Zwischengewitter

Unterhaltsames auf der politischen Bühne Rußlands

Erhard Stölting
 

Es gibt bestimmt viele, die den neuen russischen Ministerpräsidenten sympathisch finden. Er ist 35 Jahre alt, sieht aber aus wie 22. Sonst wirkt er, wie er wahrscheinlich ist: hochbegabt, fleißig, mit ausgezeichneten Manieren und einem Anflug von zurückhaltender Ironie, ohne erkennbare Skrupel oder andere Laster, unbedingt loyal gegenüber dem jeweils Mächtigsten. Sergej Kirijenko vermittelt den ganzen Charme eines jung gebliebenen Musterknaben, der seinen Lehrern die Tasche trägt. Seit dem 24. April ist er wirklich russischer Ministerpräsident.

Die Biographie Sergej Kirijenkos paßt zu wichtigen Aspekten der neuesten russischen Veränderungen. Sein Handicap, den jüdischen Vater, minimierte er, indem er den Familiennamen der Mutter annahm. In den Zeiten vor der Perestrojka war das in Rußland nicht unüblich. Kirijenko selbst verheimlicht heute die Gründe seines Namenswechsels nicht.

Als Gorbatschow Generalsekretär wurde, 1985, ging Kirijenko mit einem Prädikatsexamen an die U-Boot-Werft in Nishni Nowgorod, das damals noch Gorki hieß und als sowjetische Rüstungsschmiede eine Ausländern verschlossene Stadt war. Binnen eines Jahres war Kirijenko Vorsitzender der Komsomol-Organisation der Werft. Ein Jahr später Komsomol-Vorsitzender des Gebietes. Auch diese Vergangenheit versteckt Kirijenko nicht. Er sagt heute auch öffentlich, daß er damals überzeugter Kommunist gewesen sei und gerne an jene Zeit zurückdenke.

Vielleicht übertreibt er an dieser Stelle seine Offenheit etwas. Denn die Leitungsorgane des Komsomol bereiteten sich in den achtziger Jahren intensiv auf den Kapitalismus vor. Die Funktionäre hatten auf der einen Seite die Rückendeckung der KPdSU, auf der anderen Seite beste Kontakte in alle Richtungen. Auch der spätere Gouverneur von Nishnij Nowgorod, Boris Nemzow, den Jelzin 1997 als stellvertretenden Ministerpräsidenten nach Moskau holte, erwarb seine ersten politischen Fertigkeiten im örtlichen Komsomol. Hier ließ sich in den Jahren der Perestroika etwas lernen: Wer zu billigen staatlichen Preisen Rohstoffe, Halbfertigwaren oder Autos kaufen kann und sie mit einem vielfachen Aufschlag weiterverkauft, verarmt nicht.

Kirijenko gründete einen Konzern, der Firmen aus dem Baugewerbe, der Industrie, dem Handel und der Landwirtschaft sammelte. Natürlich braucht man einige betriebswirtschaftliche Kenntnisse, die sich Kirijenko zunächst in Management-Kursen von Scientology holte. Er schickte auch seine leitenden Mitarbeiter hin; man wolle doch eine gemeinsame Sprache sprechen. Besorgte Nachfrager konnte er kürzlich mit der Auskunft beruhigen, daß er heute mit Scientology nichts mehr zu tun habe.

Kurz nach dem Putsch gegen Gorbatschow 1991 setzte sich Kirijenko nochmals auf die Schulbank. Er studierte zwei Jahre lang an der Moskauer Finanzakademie, die unter Gorbatschows Berater Abel Aganbegjan eine der progressiven wirtschaftlichen Gedanken- und Kaderschmieden der Schlußphase der Sowjetunion war. Selbstverständlich schloß Kirijenko diese Akademie 1993 glänzend ab mit einer Promotion über die russischen Banken.

Die neuen Kenntnisse halfen ihm beim Aufbau der Bank "Garantija" in Nishni Nowgorod, die einerseits den städtischen Rentenfonds verwaltete und zugleich die Verarbeitung westsibirischen Rohöls finanzierte. Dank innerer Transfers kamen auf diese Weise die Renten in Nishni Nowgorod unter Kirijenko pünktlicher an als sonstwo in Rußland. 1996, kurz bevor er selbst nach Moskau gerufen wurde, ernannte Gouverneur Nemzow Kirijenko, den er bereits aus gemeinsamer Arbeit beim Komsomol gut kannte, zum Direktor von Norsi Oil. 1997 holte Nemzow, der inzwischen Stellvertretender Ministerpräsident war, seinen Schützling Kirijenko als stellvertretenden Energieminister in die Regierung. Drei Monate später war Kirijenko selbst Minister.

Die jungen Liberalen

Seine Biographie weist Kirijenko als einen Vertreter der jungen und cleveren Ökonomen-Generation aus, die das rostige sowjetische Rußland demontierten und energisch zu einer kapitalistischen Großmacht entwickeln wollen, junge Männer, die aus den Wirtschaftshochschulen kamen, sich bereits dort der freien Marktwirtschaft verschrieben, die in die Wirtschaft und in die Politik übergingen und dort einen neuen, nüchternen und fleißigen Managertypus repräsentieren.

Zu ihnen gehörte auch Jelzins erster Ministerpräsident Jegor Gajdar, der 1992 wegen Unpopularität gefeuert wurde. Jetzt soll er das wirtschaftliche Programm Kirijenkos entscheidend mitformuliert haben. Ferner gehört dazu Anatolij Tschubajs, 40 Jahre alt, der als Privatisierungsminister so unpopulär wurde, daß Jelzin ihn 1996 feuerte. 1997 organisierte Tschubajs Jelzins präsidialen Wahlkampf und besorgte bei den neuen großen Financiers das dafür nötige Geld. Daraufhin räumte er die Präsidialverwaltung auf und wurde danach stellvertretender Ministerpräsident mit der Zuständigkeit für Finanzen. Im März ließ er sich wieder feuern. Er braucht sich nicht zu sorgen. Manager mit Fähigkeiten und Verbindungen wie er werden gesucht; er hält sich die Rückkehroption in den Kreml offen. Tschubajs war es, der Boris Nemzow, 37 Jahre, nach Moskau geholt hat. Nemzow hatte als junger Gouverneur Nishni Nowgorod zu einer kapitalistischen Musterenklave in Rußland gemacht.

Trotz der Entlassung von Tschubajs scheint die neue Regierung den jungen liberalen Wölfen noch mehr Spielraum zu eröffnen. So wurde der vierzigjährige Viktor Christenko, ein Schützling von Tschubajs, zum stellvertretenden Ministerpräsidenten. Als solcher ist er zuständig für die politisch sehr heiklen Transferleistungen zwischen Moskau und den Provinzen. Vor seinem Ruf nach Moskau war er stellvertretender Gouverneur in Tscheljabinsk und dort zuständig für Finanzen. Boris Nemzow rückte wieder in seine alte Stellung als stellvertretender Ministerpräsident ein und ist als solcher weiterhin für Energie, Gas und Öl zuständig. Finanzminister wurde wieder der 34jährige Michail Sadornow. Er hatte die oppositionelle, aber liberale "Jabloko"-Partei von Jawlinskij verlassen, als er sich im November 1997 zum Finanzminister ernennen ließ.

Die politischen Schlüsselministerien hingegen gingen an Politiker, die von ihrem Habitus her eher in sowjetischen Traditionen stehen. Jewgenij Primakow bleibt wie schon seit 1996 Außenminister. Er vertritt das Konzept einer multipolaren Welt, in der Rußland Großmacht bleiben soll. Sergej Stepaschin wird neuer Innenminister. Anders als sein Vorgänger Kulikow gehört er nicht zu den Scharfmachern; als Geheimdienstchef hat er allerdings im Tschetschenienkrieg keine rühmliche Rolle gespielt. Verteidigungsminister bleibt Igor Sergejew, der einzige lebende Marschall Rußlands. Er soll die Streitkräfte mit geringen Finanzmitteln reformieren.

Die neue Regierung ähnelt der alten, aber mit einer wichtigen Spezifizierung, die sich an der Art, wie sie zustande kam, am besten erläutern läßt.

Ein Technokrat bei Hofe

Die Vorbereitungen waren geheimgehalten worden, so kam das Ereignis als Überraschung. Am 23. März feuerte Präsident Jelzin seine ganze Regierung mitsamt ihrem Ministerpräsidenten Viktor Tschernomyrdin. Die Begründung war dürr: Die Regierung sei "leider" mit einer Reihe wichtiger Fragen nicht fertig geworden. Viel mehr Kritik ist bis heute nicht nachgereicht worden.

Daß Jelzin sich seiner engsten und loyalsten Vertrauten mit einem Fußtritt entledigt, wenn es ihm nützlich scheint, gehört zu seinem gewohnten Herrschaftsstil. Jelzin führt immer wieder anschaulich vor, daß alle in seiner Umgebung nur von seiner Huld abhängig sind. Und wie an jedem Zarenhof drängen sich immer wieder viele in die Position eines Günstlings.

Tschernomyrdin hatte offenbar den Fehler begangen, sich im Zentrum der Macht zu sicher zu fühlen und seine Position als Zweiter im Staate als echte Herrschaftsstellung mißzuverstehen. Im Februar hatte Jelzin drei Minister gefeuert: Wieder einmal waren in erheblichem Umfang Löhne nicht ausgezahlt worden. Tschernomyrdin hatte der Personalpolitik des Präsidenten öffentlich widersprochen und das unsachliche "Durchrütteln" der Apparate mißbilligt. Jelzin zog sich daraufhin für zehn Tage mit einer schweren Erkältung zurück, während Tschernomyrdin bei einem Amerikabesuch glaubte, Punkte sammeln zu können. Er wurde vielfach bereits als präsumtiver Nachfolger Jelzins angesehen.

Tatsächlich mußte er ein wenig Selbständigkeit zeigen; schließlich wollte er in den Wahlen 2000 als Nachfolger Jelzins antreten. Sicherlich war es auch falsch, daß er sich und seiner Regierung einige wirtschaftliche Erfolge zuschrieb - etwa daß die Inflationsrate im Februar auf 0,9 Prozent gesunken war, der Rubel also relativ stabil geworden war, daß die Gold- und Devisenreserven auf 16 Milliarden Dollar gestiegen waren, daß der Außenhandel Überschüsse brachte, daß 43 Prozent mehr Steuern eingenommen worden waren, daß die Industrieproduktion um 2 und das Bruttoinlandsprodukt um 0,4 Prozent gestiegen waren und so fort. Der Ruhm gebührt immer dem Chef.

Daß die normale Bevölkerung von einem Aufschwung wenig spürte, kann eines der Motive zu Jelzins Aktion gewesen sein. Es gehört seit jeher zu seinem Stil, sich von den Tagesentscheidungen fern zu halten, um dann immer wieder demonstrativ als Anwalt der Beraubten und Gedemütigten gegen seine Bojaren vorzugehen.

Was für ein Stil heute bei Hofe erwünscht ist, demonstrierte Kirijenko, der in dieser Hinsicht für seine neue Position viel besser qualifiziert ist, als es Tschernomyrdin je war. Zunächst ist Kirijenko keiner der großen Fraktionen verbunden, wie Tschernomyrdin es seinem alten Unternehmen Gasprom und den zu neuen Wirtschaftskapitänen gewandelten sowjetischen Wirtschaftsführern war. Kirijenko wird in dieser Hinsicht in keine Loyalitätskonflikte geraten.

In seiner Stellung zum Parlament, der Duma, wies Kirijenko vor und nach der Wahl immer wieder darauf hin, daß er dem Präsidenten und sonst niemandem verpflichtet sei. Auch über die Regierungsbildung entscheide nicht er. Er schlage dem Präsidenten für jedes Amt mehrere Kandidaten vor, der Präsident entscheide. Es könne auch sein, daß er alle vorgeschlagenen Kandidaten ablehne.

Das bedeutet aber nicht, daß Kirijenko keine eigenen Kriterien hätte. Er bewegt sich ganz offensichtlich in den Denkweisen jener jungen Gruppe von Reformern, der er angehört, und ist fähig, sie auch öffentlich kompromißlos zu vertreten. Seine Bereitschaft, die Ausgaben für Bildung, Gesundheit, Armee und Soziales weiter zu kürzen, hat er der Presse schon kundgetan. Er ist nicht Anwalt der Armen, sondern einer funktionierenden wirtschaftlichen Maschinerie. Seine Unterwürfigkeit gegenüber Jelzin bedeutet nicht Ineffizienz. Sie hindert ihn nicht einmal daran, sich auch anderen Personen gegenüber aufmerksam und freundlich zu verhalten. Er ist nach außen hin so wenig Machtmensch, daß ihm - anders als Tschubajs oder Nemzow - prinzliche Allüren fremd sind.

Gerade weil die kleinen Eitelkeiten zu fehlen scheinen, wird an Kirijenko der Typus des Technokraten besonders deutlich. Für den sind die vielfältigen gesellschaftlichen Interessen danach zu beurteilen, wieweit sie den Aufbau einer gut funktionierenden Wirtschaft behindern oder fördern. Darüber hinausgehende normative Entscheidungen sind Ideologie. Der Parlamentarismus ist in dieser Denkfigur nicht nur deswegen lästig, weil das russische Parlament zu albern ist; er wäre unter allen Umständen überflüssig. Die Bevölkerung hingegen interessiert als Gesamtheit von Konsumenten. Wer nicht Konsument ist, ist überflüssig. Entsprechend vertrat Kirijenko von Anfang an die Position, daß einziges Kriterium für die Auswahl neuer Minister professionelle Qualität sei. Ferner gehe es ihm um strikte Finanzdisziplin, einen realistischen Staatshaushalt und eine starke Staatskontrolle.

Diese Haltung verrät Professionalität, aber keine demokratische Leidenschaft. Aber die treibt auch den Präsidenten nicht an. Die sozialen und wirtschaftlichen Sehnsüchte und Kümmernisse der Bevölkerung nutzen die Kommunisten, Nationalisten und sonstige antidemokratische Radikale zum Stimmenfang. So verstärken die populären Stimmungen die technokratischen Neigungen der jungen Liberalen. In Ihren Augen geht momentan die Gefahr des Irrationalismus von der Bevölkerung und von den existierenden demokratischen Strukturen aus. Beide kann man nicht abschaffen, muß sie aber in Schranken halten und entschärfen.

Diese Distanz zur Demokratie ist nicht mit jener Jelzins deckungsgleich. Jelzin ist kein Technokrat. Aber es ist auch schwer denkbar, wie Technokraten ohne eine Art Jelzin regieren könnten.

Theaterdonner

Kaum hatte Jelzin die Regierung Tschernomyrdin gefeuert, brach der Vorsitzende des liberalen "Jabloko", Grigorij Jawlinskij, einen Deutschlandbesuch ab und eilte nach Moskau. Aber Jelzin ernannte dann doch nicht ihn, sondern Kirijenko zum Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung. Damit war der bis zu seiner Bestätigung durch das Parlament bereits Amtierender Ministerpräsident und Ersatz für einen möglicherweise handlungsunfähig gewordenen Präsidenten.

Der Verfassung nach konnte die Duma den Kandidaten als neuen Ministerpräsidenten mit absoluter Mehrheit bestätigen oder ablehnen. Lehnte sie ihn ab, konnte der Präsident einen neuen oder den gleichen Kandidaten wieder nominieren. Verwarf das Parlament den gleichen Kandidaten zum dritten Mal, mußte der Präsident das Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen. Genau auf diesen Mechanismus setzte Jelzin, um dem Parlament wieder einmal zu zeigen, wer das Sagen hat. Die zweite Kammer, der Föderationsrat, ist keine eigenständige Größe; sie tut, was Jelzin will.

Wer gegen Kirijenko war, betonte seine Unerfahrenheit. Das waren zunächst die Kommunisten (139 Mandate) und ihre Verbündeten, vor allem die Gruppe -Volksmacht" des ehemaligen sowjetischen Ministerpräsidenten Ryshkow (44 Mandate) und die Gruppe der Agrarier (35 Mandate). Strikt gegen Kirijenko war auch die Gruppe "Jabloko" des liberalen Reformers Jawlinskij. Unbehagen weckte Jelzins Vorgehen zweifellos bei allen. Unter freieren Bedingungen wäre Kirijenko glatt abgelehnt worden.

Eigentlich hätte die Abstimmung über Kirijenko vierzehn Tage nach der Nominierung, also am 3. April, erfolgen müssen. Aber Jelzin wollte seinem Schützling noch etwas Zeit geben. So zog er die Kandidatur erst einmal wieder zurück und brachte sie sofort wieder ein. Formell war dem geltenden Recht damit Genüge getan. So fand die erste Abstimmung am 10. April statt. Vierzig Minuten lang stellte Kirijenko sein Wirtschaftsprogramm vor, das mit einigen liberaleren Akzenten im wesentlichen die Politik Tschernomyrdins fortsetzen wollte. 226 Stimmen von 450 hätte Kirijenko benötigt. Erwartungsgemäß fiel Kirijenko erst einmal durch. Jelzin meldete sofort Kirijenkos erneute Kandidatur an.

Die zweite Abstimmung fand am 17. April statt. Die Szene wurde unübersichtlicher. Entschieden gegen Kirijenko waren nun noch die Kommunisten und "Jabloko". Die anderen wollten heute dies, morgen jenes. Die rechtsextremen "Liberaldemokraten" Shirinowskijs, die erst für Kirijenko stimmen sollten, wollten nun gegen ihn stimmen; er habe ihnen nicht die gewünschten zwei oder drei Ministerien angeboten. Tschernomyrdins Gruppe "Unser Haus Rußland", die ursprünglich für Kirijenko stimmen wollte, war sich nun unsicher (65 Mandate). Die "Russischen Regionen" (42 Mandate) wurden ebenfalls unsicher.

Jelzin traf sich inzwischen mit dem kommunistischen Vorsitzenden der Duma, Gennadij Selesnjow, einem sehr umgänglichen Politiker. Nach der Unterredung rief Selesnjow zur Stimmabgabe für Kirijenko auf: Das Schicksal Rußlands sollte den Abgeordneten wichtiger sein als das Kirijenkos. Man solle die Existenz der Duma nicht aufs Spiel setzen. Jelzin seinerseits kündigte an, er habe den Chef des Präsidentenamtes beauftragt, "Probleme der Abgeordneten" zu lösen.

Kirijenko selbst schlug Selesnjow und dem Vorsitzenden des Föderationsrates Strojew in einem Brief die Bildung einer Dreierkommission vor aus Vertretern der Regierung, der Duma und des Föderationsrates. Sie sollte gemeinsame Lösungen in der Industriepolitik, der Sozialpolitik, dem Staatshaushalt und dem Fiskus erarbeiten. Der Vorschlag hätte zur Versachlichung der Diskussionen beitragen können. Er zeigte aber auch, für wie überflüssig das russische Parlament gehalten wird.

Die Kommunisten Sjuganows setzten am Mittwoch vor der Wahl im Rat der Duma, dem die Chefs aller Fraktionen angehören, eine Änderung der Geschäftsordnung durch. Von nun an waren offene namentliche Abstimmungen möglich: Über Kirijenko sollte öffentlich und namentlich befunden werden.

Da das Abstimmungsverhalten nun von den Fraktionsvorsitzenden kontrolliert wurde, waren die Ergebnisse noch niederschmetternder für Kirijenko. Diesmal stimmten nur noch 115 Abgeordnete für ihn, 273 gegen ihn, elf enthielten sich, 51 stimmten nicht ab.

Jelzin und Kirijenko nahmen das Ergebnis gelassen hin. Auf die dritte Runde kam es an. Die ersten beiden waren eher Meinungsbilder gewesen.

Wie nach einer Auflösung der Duma bis zu den Neuwahlen zu regieren wäre, darüber gab es mehrere Interpretationen. Die machtgestützte und damit gültige war sicherlich die Jelzins. Da es kein Parlament mehr geben würde, könnte er Kirijenko einfach ernennen. Die ganze Abstimmerei war also ohnehin eine Farce. Die Parlamentsauflösung würde es ihm möglich machen, bis zum Herbst allein per Dekret zu regieren.

Zumindest seiner eigenen Interpretation nach hätte er dann auch das Wahlgesetz in seinem Sinne ändern können. Er hätte ein reines Mehrheitswahlrecht wie in England eingeführt. Zugleich hätte er die Wahllisten verboten. Statt der größeren Eindeutigkeit auf Kosten der Repräsentanz hätte er damit vor allem Chaos produziert, das er zu seinen Gunsten auszunutzen hoffte. Das Mehrheitswahlrecht ist auch deshalb ein Anliegen Jelzins, weil allein die Kommunisten über eine landesweit intakte Parteiorganisation verfügen.

Ohnehin gibt es noch andere Gesetzesfinessen in Rußland. Nach dem herrschenden Wahlrecht muß jede Partei, die an Wahlen teilnehmen will, ihre Statuten ein Jahr vorher registrieren lassen. Bei Neuwahlen im Herbst wäre dazu keine Zeit mehr gewesen. Keine der bislang in der Duma vertretenen Parteien hätte sich also zur Wahl stellen können.

In einem Brief an jeden Abgeordneten vor der dritten Abstimmung ließ Jelzin aber noch wichtigere Argumente vor Augen führen. Im Falle der Auflösung der Duma hätten sie innerhalb eines Monats ihre Moskauer Dienstwohnung zu räumen und ihre Dienstwagen zurückzugeben. Der Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung entfiele. Sofort hingegen seien Büroräume zu räumen und Helfer zu entlassen. Die Tickets für den Rückflug seien allerdings umsonst, und jeder habe ein Anrecht auf zehn Tonnen kostenlosen Umzug nach Hause. Eine Abfindung oder Überbrückungsgeld sei nicht vorgesehen.

Die Drohung saß. Kaum einer der Abgeordneten konnte seiner Wiederwahl sicher sein, und die materielle Zurückstufung war herb. Es war schlicht unwahrscheinlich, daß Kirijenko das dritte Mal durchfallen würde.

Noch am Morgen vor der Abstimmung wurde rasch die geheime Abstimmung wieder vorgeschrieben, so daß alle Abgeordneten ohne Kontrolle durch ihre Fraktionsspitzen frei nach ihrem Gewissen entscheiden konnten. Für die Kommunisten war das besonders wichtig. Sjuganow hatte bis zum Schluß lauthals auf einer Ablehnung Kirijenkos bestanden, als seine Verbündeten und der sozialdemokratische Flügel der Kommunistischen Partei unter Selesnjow schon längst umgeschwenkt waren. Auf diese Weise konnte er sich gegenüber den Unbeugsamen als Unbeugsamer empfehlen. Das war vor allem gegenüber der erbitterten Parteibasis wichtig, die für die materiellen Sorgen der Abgeordneten wenig Mitgefühl aufbrachte. Die geheime Abstimmung ermöglichte es aber den meisten kommunistischen Abgeordneten, dennoch für Kirijenko und damit für ihre eigenen Privilegien zu stimmen. Und niemand konnte wissen, wer die Opportunisten waren.

Wenn es ein Doppelspiel Sjuganows gewesen sein sollte, dann war es geschickt. Auch der größte Teil der kommunistischen Abgeordneten stimmte nun geheim für Kirijenkow und rettete mit der Duma seine eigenen Privilegien. Sjuganow selbst blieb bis zum Schluß unerbittlich. Er konnte in den Augen der Parteibasis bestehen, die lebensfrohen Abgeordneten würden bald vergessen sein. Wirklich beinhart blieb nur die Ablehnung von Jawlinskijs liberaler Jabloko-Fraktion.

So ging die Abstimmung diesmal problemlos vonstatten. 251 stimmten für Kirijenko, 25 gegen ihn, 174 gaben keine Stimmzettel ab. Jelzin hatte sich durchgesetzt und das Parlament als einen Haufen prinzipienloser Privilegienempfänger vorgeführt. Kirijenko in seiner sachlichen Art freute sich auf die "weitere gemeinsame Arbeit" mit den Abgeordneten. Jelzin sah einen "Sieg der Vernunft über die Emotionen".

Das Lächeln von Alain Delon

Der Regierungsstil Jelzins, seine Instrumentalisierung der Verfassung, seine Verachtung demokratischer Formen, seine Illoyalität gegenüber seinen engsten Mitarbeitern waren schon früher bekannt. Und dennoch ist der Übergang von Tschernomyrdin zu Kirijenko nicht ganz bedeutungslos. Über Jahre hin hatte Tschernomyrdin loyal zu Jelzin gestanden. Erst zum Schluß, in der Hoffnung, sich für den Präsidentschaftswahlkampf im Jahr 2000 zu positionieren, hatte er ganz vorsichtige Distanzierungen gewagt. Aber niemand hätte ihm die Fähigkeit zu einem eigenen Profil abgesprochen.

Die Umstände von Kirijenkos Wahl und dessen Selbstdarstellung zeigen, daß der neue Ministerpräsident gar nicht erst versucht, etwas anderes zu sein als ein guter Repräsentant des Chefs. Wenn er nur das ist, wird Jelzin auch etwas mehr an der Regierungsverantwortung tragen, auch wenn er von Sachfragen wenig versteht. Das periodische demonstrative Abstrafen der Hofschranzen, um Mängel oder Schwierigkeiten an ihnen zu personalisieren, wird schwerer.

Für Jelzin spricht, daß es gegenwärtig keine eigenständigen Kräfte in der russischen Gesellschaft gibt, die ihm gewachsen wären. Die einzige funktionierende gesamtrussische Partei sind die Kommunisten. Die Schwächung des Parteiwesens bedeutet für Jelzin eine Stärkung der eigenen Position. Sie bedingt aber auch eine weitgehende Machtübernahme der Exekutive. Der Rausschmiß Tschernomyrdins und der artifizielle Konflikt um Kirijenko haben vorgeführt, wie zahnlos und überflüssig das russische Parlament de facto ist.

Gestützt wird dies durch eine zweite Entwicklung, die eine Desintegration des russischen Staates vorbereiten könnte. In den meisten Regionen haben sich ganz nach Moskauer Muster lokale Chefs und Machtkoalitionen etabliert, die ihre eigenen regionalen Parteien gegründet haben. Damit setzt eine regionale Fragmentierung ein, die durch die gesamtstaatlichen Kräfte wenig relativiert wird. Für Jelzin und seine Verwaltung ist das kurzfristig eine günstige Konstellation. Aus den Regionen werden keine erfolgversprechenden gesamtstaatlichen Herausforderungen auftauchen. Zugleich aber schwinden die Bindekräfte des Ganzen.

Allerdings kann in den Regionen noch Überraschendes geschehen. Bei den Gouverneurswahlen in Krasnojarsk etwa konnte sich der ehemalige General und Präsidentschaftsbewerber Lebed gegen den Favoriten des Kreml, Subow, durchsetzen. Dabei war Subow Einheimischer und Lebed nicht. Subow hatte die Unterstützung des eigens angereisten Moskauer Oberbürgermeisters Lushkow, die Hilfe der lokalen Wirtschaftselite und finanzielle Zuwendungen aus Moskau. Lebed hatte auf seiner Seite die Presseorgane des Finanzmagnaten Beresowskij und das Lächeln seines Freundes Alain Delon, der eigens nach Sibirien geeilt war.

Das Krasnojarsker Gebiet, das siebenmal so groß ist wie Deutschland, hat drei Millionen ziemlich umweltresistente Einwohner, weltmarktfähige Minimallöhne und unermeßliche Bodenschätze: unter anderem Aluminium, Kobalt, Platin. Hier betreibt die Firma Norilsk Nikel den größten Nickelabbau der Welt. Die Region ist ein armes ökologisches Katastrophengebiet. Hier lassen sich Wahlen mit der Klage gewinnen, daß Moskau alles nehme und nichts gebe.

Die allein auf Jelzin zugeschnittenen Strukturen sind zweischneidig. Denn Jelzin beherrscht den zentralen Apparat, nicht aber das politische und wirtschaftliche Leben. Das gilt für Moskau, wo die alten Fraktionen weiterhin um Ressourcen, Gewinne und Monopole kämpfen, Absprachen treffen und Gesetze mal nutzen, mal mißachten. Vergleichbares gilt in den Regionen, deren politisches und wirtschaftliches Leben sich verselbständigt.

Schlußstein des Ganzen ist noch immer Jelzin selbst, von dem der ganze präsidiale Apparat samt seiner Klienten abhängt und nicht schlecht lebt. Wenn es die Gesundheit zuläßt, wird Jelzin, entgegen dem Wortlaut der Verfassung oder gemäß einer eigenwilligen Interpretation, sich zum dritten Male zum Präsidenten wählen lassen. Seine potentiellen Konkurrenten hat er immer weggebissen, zuletzt Tschernomyrdin.

Dem freundlichen und strebsamen Kirijenko kann das alles egal sein. Wird auch er gefeuert oder stirbt Jelzin vorzeitig, kehrt er nach Nishnij Nowgorod zurück, um wieder großes Geld zu verdienen