Aus einem Gespräch mit Paco
Ignacio Taibo II., Krimi-Autor aus Mexiko
Gibt es auch in anderen Bundesstaaten
als Chiapas erwähnenswerte Bewegungen, die den Dinosaurier
PRI zur Strecke bringen wollen?
Ja. In einigen Bundesstaaten gibt es sehr,
sehr starken Druck. So stark, daß er zum Beispiel im Bundesstaat
Guerrero die Form einer Guerillabewegung annehmen kann. Guerrero
steht kurz vor dem Ausbruch eines bewaffneten Kampfes von Campesinos.
Der Staat versucht übrigens sogar, bewaffnete Zusammenstöße
zu provozieren. In Guerrero gab es allein im letzten Jahr zwischen
20 und 25 Massaker an Campesinos. An einigen Orten antworteten
die Campesinos damit, daß sie Judiciales, Polizisten, töteten.
Wenn du mit dem Auto in die Berge Guerreros fährst, siehst
du in den Dörfern an den Hauswänden die Parole "Uno
por uno", "Einen für einen", das heißt
einen toten Polizisten für jeden ermordeten Campesino. Die
Lage dort ist äußerst gespannt. In den Gemeinden sind
viele Leute bewaffnet.
Wie sieht es in den anderen Bundesstaaten
aus?
An vielen Orten ist die Lage sehr gespannt.
In der Tarahuamara-Zone im nördlichen Bundesstaat Chihuahua,
in Puebla und so weiter. Die unnachgiebige Haltung des Staates
heizt die Konflikte weiter an.
Verliert die PRI auf den Lande die soziale
Kontrolle über die Bevölkerung?
In den Landgemeinden hat die PRI am meisten
verloren. Aus vielen Zonen gibt es so gut wie keine Nachrichten.
Da können von heute auf morgen heftige Konflikte aufbrechen,
deren Entstehung und Inkubation die Städter gar nicht mitbekommen.
Denn die Rhytmen der ländlichen unterscheiden sich von denen
der städtischen Bewegungen. Ein Beispiel: Bei den letzten
Wahlen in Tabasco gab es beeindruckende Wahlergebnisse. So finden
wir im Gebiet der Chontál-Indígenas Gemeinden, in
denen die PRI nur drei Prozent der Stimmen bekam. Diese Gemeinden
verfügen über eigenständige Selbstverwaltungsstrukturen
und bauten eine oppositionelle lokale Macht auf, in die die PRI
nicht mehr eindringen konnte.
Zerbricht die jahrzehntelange allumfassende
Kontrolle der Staatspartei PRI?
Ja. Dieser Prozeß setzte im Grunde
schon 1985 ein. Das Erdbeben und alles was damit ans Tageslicht
kam, war die Zäsur. Die Maschinerie der Macht erodiert. Aber
ich kann nicht absehen, wie lange das dauert und wie der Prozeß
im einzelnen vor sich geht. Der PRI ist es zwar gelungen auf einen
Staudamm, der zu bersten drohte, einige Steine zu legen und so
den Damm fürs erste dicht zu halten. Wenn eine Wissenschaft
zum Studium der Infamie gäbe, wäre das als Beipiel eines
spektakulären Erfolgs zu analysieren. Die unvergleichliche
Fähigkeit der PRI zur Travestie, zur Runderneuerung, zur
Findung und Erfindung immer neuer Wege, um die Kontrolle zu behalten.
Bedeutet der 1. Januar 1994, die bewaffnete
Erhebung der Zapatisten, eine qualitative Beschleunigung des Erosionsprozesses?
Ich glaube nicht. Was die Zapatisten bewirkten,
war einen neuen, zusätzlichen Spielraum zu schaffen. Gut,
allein durch die Tatsache, daß diese Bewegung auftauchte,
gab es einen qualitativen Sprung. Das liegt auf der Hand. Aber
die Präsenz der Zapatisten konnte auf nationaler Ebene, anders
als es in den ersten Momenten schien, nicht vertieft werden.
Mit anderen Worten: Der Zapatismus ist
bis auf den heutigen Tag vor allem eine regionale Kraft und keine
nationale?
Ich glaube ja. Allerdings verfügen
sie in einigen Sektoren über ziemlich viel Einfluß.
Außerdem sind sie in ländlichen Gebieten auch unterhalb
der Oberfläche präsent, was heute für uns noch
gar nicht sichtbar ist. Wir bekommen es noch nicht mit, weil es
sich zur gegebenen Zeit in der typischen Art der Zapatisten ausdrücken
wird. Was allerdings das oppositionelle Spektrum des ganzen Landes
angeht, so sind die Zapatisten eine Kraft mehr, vielleicht eine
wichtige Kraft mehr. Aber bis heute gelang es der Regierung, ihren
Einfluß zu begrenzen. All das macht Mexiko zu einem Land,
für das sehr schwer Vorhersagen zu treffen sind. Ich möchte
in diesem Zusammenhang an die Sätze des Innenministers von
Porfirio Díaz erinnern. Er sandte am 20. November 1910
Porfirio Díaz ein internes Memorandum in dem es hieß,
daß es im Land absolut ruhig sei. Einige Stunden später
begann die mexikanische Revolution. Mexiko ist ein Land, das seine
Explosionen nicht ankündigt. Vielmehr werden sie aufgestaut.
Es gibt hier eine Kultur des Wartens, Aushaltens und Widerstehens.
Und plötzlich springen die Mexikaner aufs Pferd, ohne es
vorher anzukündigen.
Heißt das, daß es der Regierung
mit Hilfe von Armee und paramilitärischer Repression einerseits
sowie mit Friedensverhandlungen und kleineren Teilzugeständnissen
andererseits gelang, die Zapatistenaufstand wieder unter Kontrolle
zu bringen?
Nicht zu kontrollieren, aber zu verhindern,
daß er sich in geometrischer Progression ausbreitet. Sie
bremsten die Bewegung.
Der Zapatismus ist eine Antwort von Landbewohnern
auf die Konsequenzen des neoliberalen Wirtschaftsmodells. Es scheint,
daß die städtischen Bewegungen im Vergleich dazu hinterherhinken.
Gibt es überhaupt nennenswerte städtische Bewegungen
gegen die PRI?
Oh, da gibt es unzählige. Ich erwähne
nur die Stadtviertel-Versammlungen in Mexiko-Stadt und die Studentenbewegungen.
Niemand hat sich zurückgezogen. Das Problem ist die fehlende
Koordination. Dazu kommt die rasch zunehmende Verarmung. In den
letzten vierzehn Monaten ist der Reallohn um 34 Prozent gefallen,
Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung sind dramatisch gestiegen.
Auch die Mittelschichten sind mittlerweile davon betroffen. Die
soziale Lage ist explosiv.
Am 1. Mai verweigerte ein Teil der PRI-nahen
Gewerkschaften den Gehorsam und ging auf die Straße, obwohl
die Parteiführung keine öffentliche Manifestation wollte.
Zeichnet sich hier eine Annäherung von Teilen der PRI-Basis
mit der Opposition ab?
Die Kontrollkapazität der PRI ist einem
Prozeß stetiger Erosion ausgesetzt, der Marsch der PRI-nahen
Gewerkschaften ist dafür ein Beispiel. Die PRI-Gewerkschaftsbosse
wollten keinerlei Demonstration, weil sie befürchten, daß
ihnen "ihre" regierungsfreundliche Aktion auf der Straße
entgleiten und sich in eine oppositionellen Kundgebung verwandeln
könnte. Das muß man sich einmal vorstellen, was das
bedeutet. Sie wissen ganz genau, daß sie keinen Konsens
mehr schaffen können und daß ihre Fähigkeit, Kontrolle
auszuüben, begrenzt ist! Dennoch ging ein Teil ihrer Basis
auf die Straße. Nachmittags gab es noch eine Kundgebung
der oppositionellen und unabhängigen Kräfte. Zusammen
dürften zwischen 300.000 und 350.000 Leute unterwegs gewesen
sein.
Worin liegen denn die Unterschiede und
Gemeinsamkeiten zwischen den städtischen und den ländlichen
Bewegungen?
Da gibt es die unterschiedlichsten Bewegungen.
Von den Landgemeinden in Tabasco, die eine Tradition des gewaltfreien
Widerstands im Sinne Gandhis und starke Basisorganisationen haben,
die Organisation und politische Mobilisierung verbinden und auf
lokaler Ebene Wahlerfolge erzielen können, bis hin zu bewaffneten
Kleingruppen in Guerrero. Dazu kommt die außerordentlich
gut strukturierte und in den Kommunen verankerte und bewaffnete
Zapatistenbewegung. Nicht zu vergessen, die alten Widerstandsherde
in den großen Städten, die zu Massenmobilisierungen
imstande sind. Außerdem muß man noch die Wahlbewegungen
und die Proteste gegen den Wahlbetrug besonders im Bundesstaat
Michoacán dazurechnen. Es gibt eine breite Palette von
Widerstands- und Aktionsformen. Das Problem ist noch nicht einmal
die Koordination in einer politischen Bewegung. Bisher kam noch
nicht einmal eine Aktionseinheit zustande, um zu verhindern daß
die Regierungstaktik, sie eine nach der anderen auflaufen zu lassen,
Erfolg hat.
Der von den Zapatisten mehrmals einberufene
"Nationale Demokratische Konvent" (CND) stellte den
Versuch dar, diese verschiedenen oppositionellen Gruppen und Bewegungen
zu bündeln. Warum scheiterte dieser Versuch?
Dieser Konvent war ein Irrtum. Die Treffen
waren zwar insofern nützlich, als sie viele Leute miteinander
in Kontakt brachten. Aber der Ansatz, einen Massenkongreß
einzuberufen um einen neuen politischen Vorschlag auszuarbeiten,
führt dazu, daß 12.000 Leute 16.000 Diskussionen gleichzeitig
führen. Ich würde sogar noch weiter gehen: Wie kann
ein Programm mit fünf oder sechs Punkten in einer Situation,
in der es allen zunächst um die eine Frage geht, daß
nämlich die PRI abtritt, die nötige taktische Einheit
stiften? Der erste und wichtigste Punkt ist: Sie müssen weg!
Das ist der Ausgangspunkt. Hier stimmen die unterschiedlichsten
oppositionellen Kräfte überein.
Und gegenwärtig zeichnet sich keine
Kraft ab, die dazu fähig wäre, eine einheitliche Aktionsfront
zu stiften?
Die sozialen Bewegungen bringen ständig
Personen hervor, die über ein beträchtliches Ansehen
verfügen. Cuauthémoc Cardenas ist eine davon. Er kann
vor jedes Publikum treten, ohne daß er ausgepfiffen wird,
sei es vor die PRD, die Zapatisten oder die sozialen Bewegungen.
Die neue PRD-Führung um López Orador hat ebenfalls
viel Prestige. Auch der Subcomandante Marcos steht hoch im Kurs
und genießt Ansehen. Das hat er mit seiner sehr eigenen
Form der Kommunikation erreicht. Es handelt sich jedoch weniger
um ein Führungs- als um ein Koordinationsproblem.
Dieses Dilemma spiegelt die organisatorische
Schwäche der mexikanischen Linken in schmerzlicher Deutlichkeit
wider!
Das stimmt.
Das Gespräch führte Albert Sterr am 2.6.96 in Berlin.