelsmärkte sowie Privatunternehmen von Nordkoreanern gegründet werden dürfen. Nordkoreaner, die durch die Umstrukturierung von Staatsbetrieben arbeitslos werden, und Bauern in ihrer Freizeit dürfen in Rajin-Sonbong privaten Wirtschaftstätigkeiten nachgehen. In einem neuen Open-Air Barter Trade Centre an der Grenze zu China können Privatpersonen Überschußprodukte verkaufen und haben Koreaner aus China freien Zugang für die Abwicklung von Geschäften mit Nordkoreanern. Im Oktober 1997 erklärte Pjöngjang, es werde "Export Processing Zones" in den Hafenstädten Wonsan und Nampo einrichten, als Startschuß für die Schaffung solcher Zonen auch in anderen Landesteilen. Kim Mun Sung, Vizevorsitzender der Kommission für Außenhandel, äußerte gleichzeitig, JV könnten bis zu 70 Prozent ausländischer Investitionsanteile halten. Auch freier Gewinntransfer und Investitionsschutzabkommen mit anderen Ländern, mit denen keine diplomatischen Beziehungen bestünden, seien möglich. Im Dezember rief Pjöngjang ausländische Investoren zu gemeinsamer Ölerschließung auf. Ferner bekundete es mehrfach Interesse, der Asian Development Bank beizutreten. Dutzende nordkoreanischer Delegationen besuchten in den letzten Jahren die chinesischen Wirtschaftssonderzonen, um sich über deren Funktions- und Arbeitsweise zu unterrichten. Pjöngjang plant die Eröffnung eines Konsulats in Hongkong, um das Wirken des freien Marktes besser verstehen zu lernen. Auch der Tourismus soll ausgebaut werden: schrittweise auf mehr als eine Million Touristen pro Jahr. Internationale Organisationen verhandeln derzeit mit Pjöngjang über Programme entwicklungspolitischer Zusammenarbeit, wobei Personal nach Nordkorea geschickt werden soll, das mit Einheimischen Selbsthilfeprojekte organisieren soll. Die Quäker sollen bereits die Erlaubnis erhalten haben, auf dem Land ein Genossenschaftswesen aufzubauen.

Neben staatlich eingeleiteten oder zumindest geduldeten Momenten finden sich zahlreiche ungewollte Folgephänomene des Hungers. In einer Geheimrede vor Parteifunktionären im Dezember 1996 hat Kim Jong Il davor gewarnt, daß Versorgungsprobleme und Hunger zu Unruhen führen könnten. Selbst die Streitkräfte seien von der Nahrungsmittelknappheit betroffen. Obwohl von größeren Unruhen nichts bekannt ist, hat das Nahrungsproblem signifikante Änderungen mit sich gebracht: Das Verteilungssystem für Lebensmittel ist vielerorts zusammengebrochen. Daher vermag es auch nicht länger als Instrument zur Kontrolle der Bevölkerung zu dienen. Lokale Funktionäre rieten den Menschen, sich auf eigene Faust Nahrung zu beschaffen. Dadurch wurden Wanderungsbewegungen in Gang gesetzt, obwohl es offiziell niemandem gestattet ist, sich ohne Erlaubnis von einem Dorf in ein anderes zu begeben. Die Nahrungsmittelprobleme haben dieses Verbot aufgeweicht, was von den Sicherheitskräften offensichtlich toleriert wird. Vor allem an der Grenze zu China überqueren Tausende illegal die Grenze, um sich Nahrungsmittel zu beschaffen. Allein 1996 erfaßten die chinesischen Behörden <%10>8<%0>000 Nordkoreaner, die illegal die Grenze bei Dandong passiert hatten. Wie viele bei Verwandten der koreanischen Minderheit in China unterkommen oder dort illegal arbeiten, ist nicht bekannt. Die wachsende Zahl von Nordkoreanern, die zu Verwandtenbesuchen oder zum Erwerb von Nahrungsmitteln nach China kommen, von Chinesen, die in Nordkorea Handel treiben, und auch die wachsende Zahl von Mitgliedern internationaler Organisationen, die die Hilfe organisieren, bewirken, daß mehr und mehr Informationen über das Leben außerhalb Nordkoreas ins Land kommen. Informationen sind aber ein wichtiges Mittel, da sie zur Veränderung von Bewußtsein und Weltsicht beitragen. Durch die sich ausbreitenden Bauernmärkte wird der Informationsfluß auch im Land selbst verstärkt.

Bei den zuletzt genannten Phänomenen scheint es sich um eher untergeordnete Momente zu handeln. Die Entwicklung in China und Vietnam zeigt gleichwohl, daß selbst kleine Schritte eine Büchse der Pandora öffnen können. Auch in jenen Ländern beabsichtigte die jeweilige Führung zunächst nur Reformen in kleinerem Umfang. Doch aufgrund der Armut in den ländlichen Regionen sahen sich die Bauern vor allem in Armutsgebieten veranlaßt, den Boden spontan unter den Familien aufzuteilen und so zu wirtschaften, wie sie es über die Jahrhunderte hinweg getan hatten. Erst als die jeweiligen Parteiführungen erkannten, daß die auf diese Weise erwirtschafteten Erträge rasch stiegen, und zwar ohne staatliche Anreize und Investitionen, erklärten sie diese Spontanaktionen zur "Landwirtschaftsreform", die schließlich landesweit eingeführt wurde. Berichte zeigen, daß die Entwicklung in Nordkorea zwar erheblich langsamer verläuft, gleichwohl aber Parallelen aufweist. Mit nachlassender ökonomischer Kontrolle in den Hungergebieten begannen die Bauern nicht nur, ihre Privatparzellen auszudehnen, sondern auch "illegale" Felder anzulegen, das heißt privat zu wirtschaften. Der Diebstahl von (staatlichem) Saatgut, Düngemitteln und Ackergeräten, die von den Bauern für private Produktionszwecke verwendet werden, hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Ein nach Südkorea geflüchteter Agrarfachmann berichtete, daß Bauern durch die Zunahme illegalen Anbaus und Verkaufs von Getreide auf den Bauernmärkten rasch wohlhabend werden könnten. Die Aufweichung von Reiseverbot und Rationierungssystem bewirkte, daß illegale Privathändler entstanden sind, die Nahrungsmittel und Güter des täglichen Bedarfs landesweit an- und verkaufen. Auch im Dienstleistungsbereich wächst das Angebot privater Tätigkeiten. Der spontane Prozeß illegaler "Privatisierung" entwickelt sich in dem Maße, wie der Staat die Grundversorgung nicht mehr gewährleisten kann. Und dieser kann nun nicht mehr dagegen vorgehen, weil der schattenwirtschaftliche Sektor nicht unerheblich zur Minderung der Versorgungsprobleme beiträgt.

Extremer Mangel an allem auf der einen Seite und ein schattenwirtschaftlicher Sektor, der bessere Versorgung einzelner gewährleisten kann, auf der anderen verstärken zugleich die Korruption. Berichte zeigen, daß das Ausmaß an Korruption in den letzten Jahren signifikant zugenommen hat. Kim Jong Il wetterte bereits mehrfach gegen dieses Phänomen und ließ "Anti-Korruptionskampagnen" durchführen. Flüchtlinge beschreiben Nordkorea als "Bestechungsparadies", denn auf diesem Wege sei alles zu bekommen. Korruption wiederum trägt durchaus zur Öffnung bei. So sind etwa private Untergrundnetze entstanden, die (mittels Bestechung von Funktionären) nahezu alles organisieren können: Treffen mit südkoreanischen Verwandten auf der chinesischen Seite, Zustellung von Briefen und Nahrungsmittelpaketen, notfalls auch Fluchthelferdienste. Koreaner, vor allem aus China, aber auch Nord-, Süd- und Auslandskoreaner, sind daran beteiligt.

Nordkoreanische Presseberichte weisen indirekt auf abweichende soziale Phänomene hin. Immer häufiger heißt es, nichts sei wichtiger, "als nach der Parteilinie zu handeln", nur strenge Maßnahmen stellten sicher, daß die Führungsautorität der Partei gestärkt werden könne, und ohne das Führerprinzip könne der Sozialismus nicht aufrechterhalten werden. Auch Aufforderungen zu verstärkter Durchführung "ideologischer und kultureller Revolution" unter der Jugend und auf dem Land weisen auf die Existenz massiven abweichenden Verhaltens unter Jugend und Landbevölkerung hin. Die Behörden sollen sogar Bestattungszeremonien für Hungertote untersagt haben, weil sie befürchten, es könne durch größere Menschenansammlungen zu spontanen Ausbrüchen von Unzufriedenheit kommen. Flüchtlinge berichten über zunehmende Unzufriedenheit unter der Bevölkerung mit der permanenten und rigiden "ideologischen Erziehung". Wandzeitungen und Flugblätter gegen die Regierung sollen ebenfalls zugenommen haben. Es wachsen die Berichte über "Egoismus" und Kriminalität. Kim Jong Il soll zu einer Antikriminalitätskampagne aufgerufen haben. Aufrufe, sich an die Gesetze zu halten, bestätigen Berichte über nachlassende Moral und zunehmend abweichendes Verhalten. Die Zahl der öffentlichen Hinrichtungen ist aus Abschreckungsgründen ausgeweitet worden.

Auch internationale Ereignisse haben Folgen. Der Zusammenbruch des Sozialismus in der Sowjetunion und in Osteuropa oder die deutsche Wiedervereinigung unter nichtsozialistischen Vorzeichen bewirkten Risse in der Propaganda, auch wenn eher indirekt darüber berichtet wurde. Kim Jong Ils Aussage, der Sozialismus habe einen "Rückschlag" erlitten, läßt im Land durchaus Zweifel hinsichtlich der immer wieder propagierten Überlegenheit des Sozialismus aufkommen. Dazu kommen Informationen über die erfolgreiche Reformpolitik im benachbarten China, bei gleichzeitigem Wirtschaftsverfall im eigenen Land.

Nun darf aus sozialen Erosions-, Verfalls- und Abweichungserscheinungen nicht geschlossen werden, der Zusammenbruch stehe unmittelbar bevor. Noch üben Streitkräfte und Sicherheitsapparat das staatliche Gewaltpotential und die Kontrolle aus. Auch der jahrzehntelange Führerkult, die Propaganda ständiger Bedrohung durch den "Imperialismus" (gemeint sind die USA, aber auch Japan) und Südkorea sowie die damit verbundene Militarisierung der Gesellschaft zeigen noch Wirkung. In den Medien und im Alltag dominiert nach dem Ableben Kim Il Sungs im Juli 1994 die Person seines Sohnes und Nachfolgers Kim Jong Il, der seine Macht wesentlich auf das Militär stützt. Zwar geht von unten her ein Wandlungsdruck aus, der zunächst eher informelle Veränderungen in der Gesellschaft bewirkt, aber um in einen Reformprozeß nach chinesischem oder vietnamesischem Vorbild zu münden, bedürfte es einer "aufgeklärten" Führung, die die Notwendigkeit von Reform und Öffnung erkennt und unterstützt. In Überwachungsstaaten wie Nordkorea kann formeller Wandel nur mit Hilfe von Teilen der Elite erfolgen.

Die Rolle Kim Jong Ils

Die Nachfolge von Kim junior ist lediglich dadurch zu rechtfertigen, daß dieser beanspruchen kann, das politische Vermächtnis und die Ideologie seines Vaters fortzusetzen, zumal er weder über dessen Charisma noch über (angebliche) historische Verdienste (Befreier von der japanischen Kolonialmacht und Gründer des Staates) oder eine eigene Ideologie verfügt. Daher bedarf es zunächst der Legitimierung seiner Macht, zumal die Nachfolge des vergöttlichten Kim Il Sung durchaus eine Herausforderung darstellt und die Loyalität des Volkes nicht automatisch vom Vater auf den Sohn übergeht. Sich nur auf den Ruhm des Vaters und dessen Anweisungen zu stützen schafft weder Legitimität noch Loyalität. Um letzteres zu erreichen, bedient er sich ideologischer wie organisatorischer Mittel.

Was die ideologischen Mittel anbelangt: Nach dem Tod seines Vaters hatte Kim Jong Il drei Jahre lang weder Parteiführung noch Präsidentschaft übernommen. Das war keineswegs Zeichen der Schwäche, er war weitgehend unumstrittener Führer, auch ohne formelle Ämterübernahme. Indem er, als ältester Sohn, der Pflicht nachkam, drei Jahre um seinen Vater zu trauern, erwies er sich - im konfuzianischen Sinne - als vorbildlicher Sohn und Herrscher. Kim Jong Il, so schrieb die nordkoreanische Presse, habe sich auf diese Weise als "Modell an Loyalität und Sohnespietät" erwiesen, als "Vater des Volkes", ganz im Sinne konfuzianischer Familienideologie. "Wir sind die vollen ständigen Mitglieder der Familie Kim Il Sungs", schreibt die Parteizeitung Rodong Shinmun, das koreanische Volk könne auch nicht einen Augenblick überleben, wenn es sich von der Brust des Suryong (Führers) löse. Da alle Nordkoreaner Familienmitglieder seien, sollten sie dem Führer als Vater folgen und ihm treu dienen. Die Mitgliedschaft in dieser Familie sei die höchste Form des Daseins. Neuer Vater sei, nach dem Tod Kim Il Sungs, dessen Sohn. Diesem sei nun Kindespietät zu bezeugen, selbst wenn sich die Lage im Land dramatisch verschlechtern sollte.

Weshalb gelingt es, auf einer derartigen Basis ein ganzes Volk zu beherrschen? Zum einen basiert die Herrschaftsideologie auf traditionellen konfuzianischen Konzepten von Loyalität gegenüber dem Herrscher, paternalistischen Herrschaftsvorstellungen (Herrscher als Vorbild und fürsorgliche Vaterfigur), Gleichsetzung von Herrscher und Staat/Nation. Das Trauma der japanischen Besatzung und der damit verbundenen gewaltsamen Assimilierungspolitik sowie der Teilung der Nation stärkten die Rolle des Konfuzianismus. Kim Il Sung und seine Anhänger griffen in ihrer Staatsphilosophie auf wichtige konfuzianische Momente zurück, die sie im Sinne ihrer Ideologie interpretierten. In der Geschichte der koreanischen politischen Kultur spielt der "Führer" eine herausragende Rolle, nicht nur als politische Leitfigur, sondern auch als Former der Seele, der durch vorbildliches Verhalten wirkt. Er verkörpert die Nation, das Volk als zugeordnete Familie bezeugt ihm Pietät und Loyalität. In Nordkorea, ähnlich wie in China und Vietnam, gingen Konfuzianismus und sowjetischer Stalinismus eine Symbiose ein. In der koreanischen Gesellschaft tief verwurzelte Werte, wie Kindespietät, Loyalität, Vertrauen, Liebe, Respekt, Gehorsam gegenüber dem Führer, konnten zur Etablierung der Herrschaft der Kim-Familie genutzt werden. Die Gleichsetzung von Nation, Partei und Führer, die strikte Loyalität gegenüber dem Führer, der hierarchische Aufbau der Gesellschaft in Verbindung mit der rücksichtslosen Beseitigung aller Andersdenkenden und einem strikten Überwachungssystem erleichterten die Durchsetzung dieser Staatsvorstellung. Regelmäßige ideologische Kampagnen sollten diese Ideologie durchsetzen.

Offensichtlich zeigt diese Indoktrination Wirkung und wird von großen Teilen der Bevölkerung geglaubt. Die Abschottung von Einflüssen und Informationen von außen begünstigt das. Da nur inländische Rundfunk- und Fernsehsender empfangen werden können, alle Geräte gemeldet sein müssen und regelmäßig überprüft werden, konnte der Einfluß von Informationen über das Ausland bislang eingegrenzt werden. Gleichwohl gibt es innerhalb der Intellektuellen und der Führungsschicht weit verbreitete Kenntnisse und Informationen über die Lage in der Welt. Die Existenz von zwölf politischen Lagern in fünf Provinzen mit etwa 25<%10>0<%0>000 politischen Häftlingen weist aber darauf hin, daß das System nicht so monolithisch ist, wie es erscheint.

Auch organisatorisch sicherte sich Kim junior ab. Er besetzte alle Führungsstellen in Partei, Staat und Streitkräften mit ihm ergebenen Personen. Dabei stützt er sich auf Personen seines Vertrauens, wie Verwandte, Schulkameraden oder Studienkollegen. Von daher scheint die Elite ein erhebliches Maß an Homogenität zu besitzen. Es darf gleichwohl nicht übersehen werden, daß es sich bei den neuen Kräften, die Kim junior um sich geschart hat, um Personen mit Hochschulbildung und zum Teil längeren Auslandsaufenthalten (wenn auch nur in ehemals oder noch sozialistischen Ländern) handelt, die über einen größeren Kenntnisstand über die Außenwelt verfügen und offensichtlich Reformschritten durchaus aufgeschlossener gegenüberstehen als die alte Garde um Kim senior.

Die Streitkräfte

Das Militär mit rund 1,14 Millionen Angehörigen ist zweifellos Hauptstütze des Regimes. Die öffentlich bekannten Auftritte Kim juniors waren primär Inspektionen von Truppenteilen. Dies soll einerseits demonstrieren, daß er sich "väterlich" um die Streitkräfte kümmert und ihnen Priorität in der Gesellschaft einräumt, andererseits, daß er die Kontrolle über das wichtigste Instrument seiner Herrschaft ausübt. Die engen Verbindungen der Militärführung zu Kim Jong Il, das Hofieren der Streitkräfte, ihre politisch, ökonomisch und sozial herausgehobene Stellung, der hohe Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt (ca. 25 %) sowie der scheinbare Bedrohungsfaktor USA/Südkorea machen die Streitkräfte zu einem starken und regimestützenden Faktor. Auch versorgungsmäßig werden die Streitkräfte partiell begünstigt. So werden Soldaten höhere Getreiderationen zugeteilt als Zivilpersonen. Grenzsoldaten sollen bis zu 800 Gramm pro Tag erhalten. Zwar ist die Führung der Streitkräfte eng an Kim junior gebunden, aber auch die Loyalität des Militärs dürfte Grenzen haben: Zum einen verstehen sich die Streitkräfte in Korea traditionell als Hüter der Nation. Von daher besteht ihre Loyalität nur so lange, wie Kim Jong Il und das Interesse der Nation als identisch begriffen werden. Überdies bilden Streitkräfte keine monolithische Einheit, auch wenn sie nach außen hin so erscheinen mögen. Die jüngere Geschichte ostasiatischer Staaten belegt, daß Teile des Militärs die Nation durchaus einem Führer überordnen und im Konfliktfall sich gegen diesen wenden können. Auch scheinen Teile der Streitkräfte in der Suche nach ausländischer Hilfe zur Behebung der Nahrungsmittelknappheit einen Verstoß gegen die Autarkie-Idee (Juche) zu sehen, worauf Bemerkungen Kim Jong Ils hindeuten. Zum anderen bestehen die Streitkräfte mehrheitlich aus Soldaten, die aus dem einfachen Volk stammen und deren Familien von dem Wirtschaftsdesaster direkt betroffen sind. Dies dürfte sich als Unzufriedenheitsfaktor in den Streitkräften niederschlagen. Berichte zeigen auch, daß nicht alle Truppenteile von der Vorzugsbehandlung profitieren. Häufig werden einfache Soldaten benachteiligt, weil Offiziere Getreide für eigene Klientel abzweigen, oder es kommt zu regionalen Ungleichheiten (etwa Bevorzugung der Truppen an den Grenzen gegenüber jenen in abgelegeneren Regionen im Landesinnern). Ein 1995 nach Südkorea geflüchteter Hauptmann erklärte, daß bereits damals etwa 5 Prozent der Soldaten unterernährt gewesen seien, von daher sei die Moral nicht sehr hoch. Und ein anderer Flüchtlinge berichtete von wachsender Unzufriedenheit auch unter Offizieren.

Perspektiven

Ohne grundlegende Reformen wird sich weder die Ernährungssicherung noch eine grundlegende Änderung in der zivilen Industrieproduktion erreichen lassen. Auch der politischen Elite dürfte inzwischen klar sein, daß nicht politische Indoktrination und Juche zu höherer Produktivität führen, sondern lediglich private Anreize. Dies haben die Erfahrungen in China und Vietnam hinreichend bewiesen, und dies war auch der Grund, weshalb in beiden Ländern eine Rückkehr zu familiärer Bewirtschaftung in der Landwirtschaft und die Entwicklung des Privatsektors zugelassen wurden. Auch in Nordkorea hat sich gezeigt, daß auf den Privatparzellen der Bauern wesentlich höhere Erträge erwirtschaftet werden als auf kollektiv bewirtschaftetem Land. Von daher stellen - wie wir oben gezeigt haben - die zunehmenden kryptoprivatwirtschaftlichen Aktivitäten eine Form von Widerstand dar. Sie belegen, daß die Bauernschaft keineswegs ideologisch assimiliert wurde. Dieser spontanen Tendenz unter der Bauernschaft kann das Regime in Nordkorea nur mit zwei Mitteln begegnen: durch Intensivierung der Gewalt gegenüber der Bauernschaft, was zumindest deren passiven Widerstand noch verstärken dürfte, die Ideologie vom wohlwollenden Führer weiterhin als Propagandaillusion entlarven würde und unter Umständen auch vom Militär nicht unbedingt mitgetragen werden dürfte (das sich ja als Armee des Volkes und primär als Garant gegen äußere Bedrohung, weniger als Repressionsinstrument nach innen versteht); oder durch Nachgeben im Sinne zunächst eingeschränkter Reformen. Die Rhetorik der Parteiführung, Reformen wie in China würden nicht zugelassen, muß eher als Versuch der Einschüchterung reformorientierter Kräfte und als Widerstand gegen den Reformdruck begriffen werden. Untätigkeit würde letztlich die Wirtschaftskrise noch verschlimmern und könnte die Widersprüche innerhalb der Elite verschärfen. Stützt sich der konfuzianische Sozialismus Nordkoreas doch auf dogmatische konfuzianische Momente, nicht zuletzt auch auf die Lehre vom "Mandat des Himmels" für die Kims. Dieses Mandat wird nach eben dieser Lehre aber demjenigen entzogen, der sich als unfähig erweist, stabile Verhältnisse sicherzustellen. Hungerkatastrophen galten in der Geschichte konfuzianischer Staaten stets als Beweis, daß ein Mandat verwirkt war. Von daher besteht für Kim die Gefahr, daß er sein "Mandat" verwirkt, wenn es ihm nicht gelingt, die Lage entscheidend zu verbessern. Daher steht auch er in gewisser Weise unter Reformdruck.

Doch nicht die Notwendigkeit von Reformen ist das Problem, die kennt auch Kim Jong Il, sondern die Möglichkeit. Die Erfahrungen in Osteuropa haben gezeigt, daß auch Veränderungen geringeren Umfangs eine Lawine in Gang setzen können. Die Ambivalenz (zwischen Reformdruck und der Gefahr von Reformen für das Regime) ist der politischen Elite durchaus klar, sie verfügt allerdings über kein Konzept zu ihrer Lösung, sondern setzt nach wie vor auf ideologische Indoktrination, auf die Wirkung von Bedrohungsszenarien ("Angriffsgefahr") sowie auf eine Normalisierung der Beziehungen mit den USA, um stärkeren Anschluß an die Weltwirtschaft zu finden, und sei es auch nur in abgeriegelten Freihandelszonen. Die Führung versucht zunächst, Zeit zu gewinnen und die Kontrolle zu behalten. Gleichwohl könnte eine Unterstützung von Reformen durch Teile der Elite denkbar sein, wenn Partei- und Militärführung davon profitierten, nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch (etwa durch nachlassenden Legitimationsdruck bei gleichzeitiger Wahrung der Macht).

Nicht zuletzt die Flucht von Song Hye Rim (Kim Jong Ils frühere Ehefrau), Kang Myong Do (Schwiegersohn des Ministerpräsidenten Kang Song San) oder Hwang Jong Job (Generalsekretär der Partei) belegt, daß es auch innerhalb der politischen Elite Unzufriedenheit mit den derzeitigen Verhältnissen gibt. Zugleich ist erkennbar, daß Vertreter von Außenpolitik und Außenwirtschaft einen Öffnungsprozeß präferieren würden, während das Militär eher an weiterer Isolierung interessiert zu sein scheint, um keine Instabilitäten aufkommen zu lassen. Letztlich könnte man das Hilfeersuchen an das Ausland auch so interpretieren, daß von reformwilligeren Kräften die Wirtschaftskatastrophe genutzt wird, um die Tür gegenüber dem Ausland erstmals weiter aufzustoßen.

Welche Möglichkeiten hat nun die Staatengemeinschaft, die Öffnung Nordkoreas zu unterstützen? Nicht weitere Isolierung, sondern nur die Einbindung Nordkoreas kann Wandel erleichtern, weil der permanente Druck äußerer Bedrohung und Isolierung dadurch gemindert würde. Die Normalisierung der Beziehungen zu den USA und die Entwicklung wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit den westlichen Ländern könnte Nordkorea allmählich aus der extremen Isolation herausführen und zunächst außenwirtschaftliche Öffnung begünstigen. Der Druck zu inneren Reformen muß ohnehin im Land selber entstehen. Eine Aufnahme Pjöngjangs in die Asian Development Bank und Projekte der Entwicklungszusammenarbeit könnten die Öffnung ebenfalls beschleunigen. Während der Einfluß Rußlands heute als gering einzustufen ist, kommt China durchaus eine wichtige Rolle zu. Seit Jahren bemüht sich die chinesische Führung, Nordkorea zu Reformen zu ermuntern. Angriffe gegen China ("Revisionismus") und historische Ressentiments begrenzen allerdings diesen Einfluß, zumal Pjöngjang Furcht vor einer zu starken Abhängigkeit von Peking hat. Von daher böte westliche Hilfestellung bei der Herausführung aus der Isolation zweifellos große Vorteile. Pjöngjang hat gelegentlich zu verstehen gegeben, daß es auch die weitere Stationierung von US-Streitkräften in Südkorea akzeptieren könne, wenn deutlich würde, daß sie sich nicht gegen den Norden richtet, sondern Garant gegen einen südkoreanischen Angriff ist. Die Realisierung des außenpolitischen Hauptziels Pjöngjangs, die Normalisierung der Beziehungen zu den USA, böte hier Handlungsspielraum für Washington. Auch der Norden erwartet vertrauensbildende Maßnahmen, selbst wenn er sich in der Vergangenheit wiederholt als Schurkenstaat erwiesen hat.