The sinking feeling

Zu Besuch in Restjugoslawien

Nenad Stefanov
 

Unser Mitarbeiter ist in seine Heimat gefahren. Natürlich unterscheiden sich seine Eindrücke von denen Peter Handkes bei der "Reise in ein unbekanntes Land". Drei Jahre sind seit damals vergangen. Das Embargo ist aufgehoben, aber das Land kommt aus der Sackgasse nicht heraus.

Vor einigen Jahren hatte der Film von Milco Mancevski Before the Rain europaweit großen Erfolg (Goldener Löwe etc.) und wurde neben Kusturicas Underground als die ultimative filmische Darstellung von Krise, Zerfall und Krieg im ehemaligen Jugoslawien betrachtet. Eine der drei Geschichten, die in diesem Film erzählt werden, handelt von einem makedonischen Photographen, der nach längerer Arbeit im Ausland (eingeschlossen auch professionelle Ausflüge auf den Kriegsschauplatz in Bosnien) in sein makedonisches Heimatdorf zurückkehrt. Zum Zeitpunkt seiner Rückkehr spitzt sich das ohnehin gespannte Verhältnis zwischen Makedoniern und Albanern bedrohlich zu. Seine Bemühungen, im Dorf zu vermitteln, scheitern an der, wie es uns der Regisseur wohl lehren will, schicksalhaften Kraft ethnischen Hasses. Der Fotograf selbst wird, sich gegen diese Naturkraft stemmend, zum Opfer: von seinen eigenen Verwandten getötet, als er ein albanisches Mädchen vor rachelüsternen Bauern schützen will.

Mancevski suggeriert mit seinen Bildern einen starken Kontrast zwischen säkularem, urbanem Westen und dem Ort, an den sein Held zurückkehrt, ein entlegenes Dorf in den makedonischen Bergen, das nur mit einem schrottreifen Bus von Skopje aus zu erreichen ist. Dort leben die Menschen nach anderen Regeln und Gesetzen, Geschichte ist letztlich eine unendliche Wiederholung des Immergleichen, in vielleicht anderem Gewand, wobei Zusammenstöße zwischen den beiden Völkern immer unausweichlich sein werden...

Doch die Plätze, an die man von den Flughäfen von Skopje oder Sofia oder Belgrad aus gelangen kann, stellen alles andere dar als schaurig-schönes Stammesidyll mit geheimnisvollen, unerklärlichen Bräuchen, Blutrache und zyklisch wiederkehrenden Kämpfen, wie es Mancevski für den westlichen Blick effektvoll inszeniert.

Es bereitet einige Mühe, das Leben in einer solchen Gesellschaft zu beschreiben, immer wieder von neuem anzusetzen, um den gleichen, dauernden Zerstörungsvorgang zu beschreiben, der lediglich immer deutlicher und umfangreicher wird. Zugleich werden der Anfahrtsweg immer länger, die Schwierigkeiten in der Verständigung immer größer, wenn dieses Land einem noch aus anderen Zeiten bekannt ist. Es gelingt kaum, all jenes zu überbrücken, was sich angehäuft hat an Hinnahme von Krieg und Zerstörung im einst gemeinsamen Staat, deren Verdrängung und an Indifferenz gegenüber dem eigenen, persönlichen Ruin.

Die Gespräche - selbst mit oberflächlichen Bekannten <186> dauern immer länger, entbehren längst jeder Höflichkeit, Formalität. Ohne große Einleitung setzt sofort die Klage über die unerträglichen Lebensbedingungen ein, die Perspektivlosigkeit, doch gleichzeitig ist nur eine schwache Anteilnahme an den eigenen Schilderungen zu bemerken. Fast tonlos, als ob es nicht zu ihnen gehörte, wird das Lamento abgespult. Eine Abschiedsformel ist allerdings noch nicht gefunden.

Die Städte in Serbien gleichen zunehmend den Bildern, die man sich im Westen immer schon vom Ostblock machte. In der repräsentativen, stagnierenden Kleinstadt mit all ihren subalternen Figuren scheint sich seit acht Jahren nichts mehr zu bewegen. Ab und an verschwindet nur etwas, ein baufälliges Haus wird abgerissen und die Freifläche als Parkplatz genutzt. Als einziges Ergebnis der bisherigen teilweisen Aufhebung des Embargos, der sich rasant entwickelnden serbischen Privatwirtschaft, drängen sich zwischen den verwahrlosten Plattenbauten schrille, merklich improvisierte Privatboutiquen, zumeist in scheußlichem Trabbi-Türkis oder Himmelblau gehalten, in denen der letzte Kitsch zum Kauf angeboten wird, der nicht einmal in der B-Ebene der Hauptwache Absatz fände. Vor dem Kulturpalast aus den Fünfzigern, zu Ehren der jugoslawisch-bulgarischen Freundschaft errichtet, hängt an den rachitischen Bäumen noch immer der Weihnachtsschmuck. Als einziges renoviertes Gebäude hebt sich die orthodoxe Kirche von der herrschenden Ödnis ab. Ein kleines Detail allerdings, in dem all dies von den Vorurteilsskizzen des gemeinen Balkan abweicht, sind die neben dem neuen Benz des Bürgermeisters vor dem Rathaus geparkten teuren, getunten Sportwagen, die den Gazde (Chef oder besser Jefe) gehören, welche nun in der Stadt das Sagen haben, ehemalige Chauffeure, die sich während des Embargos durchschmuggelnd eine goldene Nase verdienten. So, wie man früher mit einer Mischung aus Unterwürfigkeit und Verachtung und gedämpfter Stimme über Parteibonzen sprach, verhält man sich nun gegenüber den Gazde, den einzigen "Arbeitgebern" in der ganzen Gegend...

Diese "Arbeit" besteht zumeist aus kurzen Tagelöhnereinsätzen, während man in die staatlichen Betriebe der Form halber geht, um sich den Mindestlohn abzuholen oder ein Äquivalent in Lebensmitteln oder Saatgut. Nach der neuesten Abwertung des Dinars liegen die Löhne, wie vor einigen Jahren während des Embargos, für Arbeiter wieder bei etwa einhundert bis zweihundert D-Mark, die Lebensmittelpreise jedoch sind das einzige, was auf europäischen Standard hinweist. Natürlich gibt es dabei in Serbien große lokale Unterschiede, vor allem wenn es um wahltaktisch wichtige Betriebe für die herrschende "sozialistische" Partei geht, wo das Einkommen dreimal so hoch sein kann.

In den letzten sieben Jahren hat sich verstärkt eine Tendenz bemerkbar gemacht, in welcher der Unterschied zwischen Stadt und Land zunehmend verschwindet. Allerdings nicht in die aus einschlägigen Entwicklungstheorien geläufige Richtung. Vom Geruch und der Geräuschkulisse her lassen sich kaum Unterschiede zwischen Dorf und Stadt festmachen. Um einigermaßen über die Runden zu kommen, geht man zur Selbstversorgung über, Vieh und Äcker haben nun den gleichen Stellenwert wie seinerzeit Konsumgüter und Urlaubsreisen.

In den ersten drei Jahren des Krieges, 1991-93, gab es noch ein spontanes Erschrecken vor der sich andeutenden Richtung, in welche sich das Leben der Menschen während des Embargos entwickeln könnte: Benzinmangel, leere Regale in Warenhäusern, eine Inflation, in der das Portemonnaie durch die Plastiktüte ersetzt wurde, während die eigenen Devisenguthaben (von der Arbeit in Deutschland<193>) aufgebraucht wurden, um zu überleben, die beständige Präsenz - wie verzerrt auch immer - des Krieges in Bosnien. In diesen Jahren deutete sich die Perspektivlosigkeit nur an, es gab trotz aller Rationierungen - wie beispielsweise im finsteren Winter 1994/95, als der Strom bis zu zwölf Stunden am Tag abgeschaltet wurde - Reserven, von denen man zehren, mittels derer man sich Normalität vorgaukeln konnte. Es herrschte die irrwitzige Überzeugung, man müsse nur durchhalten, bis die "schlechten Zeiten" vorbei seien, diese überstehen, indem man sich an die Herrschenden so gut wie nur möglich anschmiegt. Es scheint, als seien die Menschen erstarrt, um jede existentielle Regung zu verhindern, die sie in Widerspruch mit dem herrschenden Elend hätte bringen können, was vermeintlich ihr Leiden nur verschlimmern würde. Das Ergebnis dieses Erstarrens - angesichts von Krieg und Zerstörung - der Gesellschaft ist eine Art Verwitterung der Individuen. Jedem, der sich noch dagegen wehren will, wird mit Haß und Sarkasmus begegnet, negiert eine solche Erscheinung doch die Notwendigkeit der eigenen dürftigen Lebensweise.

So hat nun dieser Verelendungsprozeß einen vorläufigen Endpunkt erreicht: Abgeschnitten von den bisherigen Erfahrungen und Wünschen nach einem guten Leben, das in dieser Starre preisgegeben wurde, gafft man nun in etwas Leeres, das für gewöhnlich als Zukunft bezeichnet wird. Das Warten ist jetzt abgeschlossen, die Menschen kümmern sich nun ausschließlich darum, den nächsten Tag zu überstehen. Mehr gibt es nicht.

In der politischen Sphäre manifestiert sich dies in einem definitiven Verlust der Möglichkeit, gesellschaftliche Widersprüche jenseits des mittlerweile perfekt eingeübten nationalistischen Populismus zu reflektieren. Mittlerweile macht eine Generation Abitur, die das alte Jugoslawien nur noch aus den Geschichtsbüchern kennt und für welche die darin postulierte Unmöglichkeit einer multinationalen Gesellschaft angesichts der herrschenden verzerrten Wahrnehmung des Konfliktes auf dem Kosovo schlüssig wird.

Wie weit die serbische Gesellschaft in ihrer Selbstwahrnehmung als Opfer autistisch versunken ist, verdeutlicht die Akzeptanz der neu entfesselten Propaganda angesichts des Referendums gegen eine internationale Beteiligung an einer möglichen Beilegung des Kosovo-Konflikts. Nicht einmal während des Krieges in Bosnien hetzten die staatlichen Medien so offensiv gegen die "internationale Gemeinschaft", den "imperialistischen Westen", oder denunzierten "suspekte, vom Ausland bezahlte Figuren in unserer Hauptstadt", die sich vorsichtig gegen ein solches Referendum ausgesprochen. In minutenlangen "Kommentaren" während der Sondersendungen zur Lage in Kosovo-Metohija, die mit "allen Feinden unseres Volkes, welche die separatistischen und terroristischen Albaner unterstützen", abrechneten, konnte man eine Vorstellung von Umfang und Machart klassischer totalitärer Propagandaformen aus früheren Zeiten bekommen: Allabendlich werden Features über die Kollaboration der Albaner mit dem Dritten Reich und dem faschistischen Italien und die Verfolgung der Serben während des Zweiten Weltkrieges präsentiert, die ununterbrochene zersetzende Agitation der faschistischen Albaner nach dem Krieg et cetera und so fort.

Jeder Riß, der im Wechselspiel zwischen der staatlichen Propaganda aus dem Kroatienkrieg und der eigenen ambivalenten Erfahrung mit der tristen Wirklichkeit - als Rekrut beispielsweise - hat entstehen können, wird durch den neuen Schlamm zugeschüttet, unkenntlich gemacht. Die Reaktion fällt dementsprechend aus: Voller Stolz wird in den Medien "der massenhafte Strom in die Stimmlokale" proklamiert, werden euphorische Bürger ans Mikrofon gezerrt, die verkünden, daß "Serbien sich noch nie vor den Großmächten gebeugt hat, und es auch dieses Mal nicht tun wird". Gehört es ansonsten während Überland-Busfahrten zum guten Ton, das Radio sofort auszuschalten, sobald eine Nachrichtensendung angekündigt wird, oder zumindest einen der beliebten Folklore-Schnulzen-Sender anzupeilen, dreht der Fahrer mit offensichtlichem Genuß die neuesten Berichte zur Lage an der nationalen Abstimmungsfront nur noch lauter auf. Statt mit "Guten Morgen", begrüßt man sich an diesem Tag mit der Frage, ob man schon bei der Abstimmung war. Die Möglichkeit, daß erneut Sanktionen verhängt werden könnten, dieses Mal aber dabei auf überhaupt keine Rücklagen mehr zurückgegriffen werden kann - einmal abgesehen von den Gazde -, hat bei den Gesprächspartnern nicht einmal ein verunsichertes Schulterzucken zur Folge, bewirkt gar keine Reaktion.

Ein Widerspruch zwischen dem eigenen elenden Dasein und der nationalistischen Propaganda und Euphorie kann dabei nicht mehr benannt werden, was eines der niederschmetternden Ergebnisse der Zerstörung der serbischen Gesellschaft darstellt.

Es ist, als könne man in dieser bis zur Unkenntlichkeit entstellten Gesellschaft nichts mehr entdecken, was wenigstens als widerpenstiges Überbleibsel aus alten Tagen in Form eines Witzes, an Verachtung gegenüber der herrschenden Borniertheit und einen Rest von Rationalität erinnerte. Und diese Gesellschaft schien einem doch einmal - wie zwiespältig auch immer - vertraut zu sein.