Die Euro-Inthronisierung

Ereignisse & Meinungen

Joscha Schmierer

Am 2. Mai trafen sich die Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel, um die Entscheidung über die Mitgliedschaft in der Währungsunion abzusegnen und den Präsidenten und das Direktorium der Europäischen Zentralbank zu berufen. Doch beinahe wäre das feierliche Ereignis in die Suppenterrine gefallen.

Vive l'euro! "Der Euro ist geboren, der Euro lebe hoch" jubelte Le Monde in ihrem Editorial vom 5. Mai: "Die Anekdote darf nicht die Geschichte verdecken. Die Anekdote besteht in dem Kompromiß über die Präsidentschaft der Europäischen Zentralbank. Die Adjektive, die gewählt wurden, um diesen Kompromiß zu qualifizieren, klingen angemessen: mühsam und schief. Aber Europa ist nie auf andere Weise vorangekommen als durch Marathon-Verhandlungen und Basar-Gefeilsche. Sicher erklärt diese etwas schizophrene Art sich zu bewegen - ein Schritt vorwärts, ein Schritt zur Seite -, daß kein einziges der großen europäischen Treffen und keine der schrittweisen Erweiterungen des gemeinsamen Marktes in Enthusiasmus verliefen. (...) Das ist der europäische Alltag. Am wichtigsten, allein wesentlich ist, daß der Euro zustande gekommen ist.

Wenn viele Argumente der Euroskeptiker nachzuvollziehen sind, das zentrale Argument sticht nicht: Ein Land wie Frankreich verzichte mit dem Euro auf währungspolitische Souveränität. Wegen der Globalisierung ist diese heute illusorisch.

Möge man doch aufhören, sich zu ängstigen: Frankreich verschwindet nicht mit dem Franc (...) Der Euro ist kein Schlag gegen den Nationalstaat; der Nationalstaat reagiert mit ihm auf die Globalisierung. In diesem Sinn war der Brüsseler Gipfel eine gute Verabredung mit der Geschichte."

Eine Revolution In Newsweek hatte Michael Hirsh über das Desinteresse in Amerika gewitzelt: "Uncle Sam denkt gern, daß er eine krisengeschüttelte Welt steuert, und kann die Besessenheit des alten Kontinents von der Europäischen Währungsunion nicht ganz verstehen. Die Währungsunion mag ja das größte europäische Vorhaben seit 1648 (dem Westfälischen Frieden, wenn es interessiert) sein. Es könnte etwas wie eine vereinigte Wirtschaft fördern, die mit möglichen 8,6 Billionen Dollar Amerika übertreffen könnte. Ja, einige Experten sagen, daß die gemeinsame Währung, der Euro, eines Tages dem Dollar Konkurrenz machen werde. Und - wir wissen es genau - die Europäische Währungsunion wird wirklich in Kraft treten." Die neue Währung werde zum "Lebenssaft einer neuen ökonomischen Einheit, die bald Euroland heißen wird" (4.5.).

In seinem Editorial im Nouvel Observateur nahm Jean Daniel die Anspielung "eines unserer amerikanischen Kollegen" auf: "Man kann machen und sagen, was man will, und an allem zweifeln außer an der Tatsache, daß es sich schlichtweg um eine Revolution handelt. Denn der Hinweis auf die Westfälischen Verträge reicht nicht aus. Diese Verträge standen in einer Tradition, wo man Einschnitten in die Souveränität nur am Ende von Konflikten, in denen die Gewalt herrschte, zustimmte. So war es im Dreißigjährigen Krieg. Seither hat man immer wieder Reiche zusammenbrechen sehen. Man konnte sogar Zeuge der Implosion der riesigen sowjetischen Supermacht werden und ihres Rückzugs aus Territorien, die sie sich als Vasallen unterworfen hatte. Aber niemals hat man Nationen auf einen Teil ihrer Macht verzichten sehen. Die elf Nationen, die ihre nationale Währung gegen den Euro eintauschten, haben freilich schon europäischen Bürgersinn bewiesen, als sie sich den Beitrittskriterien für den Klub der Erstmitglieder beugten" (7.5.).

Die großen Nationen erfasse der Schwindel vor dieser Aufgabe von Souveränität nicht in der gleichen Weise. "Ich habe gesagt, daß wir in einer Revolution leben. Dennoch ist Frankreich von ihr nicht am stärksten betroffen, sondern Deutschland. Man hat in Frankreich nicht begriffen, in welchem Maße die deutschemark (so im Original) nicht nur ein Symbol der Souveränität wie in allen Ländern, sondern darüber hinaus seit 1948 auch Garant des Wiederaufbaus der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Einheit war. Die Mark wurde nach und nach, weit mehr als der Dollar und der Yen, das stabilste und stärkste Geld der Welt. Tatsächlich diente die Mark schließlich als Referenzwährung für alle Nachbarn Deutschlands, egal, ob germanophon oder nicht. Die Mark ist stark, aber sie schafft eine Mark-Zone. Fünf der elf Länder, die das Abkommen über den Euro unterzeichnet haben, waren ja mehr oder weniger Teil der Mark-Zone: Das vereinigte Deutschland, Österreich, Luxemburg, Finnland und die Niederlande. Fünf von elf, selbst wenn man die Stellung der Niederlande nicht so eindeutig sieht! Denken wir daran, daß die Republik Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Slowenien und bis zu einem gewissen Grad Rumänien und Polen bereits de facto zur DM-Zone gehören. Dann kann man besser verstehen, daß die Deutschen glaubten, mit der Mark alles beim Bau Europas und vor allem mit dem Euro verlieren zu können. Ohne den Schuldkomplex, den die Erinnerung an den Nazismus bei ihren führenden Politikern bis in die letzten Jahre hinein hervorgerufen hat, hätten die Deutschen niemals ein solch kontinuierliches Streben nach Europa an den Tag gelegt. Dieser Komplex wurde übrigens durch die deutsche Wiedervereinigung und die Macht der DM-Zone neu belebt, zwei Dinge, die die preußische Versuchung greifbarer und die Rückkehr der alten Dämonen bedrohlicher machten. Alles in allem hat sie der geheime Wunsch, weniger deutsch zu sein, europäischer gemacht."

Mögen Genscher und Kohl noch so sehr gegen die "Legende" angehen, der Euro sei der Preis für die Vereinigung, ein Preis, den sie niemals hätten zahlen dürfen, wie ihnen Rudolf Augstein im Spiegel Woche für Woche unter die Nase reibt, es ist einfach wahr, daß die beherrschende Stellung der D-Mark unter den neuen Verhältnissen nach 1989 die schon früher aus ökonomischen Gründen immer wieder ins Auge gefaßte Währungsunion unausweichlich auf die politische Tagesordnung gesetzt hatte. Die Alternative war: die DM-Zone unter deutscher Hegemonie zu festigen, auszudehnen und damit die Union langfristig zu sprengen oder die Währungspolitik europäisch zu institutionalisieren und damit eine Erweiterung der EU nach Osten überhaupt erst möglich zu machen. Man erinnert sich, wie das Kerneuropa-Papier der CDU-Fraktion 1995 diese Alternative offen ins Spiel gebracht hatte, wenn auch in der klaren Absicht, die Währungsunion voranzubringen.

Mit einem Opfer oder einem politischen Preis hat das Engagement für den Euro freilich nichts zu tun. Die Entscheidung für die Währungsunion war eine strategische Entscheidung gegen die Neuauflage eines imperialen deutschen Abenteuers. Bis 1989 hatte die Bundesrepublik keine Alternative zur westeuropäischen Integration. Mit dem Jahr 1989 wuchs eine heran. Sie ausgeschlagen und gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der EU die Währungsunion in Angriff genommen zu haben, ist im Sinne Jean Daniels durchaus eine Revolution. Wie jämmerlich wurde sie begründet und wie schmählich und hintenrum wurde sie von oben herab vollzogen.

Der Investiturstreit Die vielleicht schroffste Kritik am Auftreten der französischen Delegation und des Präsidenten Chirac in Brüssel fand sich in der Pariser Libération. Diese Affäre habe gezeigt, schrieben Jean Quatremer und Pascal Riché, "wie wenig Jacques Chirac - der Jospin in dieses Abenteuer hineingezogen hat - Europa versteht. Er zeigte sich als der Prototyp des arroganten und wenig solidarischen Franzosen..." Als perfide empfanden sie, daß Chirac den angeschlagenen und unter Wahlkampfbedingungen agierenden Kohl vorgeführt habe: "Helmut Kohl mag sich wohl schlecht entschädigt sehen für die Unterstützung, die er dem französischen Präsidenten während der Wiederaufnahme der Nuklearversuche geboten hat... Chirac ist dabei, noch eine sozialistische Regierung die Wahlen gewinnen zu lassen. Diesmal in Deutschland" (4.5.). In einem Editorial vom gleichen Tag, "Mourir pour Trichet?", rügte Jacques Amalric: "Mußte man Wim Duisenberg demütigen, indem man ihn im reinsten Stil der Moskauer Prozesse zwang zu ,gestehen`, daß er sich letzten Endes nur in der Lage sehe, das halbe Mandat der Präsidentschaft der Zentralbank auszuüben?" Es sehe ganz so aus, als ob "Chirac in dieser Angelegenheit nationales Interesse und nationalistische Eitelkeit verwechselt" habe.

Alain Peyrefitte im Figaro dagegen sah den Präsidenten in Brüssel Grundsätze verteidigen. Schließlich hätten die Zentralbankpräsidenten mit ihrem Votum für Duisenberg ihre Kompetenzen überschritten. Die Lösung von Brüssel sei zwar nur halb befriedigend für Frankreich, dem eigentlich im Austausch für den Sitz der Zentralbank die erste Präsidentschaft zugestanden habe, "zumal der Sitz von Dauer, die Präsidentschaft aber vorübergehend ist". Die Lösung habe "aber dennoch den großen Vorteil, zwei fundamentale Prinzipien erneut zu befestigen: Erstens muß die politische Entscheidung, einen so wichtigen Bestandteil der Souveränität wie die Geldschöpfung zu delegieren, unter der Kontrolle der politischen Autoritäten bleiben. Zweitens kann sich die politische Dimension Europas nicht außerhalb der Nationen ausdrücken, die sie konstituieren. Der einzige Anlaß zu Traurigkeit in dieser Angelegenheit ist, daß die Sicherung der französischen Konzeption des ,Europa der Nationen' wieder einmal ein Konzert französischer Verwünschungen hervorgerufen hat. (...) Uns systematisch mit scharfen Zähnen selbst zu zerfleischen ist seit Vercingetorix unsere Schwäche. In inneren Angelegenheiten mag das manchmal gesund sein. Aber in den äußeren Beziehungen dient es den Interessen der anderen, die nicht so viel Skrupel haben wie wir" (6.5.). Peyrefittes letzter Satz ist doppelt bemerkenswert. Zumindest in der Währungspolitik wird unter den Euro-Ländern keine Trennlinie zwischen inneren Angelegenheiten und äußeren Beziehungen mehr gezogen werden können. Die Geldpolitik wird in Zukunft europäische Innen-, die Währungspolitik europäische Außenpolitik sein. Zugleich werden in Geldfragen nicht mehr "wir" und "die anderen" einander gegenüberstehen. Ohnehin aber ist es absurd, die Außenpolitik und erst recht die Europapolitik unter dem Gesichtspunkt des Gegensatzes von Souveränitäten aus der öffentlichen Auseinandersetzung der Mitgliedstaaten, Demokratien immerhin, heraushalten zu wollen. Peyrefittes Ermahnungen an die französische Nation negieren im Grunde den ganzen bisherigen europäischen Integrationsprozeß. Sie entspringen jedoch einer verbreiteten Haltung, einer Haltung, die auch in Zukunft dazu führen wird, bei passenden und vor allem bei unpassenden Gelegenheiten Prinzipienstreitigkeiten zu inszenieren. Dabei hat natürlich auch die französische Presse gesehen, daß Chiracs Schlacht von Brüssel vor allem innenpolitische Wirkungen erzielen sollte.

Wo bleibt die politische Union? Einerseits ist unsicher, ob eine Währungsunion ohne staatlich-institutionellen Rahmen haltbar ist, andererseits ist es nicht unwahrscheinlich, daß die Währungsunion die zentralstaatliche Handlungsfähigkeit weiter schwächt und den territorialstaatlichen Rahmen durchlöchert. Beide Unwägbarkeiten ändern aber nichts an der Tatsache, daß die einzelnen Staaten die entscheidenden Akteure der Unionsbildung bleiben. Deshalb steht nach der Währungsunion fürs erste wohl eine Zeit der Unsicherheit und des Abwartens ins "Europäische Haus". Um so mehr ist Jacques Delors als Ratgeber gefragt.

Le Monde sagte er: "Wir stecken in einer Phase des Immobilismus, den die Wirtschafts- und Währungsunion etwas verhüllt. Unter diesen Umständen ist erfahrungsgemäß nur mit kleineren Veränderungen zu rechnen, die die Verträge nicht tangieren, es aber ermöglichen, Dynamik zurückzugewinnen und das Interesse am europäischen Bau neu zu wecken" (20.5.). Dabei denkt Delors an die Wahlen zum Europäischen Parlament nächstes Jahr, in die er die Frage nach dem Kommissionspräsidenten hineinziehen will. Davon verspricht er sich Dramatisierung und Personalisierung, denn "Europa braucht ein Gesicht". Das sagte er der Zeit vom gleichen Tag. Auf die Frage nach dem "nächsten Sprung nach vorn" antwortete er: "Die Osterweiterung. Sie zwingt uns, folgendes zu beantworten: Welches Ziel eint uns Europäer? Wie wollen wir dieses Ziel erreichen? Welche demokratischen Strukturen schaffen wir dafür? Kommt die Osterweiterung nicht, dann droht uns eine Art goldene Stagnation: Wir würden fett und bequem und alle großen Herausforderungen nur auf morgen vertagen."