Vor der Destabilisierung?

Die ökonomischen und politischen Auswirkungen der Asienkrise auf China

Thomas Heberer

Das gegenwärtige China wird durch vier Trends geprägt: Eine erfolgreiche Entwicklung seit Ende der 70er Jahre ("Reformpolitik"). Krisenhafte Erscheinungen im Zuge der Asienkrise (steigende Arbeitslosigkeit, sich abschwächendes Wachstum, Rückgang der Exporte und Auslandsinvestitionen, Überschuldung der Banken und Staatsbetriebe). Der chinesische Ministerpräsident Zhu Rongji sprach in seinem Tätigkeitsbericht der Regierung an den Nationalen Volkskongreß (Parlament) im April von einer "düsteren Wirtschaftslage". Einem rapiden Prozeß sozialer und damit verbundener auch gradueller politischer Veränderung. Und einem Demokratisierungsdiskurs, nicht auf der Ebene der "Dissidenten", sondern parteiintern und im akademischen Bereich.

Der Beitrag unseres Autors befaßt sich in erster Linie mit den Punkten drei und vier, einerseits, um die ökonomischen Schwierigkeiten zu verdeutlichen, vor denen China gegenwärtig steht, andererseits, um das einseitige China-Bild in den deutschen Medien (Stichwort: Zunahme von Repression) etwas zu relativieren.

 

Krisenphänomene

Es ist noch nicht lange her, da galt China als Bedrohung für die politische Stabilität der Region Ost- und Südostasien. Danach hieß es, es sei der Stabilitätsgarant dort. So rasch können sich Bewertungen im ostasiatischen Raum ändern. Ist China nun von der Asienkrise betroffen? Diese Frage wurde noch Ende letzten Jahres durchaus kontrovers diskutiert. Der in Hongkong erscheinende Far Eastern Economic Review schrieb im Oktober 1998, China sei der Stabilitätspfeiler in der Region. Der Economist hingegen erklärte gleichzeitig, die Gefahr eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs Chinas wachse von Tag zu Tag. Auch in China selbst wurde kontrovers diskutiert. Während Teile der chinesischen Führung China als "Hort der Stabilität in der Region" bezeichneten, erklärte einer der renommiertesten Ökonomen, Dong Fureng, im Herbst letzten Jahres: "Seit Oktober 1997 stagniert die chinesische Wirtschaft nahezu. Es gibt erhebliche Überproduktion, Arbeiter werden in großem Umfang freigesetzt, die Probleme im Immobilien- und Finanzsektor sowie auf dem Aktienmarkt sind gewaltig."

 

Welche Faktoren sprechen für oder gegen eine Krise?

Zunächst zu den Faktoren, die denen in den Krisenländern Ost- und Südostasien ähneln:

  1. Die Problematik im Finanzsektor

China besitzt einen stark regulierten Finanzsektor, mit einer engen Verflechtung von Staat, Banken und Staatsbetrieben. Der Bankensektor ist mit "notleidenden" Krediten erheblich belastet. Nach internationalen Kriterien sind die vier größten Geschäftsbanken bankrott, unter anderem aufgrund des hohen Kreditvolumens im Immobiliensektor, das von den Schuldnern nicht mehr bedient werden kann, und - wie gesagt - aufgrund notleidender Kredite in Höhe von 270 bis 360 Milliarden US-Dollar (das sind 25% des gesamten Kreditvolumens). Ein Fünftel der Kredite gilt als verloren. Die Kreditaußenstände haben sich seit 1978 vervierzigfacht (auf 906 Mrd. US$), dies entspricht etwa Chinas derzeitigem Bruttoinlandsprodukt. Ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts müßte aufgewandt werden zur Sanierung aller notleidenden Kredite. Zudem gibt es keine marktgerechte Kreditvergabe: Kredite dienen vielmehr vornehmlich der Stützung maroder und unrentabler Staatsunternehmen. Außerdem existiert kein Wettbewerb im Bankensektor, gleichzeitig unterliegen die Tätigkeiten der ausländischen Banken einer Beschränkung.

 

2. Rückgang der Exporte im ersten Halbjahr 1998

1997 hatte China ein Exportwachstum von etwa 21 Prozent, 1998 nur noch 0,6 Prozent. Entfiel noch 1997 ein Drittel des Wirtschaftswachstums auf die Exportindustrie, so waren es 1998 nur noch 0,1 Prozent. Im ersten Quartal 1999 gingen die Exporte um 7 Prozent zurück. Dem entsprach die Abnahme der Inlandsnachfrage in den Ländern Ost- und Südostasiens, vor allem in Japan und Hongkong, sowie die Verteuerung der chinesischen Produkte durch die Abwertung der Währungen in den umliegenden Ländern. Betroffen von der Krise in Ost- und Südostasien sind neben der gesamten Exportwirtschaft primär süd- und südwestchinesische Provinzen mit starkem Südostasienbezug wie Guangdong, Yunnan oder Guangxi.

 

3. Rückgang der Direktinvestitionen

Das Gesamtvolumen an ausländischem Kapital lag 1998 bei rund 59 Milliarden US-Dollar. Dies waren 7,9 Prozent weniger als 1997. Besonders drastisch waren die Rückgänge aus den bisherigen Hauptinvestitionsländern in Südost- und Ostasien.

 

4. Rückgang der privaten Inlandsinvestitionen

1998 gab es kaum noch private Investitionen; zuvor hatten sie noch 30 bis 40 Prozent der Gesamtinvestitionen Chinas ausgemacht.

 

5. Deflation

Im ersten Halbjahr 1998 waren die Fabrikpreise um fast 8 Prozent gesunken. Durch Überangebot und Preisabsenkungen gehen die Gewinne in US-Dollar drastisch zurück. 31 Prozent der Industrieproduktion wurde 1998 auf Halde produziert: als Lagerbestände.

 

6. Immobilienspekulation und -überangebot

 

7. Verschuldung der Staatsbetriebe

Rund zwei Drittel der Staatsbetriebe sollen mit Verlusten arbeiten, wobei die Verlustsumme von Jahr zu Jahr steigt. 1998 nahmen die Verluste um 23,1 Prozent auf 102,3 Milliarden Yuan (ca. 22 Mrd. DM) zu. Die chinesischen Staatsbetriebe sind damit stärker verschuldet als die südkoreanischen chaebols.

Allerdings sind genaue Berechnungen und Prognosen schwierig, weil die chinesischen Statistiken nicht sehr zuverlässig sind.

 

Unterschiede

Kommen wir nun zu den Unterschieden gegenüber den anderen krisengeschüttelten Volkswirtschaften der Region:

1. Da die Kapitalverkehrstransaktionen nach wie vor staatlicher Kontrolle unterliegen, sind keine spekulativen Angriffe gegen den Renminbi möglich. Währungspolitisch ist es bislang zwar zu keiner Abwertung gekommen, China beschritt allerdings den Weg der indirekten Abwertung: So ist der im Exportbereich berechnete Wechselkurs (9 Yuan je US-$) günstiger als der offizielle, der für Importe gilt (8,3 Yuan je US-$). Importe werden von daher teurer veranschlagt, Exporte preisgünstiger. Auch steuerlich wurden chinesischen Exporteuren Vorteile eingeräumt. Zugleich erhalten ausländische Käufer "Mengenrabatte" in erheblichem Umfang, um neue Aufträge einzufahren.

2. Devisenreserven in Höhe von (angeblich) 140 Milliarden US-Dollar bieten umfangreiche Möglichkeiten zur Stützung des Wechselkurses. China muß nicht im Ausland Geld leihen wie andere Länder der Region. Importe sind derzeit für zwölf Monate devisenmäßig abgedeckt.

3. Der Anteil kurzfristiger Auslandsverschuldungen ist gering: Sie betrugen Ende 1998 etwa 118 Milliarden US-Dollar. Bei 88,5 Prozent davon handelte es sich um mittel- oder langfristige Kredite. Die Verschuldung ist durch Devisenreserven ausreichend abgedeckt.

4. Bankenzusammenbrüche sind unwahrscheinlich, solange der Staat selbst nicht bankrott ist. Die Zentralbank rettet in der Regel die Staatsbanken, auch wenn die Zentralregierung kürzlich zwei kleinere Banken in Konkurs gehen ließ.

5. Es existiert eine steuerungsfähige Zentrale. So wurden, zum Abfedern der Krise, wieder Planungsmechanismen installiert, wie die Vergabe von Wachstumsraten für Provinzen oder Preiskontrollen gegen Deflation.

6. Im Außenhandel fanden Umstrukturierungen statt: Der Anteil Ost- und Südostasiens, der bis 1997 etwa 50 Prozent am gesamten Außenhandel ausmachte, sank gegenüber dem Anteil der westlichen Industriestaaten (1997: 33%). Während Exporte in die ASEAN-Staaten, nach Japan und Südkorea zurückgingen, hatte China eine erhebliche Zunahme der Exporte in andere Weltregionen zu verzeichnen (Afrika +44%, Lateinamerika +33%, Europäische Union +25%, USA +17,8%).

 

Die Folgen krisenhafter Phänomene

Die wichtigsten Folgeerscheinungen der Krise sind: 1. Verzögerung geplanter Reformen, wie Privatisierung von Staatsunternehmen, Schließung unrentabler Staatsbetriebe sowie Aussetzung der Wohnungsreform.2. Zunahme der Arbeitslosigkeit, die offiziell 3,5 Prozent beträgt, tatsächlich aber bei 12 bis 15 Prozent liegen dürfte. Viele Staatsunternehmen sehen sich überdies nicht mehr in der Lage, Löhne und Renten an ihre Beschäftigten und Pensionäre zu zahlen. Jedes Prozent geringeren Wachstums führt zu einem Anstieg der Arbeitslosenzahl um schätzungsweise fünf Mio. Personen. Ende 1998 soll die städtische Arbeitslosenzahl bei etwa 18 Millionen Erwerbslosen gelegen haben. Damit verbunden ist ein enormes Anwachsen des Protestpotentials unter der Arbeiterschaft.3. Rückgang des Tourismus, vor allem aus Ost- und Südostasien.

 

Die politische Dimension

Doch über die ökonomischen Schwierigkeiten hinaus hat die Asienkrise noch ganz andere Folgen. Zunächst wurde sie einseitig als rein ökonomische Krise rezipiert. Die im Westen weitgehend ökonomistisch geführte Debatte über diese Krise übersah daher deren politische Dimension, also den politischen Push-Effekt. Zugleich hieß es im Westen, daß das "asiatische Politikmodell" gescheitert sei. Darüber, daß nun auch die Chance zur Schaffung eines neuen "Modells" bestünde, wurde dagegen kaum gesprochen. Die politischen Veränderungen in Indonesien (Sturz Suhartos) und in Thailand (Verabschiedung einer neuen, demokratischeren Verfassung) sowie die regionale Diskussion über die politischen Ursachen der Asienkrise (Korruption, mangelnde demokratische Kontrolle und Transparenz) haben in fast allen Ländern der Region eine Auseinandersetzung über die politischen Ursachen der Krise und damit über die Zukunft der politischen Strukturen und Systeme der Region Ost- und Südostasien zumindest begünstigt. Dies mag in Indonesien und mit dem Sturz Suhartos am deutlichsten sein, betrifft aber ebenso die anderen Länder der Region, eben auch die Volksrepublik China.

Gerade in China findet in den intellektuellen Journalen und in Publikationen zunehmend eine Auseinandersetzung über Fragen der künftigen politischen Strukturen, über Demokratisierung, freie Wahlen, Gewaltenteilung und Partizipation der Bevölkerung statt. Zwar gab es solche Debatten seit den achtziger Jahren, sie haben durch die "Asienkrise" allerdings eine neue Qualität angenommen. Und hierzu hat die Auseinandersetzung über die sozialen und politischen Ursachen dieser Krise ebenso beigetragen wie die Krise in Indonesien und der Demokratisierungsschub in Südkorea und Thailand. Vor allem der plötzliche Sturz Suhartos, der auf die Unfähigkeit zur Reformierung des politischen Systems und dessen Involvierung in Nepotismus und Korruption zurückgeführt wird, haben zu einem Nachdenken auch in der chinesischen Führung geführt. Aus der Asienkrise, aber auch aus dem in den letzten Jahren immer deutlicher gewordenen destabilisierenden Phänomen der Korruption, die zunehmend als systemimmanent begriffen wird und in allen Meinungsumfragen Hauptfaktor sozialer Unzufriedenheit ist, hat die Parteiführung den Schluß gezogen, daß eine rationale und effiziente ökonomische Entwicklung begleitende politische Reformen, Rechtssicherheit und rechtliche Institutionalisierung erfordert. Auf ein solches Nachdenken weisen nicht nur die Liberalisierung der Diskussion über politische Reformen, die Tolerierung von Publikationen, die sich kritisch mit den politischen Strukturen Chinas auseinandersetzen, sowie Aufträge an chinesische think-tanks, sich mit alternativen politischen Konzepten und Demokratiemodellen zu beschäftigen, hin.

Dong Fureng, einer der führenden Reformökonomen, schrieb Ende 1998, das eigentliche Hindernis für die Reform sei die Regierung, und Demokratie sei "ein notwendiges Erfordernis der Marktwirtschaft". Explizit verlangte er eine "politische Demokratisierung". Für Wang Guixiu, Professor an der Zentralen Parteihochschule, liegt der "grundsätzliche Ausweg Chinas" in der "Reform des politischen Systems". Dies schließe die Selbstreform und Modernisierung der Partei ein. Der renommierte Reformökonom Wu Jinglian bezeichnete den "Crony-Kapitalismus" als die "Hauptgefahr" für die gegenwärtige Entwicklung Chinas, die politische Maßnahmen erforderlich mache. Sein Kollege Cao Siyuan rief unter anderem zu größerer Presse- und persönlicher Freiheit sowie zur Schaffung eines Verfassungsgerichts auf, das unter Aufsicht des Nationalen Volkskongresses (Parlament) gegen alle Verfassungsverstöße, auch solche der KP, vorgehen solle. Es wird über Huntingtons "Dritte Welle" der Demokratie diskutiert sowie über die Inhalte von Demokratie und ihre Bedeutung für China (Trennung von Partei und Regierung, freie, faire und direkte Wahlen, Gewaltenteilung, Pressefreiheit et cetera).

Daß die Parteiführung die Notwendigkeit politischer Reformen durchaus begreift, darauf weisen auch ganz praktische Bemühungen hin, wie die landesweite Durchsetzung "demokratischer Wahl" der Dorfleitungen. Diese seit 1988 gesetzlich vorgeschriebenen Wahlen werden seit Ende 1997 neu diskutiert und gelten als Grundlage politischer Reformen. Zwar handelt es sich um einen von der Partei kontrollierten Akt, dieser entwickelt sich aber zunehmend zum Selbstläufer, weil die Bauernschaft diese Wahlen sehr ernst nimmt und dadurch ihren Partizipationsspielraum ausweitet. Zugleich handelt es sich um ein Experiment auf unterster Ebene, das durchaus Initialzündung für die übergeordneten politischen Ebenen (Gemeinden und Kreise) hat und zu einer bewußten Stärkung der Bevölkerungspartizipation und der staatlichen Strukturen gegenüber der Partei führen kann.

Neben "westlichen" Vorstellungen werden "chinesische" Spezifika diskutiert: Wahlen als ein sekundäres Phänomen, das sich prozeßhaft entwickelt, auf der Dorfebene einsetzt und sich nach und nach auf die höheren Verwaltungsebenen ausdehnt; Hebung des Bildungsniveaus vor der Einführung von Wahlen und eines Mehrparteiensystems; Inklusion, also konsultative Einbindung verschiedener Gesellschaftsgruppen in zentrale, regionale und lokale Entscheidungsprozesse, um größtmöglichen Konsens zu erreichen. Unterschiedliche Konzepte, die sich zwischen der KP als den Staat kontrollierende Gewalt und der Schaffung einer multipolitischen Gesellschaft bewegen können, kommen in neueren Publikationen deutlich zum Ausdruck. Das bedeutet für China bislang jedoch noch nicht, daß die Öffnung auf der Diskursebene automatisch mit einer Verwässerung bestehender politischer Dogmen wie der sogenannten "Vier Grundprinzipien" (das heißt, keine Aktivität darf sich gegen die Herrschaft der KP, das sozialistische System, die "demokratische Diktatur des Volkes" oder gegen den Marxismus-Leninismus und die Mao-Zedong-Ideen richten) einhergeht, wie unter anderem die harte Reaktion der chinesischen Regierung auf die versuchte Gründung einer "Demokratischen Partei Chinas" Ende 1998 neuerlich belegt. Gleichwohl ist die Diskussion über das richtige "Regieren" (government) einer Debatte über neue politische Steuerungshebel und das richtige Wechselverhältnis im Dreieck Partei-Staat-Bevölkerung (governance) gewichen. Von daher finden wir im politischen Leben Chinas eine ambivalente Situation vor: Verfolgung von Dissidenten bei gleichzeitiger Liberalisierung der politischen Diskussion in Partei und Gesellschaft. Die Scheidelinie ist die Parteiherrschaft. Wer diese unmittelbar und aktiv angreift, der muß mit der harten Faust des Staates rechnen. Wer sich an die Grenze hält, der kann durchaus weitgehende Auffassungen äußern.

 

Die staatlichen Akteure und/oder die der Partei bilden keinen monolithischen Block. Im Prinzip gibt es hier vier Diskursebenen:

1. Die Ebene des Radikalismus: Forderungen nach radikaler Demokratisierung, primär vorgetragen von Dissidentengruppen im Land oder im Exil;

2. die Ebene des Konservatismus: Hier wird die Hoffnung auf Veränderungen durch und innerhalb der KP gesetzt;

3. die Ebene des Traditionalismus, gekennzeichnet durch Hoffnungen auf demokratische Momente in der chinesischen Ideengeschichte, die einen Demokratisierungsschub begünstigen könnten;

4. die Ebene des Populismus, die Hoffnung auf das Veränderungspotential unterschiedlicher sozialer Akteure (Unternehmer, neue Mittelschichten etc.).

In China wird nicht das Konzept "ein Land, zwei Systeme" (wie die entsprechende Politik für Hongkong heißt) verwirklicht, sondern real ein Konzept "ein Land, tausend Systeme". Forschungen führten mich vor anderthalb Jahren in einen Landkreis in Zentralchina (Provinz Henan), in dem ein Dorf zu kollektivistischen Strukturen inklusive eines Mao-Kultes zurückgekehrt und wo Privateigentum an den Produktionsmitteln streng verboten war, während in einem anderen, nur wenige Kilometer entfernten Modell alles privatisiert und das Kollektiveigentum abgeschafft worden war.

Allein aufgrund dieser Vielfalt von widersprüchlichen Erscheinungen und der ökonomischen, politischen, ideologischen, sozialen und ökologischen Herausforderungen ist eine Prognose praktisch unmöglich. Abschließend sollen die Charakteristika der zukünftigen Entwicklung des gegenwärtigen Chinas benannt werden:

- eine ökonomische Privatisierung, die sich allerdings ihres Namens schämt und daher bislang eher latent und von unten vonstatten geht;

- ein allgemeines, wenn auch traditionelles paternalistisches Verständnis vom Staat als Stabilitätsgarant der Interessen Chinas und aller Chinesen ("Volksstaat" statt Diktatur des Proletariats), wobei die Partei sich als neutrales Kontrollinstrument begreift, das im Interesse der Nation ("Volks-" statt Klassenpartei) den Staat kontrolliert und ökonomische sowie gesellschaftliche Verwerfungen zu steuern und zu korrigieren versucht;

- ein ideologischer Nationalismus, allerdings nicht in Form eines aggressiven, nach außen gerichteten, sondern in Form eines Modernisierungs- und Integrationsnationalismus;

- eine Vielfalt von Modellen ("Ein Land, tausend Systeme"), das heißt, nicht ein Dualismus von Markt- und Planelementen, sondern eine lokale Bandbreite und Vielfalt, die von "maoistischen" bis hin zu "kapitalistischen" Dorfmodellen reicht;

- ein "aufgeklärter" (enlightened) Autoritarismus, gekennzeichnet durch die Existenz einer politischen Elite, welche die Notwendigkeit von Veränderungen erkennt und sich um ökonomische, gesellschaftliche und letztlich auch politische Erneuerung bemüht;

- soziale Mobilität, das heißt schichtenspezifische und räumliche Differenzierung.

 

All dies bedeutet keine Demokratisierung, sondern einen Prozeß der Pluralisierung, in dessen Verlauf die Gesellschaft sich größere Aktionsspielräume schafft und die Eingriffsmöglichkeiten des Staates sich reduzieren. Die weitere Entwicklung hängt nicht zuletzt von äußeren Faktoren, vor allem aber davon ab, ob es gelingt, die ökonomische, soziale und damit politische Stabilität weitgehend zu bewahren, oder ob eine Destabilisierung China möglicherweise in einen Krisenherd verwandelt.