Schon am Abend des 8. Mai, bei der Vorstellung der Krisenlösungsprinzipien der G 8 zum Kosovo-Drama – als Joschka Fischer die Ergebnisse des Gipfels vorstellte und Madeleine Albright ihn anschließend als den Hauptmotor für das Zustandekommen des Treffens bezeichnete –, wurde klar, was noch vor wenigen Monaten für alle Welt völlig undenkbar war: daß nicht nur ein deutscher, sondern auch noch ein bündnisgrüner Außenminister zum Hauptorchestrierer des ersten politischen Teilsiegs einer – begrenzt kriegführenden – westlichen Allianz wurde.
Weder die gut beratene bündnisgrüne Zurückhaltung gegenüber einer Herausstreichung dieser Tatsache noch die professionalisierte und politikniedermachende Mißgunst der "kritischen" und konservativ-skeptischen Medienwelt gegenüber dieser erstaunlichen Wirklichkeit wird diese auf Dauer verborgen halten können. Und schon gar nicht die in Deutschland besonders schrillen (und in ihrer Aufladung an die 1990er "Nie wieder Deutschland"-Chöre erinnernden) Töne einer sich mal "links", mal "rechts" einfärbenden Politik- und Geschichtsverweigerung. Die angesprochene "erstaunliche Wirklichkeit" beginnt sich auch in verschiedenen Formen niederzuschlagen. Im zentralen Platz, den zum Beispiel Le Monde den Äußerungen Fischers einräumt, bezeugt sich auch ein Einschätzungsumschwung gerade in jenem politischen Milieu Westeuropas, in dem es vor kurzem selbstverständlich war, die bündnisgrün-deutsche Öffnung zum Politischen nicht ernst zu nehmen.
Der Teilsieg der G-8-Prinzipienerklärung: seine Chancen und Gefährdungen
Nimmt man das Unerwartete und Erstaunliche der fraglichen Schlüsselrolle ernst, drängt sich – jenseits der innergrünen ideologischen Pulverdämpfe – die bislang gar nicht richtig bedachte Frage auf: Gibt es, neben den persönlichen Qualitäten des deutschen Außenministers und neben dem gemeinsamen Nenner der rot-grünen Regierung, eine Dimension der bündnisgrünen Politiköffnung, die zur westlichen und russischen Akzeptanz der "Orchestrierung" des G-8-Treffens wesentlich beigetragen hat?
Vor dieser Frage ist es aber wohl angebracht, die Chancen und Gefährdungen des G-8-Akkords schärfer als sonst auszuleuchten. Entscheidend ist es dabei, den Sinn des "ersten politischen Teilsieges der westlichen Allianz" nach dem Beginn der NATO-Intervention klarzumachen. Er besteht offenbar darin, daß es bei dem G-8-Treffen gelungen ist, einen Weg für die russische Führung freizumachen, entlang dessen es ihr – auch politisch – möglich sein könnte, sich aus den ungeliebten Zwängen einer sie belastenden und für ihre Zukunft gefährlichen Verteidigung des Belgrader Regimes herauszukommen, ohne dabei die Einheit und den Zusammenhalt des westlichen Bündnisses zu gefährden.
Schon die Tatsache dieser sichtbar gewordenen Möglichkeit – in Richtung Sicherheitsrat – war das klare Signal dafür, daß die verzweifelten Versuche Milosevics, sich eine politische (und wenn möglich auch militärische) Unterstützung von diesem Moskauer Regime zu sichern, endgültig gescheitert sind. Vielleicht dämmerte es dabei in Moskau, daß es mitverantwortlich dafür ist, daß Milosevic sich in dem Glauben wiegen konnte, er könnte – nach 1989 und nach seinen Untaten in Bosnien – die ganze Welt und den Westen in die Hinnahme eines Apartheidregimes und eine Entlastung von Vertreibung und Völkermord inmitten Südmitteleuropas hineinzwängen. Dabei ist auch nicht anzunehmen, daß das jetzige russische Regime es je vergessen hätte, daß der Belgrader Machthaber, in dessen Land, nebst Weißrußland, die Machtfülle eines kommunistischen Staatsapparats am wenigsten (wenn überhaupt) nach 1989 abgebaut worden ist, nicht nur im Jahre 1991, beim Moskauer Putsch, sich auf die Seite des "Notstandskomitees" stellte, das den Erhalt der Sowjetunion erzwingen wollte: Auch heute sind die echten Verbündeten Milosevics in Rußland all jene Nationalbolschewisten, die auf die radikale Beseitigung des Moskauer "Nach-1991er"-Regimes hinarbeiten.
Sieht man nun immer wieder, mit welcher Sorge viele – zumeist vernünftige – Mahner die Gefahr eines durch NATO-Aktionen mitinduzierten Regimewechsels in Moskau beschwören, so mag man sich, an das Obige anknüpfend, dann noch fragen: Wird bei diesen Sorgen manchmal auch daran gedacht, wie positiv es für die Stabilität des Moskauer Regimes wäre, würde der Brandherd des Belgrader Regimes und der nationalkommunistische Agitationsvorwand, den er in Rußland bietet, endlich gelöscht? Wobei die Chance eines Regimewechsels in Belgrad ganz gewiß nicht ohne ein nicht mehr zu verleugnendes Scheitern der dortigen Machtstrategien und ohne das Auseinanderbrechen seiner Gewaltapparate vorstellbar ist. Und wäre es nicht angebracht, beim Wiederholen der Formel "Rußland muß ins Boot!" etwas darüber anklingen zu lassen, welches "Rußland" da hinein soll?
Der entscheidende politische Prüfstein
Die spezifische Beweglichkeit und Hartnäckigkeit des deutschen Außenministers, die für die politische Führung in Moskau einen möglichen Weg aus ihren Dilemmata eröffnet haben, kamen natürlich auch den inzwischen offenbaren Dilemmata der westlichen Allianz entgegen.
In ihnen rächt sich die fatale Verspätung der NATO-Aktion gegenüber dem schon am Jahresanfang fortgeschrittenen Stadium der Belgrader ethnischen Bereinigungspläne. Diese, auch durch die erfolgreiche Hinhaltetaktik von Milosevics erfolgte Verspätung verwandelte, in einer viel zu wenig hervorgehobenen Weise, das reale Ziel des Luftkriegs von einer direkten Verhinderung der "humanitären Katastrophe" in eine Verhinderung der Festschreibung ihrer katastrophalen Folgen: für die Opfer, für eine selbstachtende Zukunft Serbiens und der Region im Rahmen Europas, aber auch für die Selbstachtung und den politisch-moralischen Zusammenhalt des westlichen Bündnisses.
In diesem Zusammenhang ist es schon ein beeindruckendes Beispiel von aggressiver Heuchelei, wenn viele – in Deutschland und anderswo – jahrelang die Stimmung der "Zurückhaltung" gegenüber einem Eingreifen gegen den nationalkommunistischen Menschenverächter in Belgrad an erster Stelle mit gefestigt haben und so Mitverursacher der "Verspätung" waren (so wie sie jetzt zu den vehementesten Gegnern einer jeglichen Bodenintervention gehören, die als einziges noch eine Chance hätte, in die mörderischen Vorgänge im Kosovo einzugreifen), jetzt der Welt auch noch ihre Meinung zumuten, daß die Luftoperationen gegen das Belgrader Regime – wohl weil sie das Geschehene nicht ungeschehen machen können – "das Gegenteil von dem erzielt hätten, was sie erzielen wollten".
Gerächt hat sich aber auch das, was Joscha Schmierer in der Mai-Ausgabe der Kommune treffend die "doppelte Botschaft der NATO" am Anfang des Kosovo-Krieges genannt hat: die "Kriegsbotschaft" an Milosevic, um mit Bombendrohungen seinen Vernichtungskrieg vielleicht noch zu stoppen und um ihm, später, mit zunächst begrenzten Luftangriffen die Nichthinnahme seiner Taten und Ziele zu signalisieren, und ihre, an ihre Gesellschaften gerichtete Botschaft über das Eingreifen als eine Art Polizeimaßnahme, die sie von der Wahrnehmung der Realität einer Kriegsführung verschonen wollte (und so auch die Option auf Bodentruppen und auf ihre Androhung im vorhinein ausschloß.) Daß jeweils die eine Botschaft den Sinn der anderen schwächte: das war das Dilemma des westlichen Bündnisses, das das Ergreifen der Chancen und Risiken der G-8-Prinzipienvereinbarung mit möglich machte. Die fraglichen Chancen liegen offensichtlich darin, daß auch mit einem Akzeptieren einer symbolischen und souveränitätsbezeugenden serbischen Militärpräsenz im Kosovo und selbst unter Hinnahme von Milosevic als anfänglichem Verhandlungspartner, ein für die UNO und für Moskau prinzipiell gangbarer Weg zu einer tatsächlichen Rückkehr der großen Mehrheit der Vertriebenen ins ganze Kosovo (und noch vor dem Wintereinbruch) eröffnet wurde. Und die Chance besteht auch darin, daß eine vom Sicherheitsrat erzwungene Zustimmung von Milosevics – praktisch zu den Bedingungen, die er in Rambouillet abgelehnt hat – ihn nicht mehr lange an der Spitze einer Nation und einer Gesellschaft belassen wird, die er – dann sinnlos – in eine politische und wirtschaftliche Katastrophe geführt hat.
Das Risiko des G-8-Prinzipienakkords besteht ebenso offensichtlich darin, daß mit den Verzögerungen des Sicherheitsratsbeschlusses, mit den weiter zu erwartenden Täuschungs- und Verzögerungsmanövern von Milosevic und durch überzogene Zugeständnisse in Sachen Kommando und Zusammensetzung der internationalen Schutztruppe, diese ihre Schutz- und Garantiefunktion für die Vertriebenen wiederum zu spät und zu lückenhaft wahrnehmen und so die Rückkehr de facto nicht zustande kommen kann.
Muß man hier noch hinzufügen, daß diese zweite Variante, völlig unabhängig von ihren papierenen Formalien, den klaren Sieg der mörderischen Vertreibungspolitik, die endgültige Veränderung der ethnischen Zusammensetzung des Kosovo, deren Bekämpfung durch die UCK sowie die Konsolidierung des Brandherdes von Milosevic (als Durchsetzer "historischer serbischer Interessen") bedeuten würde?
Es wird an dieser Stelle deutlich, wo der eigentliche, praktische Wahrheitspunkt der Politiken liegt, die sich um die Weiterentwicklung des G-8-Akkords kümmern werden. "The proof of the pudding is the eating": Über das Gelingen oder das Scheitern dieser Politiken wird nicht auf dem Papier und nicht in den Verhandlungssälen und Hauptquartieren entschieden. Die zu Hunderttausenden vertriebenen und gedemütigten Kosovoalbaner werden über sie mit ihren Füßen abstimmen.
Nur dann, wenn dieser praktische Wahrheitspunkt und das, was mit ihm als westliche und europäische Bewährungsprobe auf dem Spiel steht, deutlich wird, bekommen die Diskussionen über längere oder kürzere, bedingungsgebundene oder bedingungslose Pausen im Druck des Luftkrieges einen konkret einschätzbaren Sinn. Dabei ist es für alle unbenommen, klar zu sagen, daß es für ihn oder für sie in dieser konkreten Entscheidungssituation Gesichtspunkte, Werte oder auch wichtige Parteirealitäten gibt, die ihm oder ihr gewichtiger sind als die Verfestigung oder das tatsächliche Rückgängigmachen der gewaltsamsten und massivsten Menschenvertreibung seit Kriegsende. Aber dann, bitteschön, muß es auch erlaubt sein, Falschspieler Falschspieler zu nennen. Denn: Falschspieler sind offenbar diejenigen, die (in Deutschland und anderswo) auf dem Papier – selbstverständlich – "für die Rückkehr der Flüchtlinge" sind und dabei (einmal außerhalb der diplomatischen Sprachregelungen gesprochen) eindeutig gegen die Bedingungen agitieren, die diese Rückkkehr konkret ermöglichen. Spricht sich nicht selbst der Vertreiber und Obertäuscher "selbstverständlich" für die "Rückkehr aller jugoslawischen Staatsbürger" aus?
Besonders die deutsche und bündnisgrüne Diskussion – von der Wucht der Ereignisse und dem von ihren Neubeleuchtungen her sich aufdrängenden Perspektivenwechsel überrumpelt – ist noch nicht so weit, daß in ihr der praktische Maßstab für die weiteren politischen Entscheidungen angesichts der Schrecken im Kosovo hätte klar heraustreten können. Andere, auch europäische, Länder mit einer längeren demokratischen und freiheitsbezogen-republikanischen Tradition haben es da etwas leichter. Ebensowenig ist dabei die Bedeutung und die Tragweite der von Erhard Eppler herausgehobenen tragischen Dimension hervorgetreten, die mit republikanisch-demokratischen Kriegsentscheidungen verbunden ist und die sich abhebt von den selbstgerechten Illusionen eines – noch dazu garantiert – "gerechten Krieges". Das heißt dann aber auch: Der Kongreß der Bündnisgrünen zum Kosovo-Krieg war eher der Auftakt als der Abschluß einer Konfrontation der Bündnisgrünen mit den Wirklichkeiten, Herausforderungen und Verantwortlichkeiten, die im Lichte der Ereignisse der letzten Wochen, deutlicher als je, hervorgetreten sind. Über eines sollte sich aber niemand täuschen: Der europäische Zusammenhalt der Demokratien in den Anfängen des nächsten Jahrhunderts wird im Geiste und auf der Basis der Entscheidungen der westlichen Allianz vom März 1999 bestehen – oder er wird nicht bestehen.
Der deutsche Außenminister: eine von den Bündnisgrünen isolierte Figur?
Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Ist die erstaunliche Schlüsselrolle des deutschen Außenministers in diesen Fährnissen und Dilemmata der westlichen Allianz wirklich nur eine auf rein persönlichen Qualitäten beruhende Solonummer, die mit der politischen und historischen Substanz der Bündnisgrünen (will dann auch sagen: der "westlichen" Grünen und des "östlichen" Bündnis 90) nichts zu tun hat? So tönt es doch vor allem im vornehmlich deutsch-progressiven und auf "Parteipsychologisches" fixierten Blätterwald, dessen Kurzsichtigkeit nur von seinem kurzen Gedächtnis übertroffen wird.
War es aber vor zehn Jahren nicht ebenso empirisch ausgemacht, daß diejenigen (West-)Grünen, die damals für die deutsche Einheit eingetreten sind (und schon zuvor für die Anknüpfung der grünen politischen Öffnung an den Mut und an die westlichen Freiheitsbezüge von Solidarnosc und der ostmitteleuropäischen Dissidenz), einfach nur grünferne Solisten waren und daß sie es auch bleiben werden? Und waren die politisch luzidesten und konfrontativsten Bürgerbewegten in der ehemaligen DDR nicht genau jene, die ihren Handlungsraum nicht in ihre "Bewegungsmilieus" eingekapselt haben und – bei Solidarnosc in die Schule gehend – gelernt haben, daß ihre politische Nation auch ein "Außen" und eine Verantwortung auch dafür hat?
Natürlich waren die Grünen, wie keine andere Partei, in der lange geschichtsabgeschotteten bundesrepublikanischen "Innengesellschaft" verwurzelt. Aber ihre damaligen Minderheiten waren, seltsamerweise, mehr mit einem gesamteuropäischen und konkret totalitarismuskonfrontierenden Horizont verbunden als maßgebliche Teile anderer politischer Kräfte. Wohlbesehen hat der "Frankfurter" Joschka Fischer nicht gerade zum Kern dieser Minderheit gehört. Aber er ist auch durch sie zu dem geworden, was er heute ist. Heute ist er aber, in einem entscheidenden Sinn, doch zu denen gestoßen, die es wissen und praktizieren, daß die politische Öffnung, die politische Erneuerung, die von den Bündnisgrünen ausgeht, nicht außerhalb, sondern innerhalb der politischen Freiheits- und Menschenrechtsgeschichte des Westens steht. Der deutsche Außenminister spricht in der Welt nicht nur in erster Person, er spricht auch von dem so entstandenen Platz der Bündnisgrünen aus. Auch darum vertraut ihm die Welt.
Das Bielefelder Votum Es wird noch einige Zeit ins Land gehen, bis – innerhalb und außerhalb der Bündnisgrünen – die Bedeutsamkeit des "Bielefelder Votums" des Sonderparteitags vom 13. Mai bewußt werden wird. Im obigen Sinne war es nicht nur ein Votum für den "Einsatz" und die Perspektiven der Fischerschen Außenpolitik in den Dilemmata des westlichen Bündnisses und Rußlands in der Krise. Auch ein konstitutiver, freiheitsbezogener Strang, sowohl der Grünen wie von Bündnis 90 – mit dem Sinn des Jahres 1989 verbunden – wurde erstmalig innerhalb eines konkreten Politikkonfliktes klar bestätigt.
Die fragliche Bedeutsamkeit reicht über die rein bündnisgrünen Perspektiven hinaus. Sie berührt auch die Art der europäischen und westlichen Einbindung der "Berliner Republik". Wie sie mit diesem politischen Pfund wuchern werden, daran müssen sich die politischen Talente der Bundes- und Landesführungen der Bündnisgrünen messen lassen. Eine Kampagne für Neueintritte gehört gewiß zu diesem politischen Pfund dazu.
An dieser Stelle sei Hans Scheulen, Bremen, für Argumentationshilfen gedankt.