"Gewaltfreiheit" oder gerechter Weltfrieden?

Unklarheiten in der außenpolitischen Orientierung der Grünen

Willfried Maier

Als die Grünen in ihrer Gründungsphase die Gewaltfreiheit in ihre vier Leitbegriffe aufnahmen, galt die Hauptstoßrichtung dieses Begriffs den Aktionsformen bundesrepublikanischer politischer Bewegungen. Seit den 68er Demonstrationen der APO, über die rituellen Aufmärsche der ML-Gruppen bis zu den Bauplatzbesetzungen der Anti-AKW-Bewegung hatte es einen regelrechten Mythos der Militanz gegeben. Indem die Grünen sich für "gewaltfrei" erklärten, setzten sie sich vorsichtig von diesem Mythos ab.

Zwar hatte der Begriff von vornherein auch eine außenpolitische Dimension. Aber die blieb in der Gründungsphase blaß. Erst im Verlaufe der Friedensbewegung, die sich im Kampf gegen die NATO-Nachrüstungsbeschlüsse und gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden bildete, gewann das außenpolitische Verständnis von Gewaltfreiheit die Oberhand. Eine Mehrheit in der Partei begann, die Grünen als eine pazifistische Partei zu definieren und hielt damit die Frage der außenpolitischen Grundorientierung dem Prinzip nach für geklärt. Heute ist der Begriff der Gewaltfreiheit zur Zentralkategorie für die außenpolitische Orientierung der Grünen geworden.

Dazu ist dieser Begriff jedoch nicht geeignet. Gewaltfreiheit beschreibt das Verhältnis zu einem möglichen Mittel der Politik. Es wird damit kein Ziel des politischen Handelns beschrieben. Das aber ist auch für die außenpolitische Orientierung einer Partei unumgänglich.

Zwei unterschiedliche Generationserfahrungen

So ist es denn kein Zufall, daß die Grünen bis heute über ein einigermaßen deutliches außenpolitisches Profil nicht verfügen. Es sind eher zwei unterschiedliche außenpolitische Generationserfahrungen, die mal in Konkurrenz miteinander, mal in merkwürdiger Gemengelage das außenpolitische Bild der (West-)Grünen prägen.

Das ist einmal die Erfahrung der Generation, die wesentlich durch den Protest gegen den Vietnam-Krieg der USA politisiert wurde (die "68er"). Die Konsequenz dieser Erfahrung war nicht pazifistisch, sondern antiimperialistisch, und zwar durchaus parteiisch für militante Bewegungen . "Amis raus aus Vietnam!" war die zentrale Parole. Und die Hoffnung ging dahin, daß es den Vietnamesen gemeinsam mit der internationalen Protestbewegung gelingen werde, die USA aus dem Land zu vertreiben.

Zwölf Jahre später war es die Erfahrung der Bewegung gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland und Europa. Diese Bewegung war mehrheitlich pazifistisch, angesichts einer Situation, in der das Wettrüsten zweier atomarer Supermächte in die Weltvernichtung umschlagen konnte. Gegenüber dem Untergang der Welt und der Menschheit gibt es nichts mehr zu verteidigen als den Frieden selbst. Die Grünen wurden fast zeitgleich mit dieser Friedensbewegung gegründet. Mit dieser Generationserfahrung hat sich ein großer Teil der Aktivisten in der Grünen Partei engagiert.

Bis heute gibt es bei den Grünen die Situation, daß der eine Teil sich gerechte Kriege durchaus vorstellen kann und von Vietnam bis El Salvador auch meinte, es mit solchen gerechten antiimperialistischen Kriegen zu tun zu haben. Während der pazifistische Teil der Grünen den Begriff des gerechten Krieges generell ablehnt.

Diese sehr widersprüchlichen Positionen vertrugen sich so lange halbwegs miteinander, wie Pazifisten und Antiimperialisten in der Beurteilung der Ursachen und der Schuldfrage für konkrete militärische Konflikte übereinstimmten. Da konnten dann die einen Aufrufe unterschreiben "Waffen für El Salvador" und die anderen radikalen Pazifismus vertreten. Solange klar war, daß die USA und ihre Verbündeten und/oder der "BRD-Imperialismus" die Hauptfeinde waren, so lange empfanden die Pazifisten die Beimischung militärischer Mittel durch die Antiimperialisten nicht als besonders aufregungsbedürftig.

Es ist das ähnlich wie in der Innenpolitik: Wenn Autonome gegen Castor-Transporte Anschläge verüben oder sichernde Polizeieinheiten angreifen, dann erregt diese Gewalt die grünen prinzipiellen Gewaltgegner wesentlich weniger, als wenn Rechtsradikale Anschläge auf Ausländerunterkünfte verüben. Dieser unterschiedliche Erregungsgrad ist gut zu verstehen, aber zugleich eben ein Beleg dafür, daß "Gewaltfreiheit" als Kategorie zur Beurteilung politischer Ereignisse nicht besonders weit reicht.

Mit dem faulen Frieden zwischen Anhängern der Vorstellung vom gerechten Krieg und Radikalpazifisten war es denn auch sofort vorbei, als Streit aufkam über die Beurteilung von Kriegsschuld und Kriegsursachen. Das geschah erstmals in größerem Umfang, als die mit UNO-Auftrag handelnde USA gegen die irakische Besetzung Kuwaits Krieg führte.

Der Konflikt brach endgültig auf angesichts des Krieges in Bosnien. Hier war es nicht sonderlich plausibel, im "US-Imperialismus" oder im "BRD-Imperialismus" die zentralen Kriegstreiber zu sehen, obwohl auch das natürlich versucht wurde. Hier ging es erstmals um die Frage: Kann ein gerechter Einsatz militärischer Mittel vielleicht darin bestehen, Mord an einer Bevölkerung und ethnische Vertreibung zu stoppen und die Menschenrechte zu verteidigen? Und kann es vielleicht sogar moralisch geboten sein, daß eigene Soldaten sich an der Sicherung eines erzwungenen Friedens beteiligen?

Antiimperialismus = abgesunkener Leninismus

Zur Antwort auf derartige Fragen taugt Radikalpazifismus gar nicht. Dabei hilft aber auch der tradierte Antiimperialismus nicht weiter. Die Imperialismus-Theorien gründeten sich auf eine Ableitungskette, die schematisiert so aussah: Kapitalismus der freien Konkurrenz führt zum Monopol, monopolistisches Kapital macht sich unmittelbar die Staatsmacht verfügbar und setzt sie ein, um sich bevorzugte Ausbeutungsgebiete in der ganzen Welt zu sichern. Deshalb treibt Imperialismus notwendig zum Krieg, zum Krieg gegen die von ihm unterdrückten Völker, zum Konkurrenzkrieg gegen andere Imperialismen oder - nach 1917 - zum Krieg gegen sozialistische Länder.

Deshalb war für linke Friedenspolitik der Kriegstreiber situationsunabhängig immer schon klar und in imperialistischen Ländern war es auf jeden Fall die eigene Regierung, der man deshalb keinerlei Unterstützung, insbesondere keine militärische gewähren darf. Dieser abgesunkene Leninismus beherrscht noch immer viele Reflexe in der Grünen Partei.

Es ist das sozusagen eine substanzlogische Position: Aus dem Wesen einer als bekannt unterstellten Sache - hier dem Kapitalismus - wird auf die Art seiner Akzidenzien oder Äußerungen geschlossen. Das ergibt eine geschlossene linke Ableitungswelt. In ihr sind aber Kriege wie die zwischen Hutu und Tutsi oder wie die in Bosnien oder Tschetschenien nicht mehr unterzubringen. Es sei denn, man findet eine Möglichkeit, beispielsweise in Ruanda den französischen Imperialismus als Verursacher ins Spiel zu bringen oder in Bosnien den deutschen. Worauf denn die Vertreter geschlossener Weltbilder sich auch gleich mit Eifer gestürzt haben.

Tatsächlich ist eine antiimperialistische Orientierung heute ebensowenig wie eine pazifistische geeignet, Kriterien für außenpolitische Orientierung abzugeben. Solche Kriterien lassen sich nur gewinnen, wenn man auch in außenpolitischen Fragen von einem Ziel der Politik ausgeht und von daher die gerechten und geeigneten Handlungen diskutiert.

Staatssouveränität bedeutet Naturzustand

Unter Grünen dürfte schnell Einigkeit darüber herzustellen sein, daß nicht Stärkung der eigenen nationalen Macht, Vorherrschaft über einen größeren Raum oder gar Weltherrschaft, noch nicht einmal Sicherung einer stabilen Gleichgewichtsstruktur zwischen verschiedenen Staaten das außenpolitische Ziel der Partei sein darf.

Versucht man, das vorhandene vage Selbstverständnis bei den Grünen in Hinblick auf außenpolitische Zielsetzungen zu formulieren, so könnte man vielleicht als abstraktes Ziel formulieren: Gesicherter Frieden, der auf einer gerechten Weltordnung beruht. Die Programmschrift dazu hat vor fast genau 200 Jahren Immanuel Kant formuliert: "Zum ewigen Frieden".

Kant argumentiert folgendermaßen: Die Staaten befinden sich untereinander im Naturzustand, das heißt in keinem vertraglichen oder rechtlichen Zustand, der ihre Handlungsmöglichkeiten gegeneinander einschränkt. Die neuzeitliche Staatstheorie drückt denselben Sachverhalt positiv aus, wenn sie die Staaten für souverän erklärt. Souveränität nach außen bedeutet: Das Handeln der Staaten ist keinen beschränkenden Regeln unterworfen, es schließt damit die Möglichkeit und das Recht zum Krieg ein.

Wenn der Naturzustand zwischen den Staaten überwunden werden soll, kann das nur dadurch geschehen, daß die Staaten sich gegenseitig binden und einen teilweisen Souveränitätsverzicht vereinbaren. Insbesondere müssen sie auf das Recht, Krieg zu führen, ausdrücklich verzichten, es sei denn zur Selbstverteidigung und zur Verteidigung der getroffenen vertraglichen Absprache gegen denjenigen, der sie bricht. Oder anders ausgedrückt: Sie müssen Angriffskriege ächten und jedem Staat, der sich an einer derartigen Absprache beteiligt, das Recht der Existenz garantieren.

Freilich, vertragliche Absprachen können gebrochen werden. Es bedarf deshalb einer möglichst sicheren Verankerung solcher Absprachen in der Willensbildung der beteiligten Staaten. Kant ist deshalb der Auffassung, daß alle Staaten nach republikanischen Grundsätzen verfaßt sein sollten, was in seiner Redeweise bedeutet, daß in allen Staaten die Menschenrechte geschützt wären und die Regierungen die Grundsätze ihres Handelns wegen Existenz der Gewaltenteilung öffentlich rechtfertigen müssen.

Die Garantie der Menschenrechte und die Möglichkeit zur Bildung einer von der Regierung unabhängigen öffentlichen Meinung sind insoweit nicht nur für die innere Ordnung eines Staates bedeutsam, sondern zugleich unverzichtbar für die Sicherung einer gerechten Weltfriedensordnung. Deshalb erfordert eine internationale Friedensordnung auch eine Einschränkung der Staatssouveränität nach innen. Despotische und tyrannische Regimes verfügen über keinen Mechanismus der inneren Kontrolle ihrer Handlungen durch das Rechtsempfinden ihrer Bürgerinnen und Bürger. Sie müssen die Grundsätze ihrer Außenpolitik nicht öffentlich rechtfertigen.

Die UNO als Friedensbündnis oder als Platzhalterin eines Weltstaates?

Mit Verabschiedung und Anerkennung der UNO-Charta haben sich alle Staaten der Erde formell auf derartige Souveränitätsverzichte nach innen und nach außen verpflichtet. Das hat bekanntlich nicht zum Ende der Kriege geführt. Nach wie vor bleibt das Problem, daß es keine oberste Schiedsinstanz gibt, welche die Anwendung der UNO-Charta auf konkrete Streitfälle autoritativ entscheiden kann und daß es keine oberste internationale Gewalt gibt, um solche Schiedsprüche auch durchzusetzen.

Deswegen wird immer wieder das Projekt verfolgt, ein solches internationales Gewaltmonopol, kontrolliert durch eine Weltrepublik zu schaffen. Kant war gegenüber diesem Gedanken skeptisch. Ein solcher Weltstaat könnte sich vermutlich selbst nur durch Gewaltakte in Ausscheidungskämpfen zwischen großen Mächten durchsetzen, würde rasch seine Möglichkeiten überspannen, einen einheitlichen Rechtsfrieden über so unterschiedliche Völker durchzusetzen und so Gefahr laufen, zuerst in Despotie und dann in Anarchie zu verfallen.

Kant schlug deshalb bloß das "negative Surrogat" einer positiven Weltrepublik vor, nämlich "einen den Krieg abwehrenden, bestehenden und sich immer ausbreitenden Bund". Dieser Völkerbund "geht auf keinen Erwerb irgend einer Macht des Staats, sondern lediglich auf Erhalt und Sicherung der Freiheit eines Staats, für sich selbst und zugleich anderer verbündeter Staaten, ohne daß diese sich doch deshalb (wie Menschen im Naturzustand) öffentlichen Gesetzen, und einem Zwang unter denselben unterwerfen dürfen."

Mit einer von Hannah Arendt eingeführten Unterscheidung könnte man sagen: Kant plädiert nicht für die Errichtung eines Weltgewaltmonopols, demgegenüber alle Einzelstaaten Unterworfene wären, sondern für die Schaffung einer Machtstruktur, zu der sich die Staaten des Friedensbundes vereinbaren sollen.

Macht meint dabei, die menschliche Fähigkeit, nicht nur zu handeln, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Sie ist ein universelles menschliches Phänomen. Sie bildet sich überall, wo Menschen zusammen sind, sogar in der Selbsterfahrungsgruppe. Sie bindet nicht durch Gehorsam gegenüber überlegenen Gewaltmitteln, sondern durch Meinung. - Gewalt ist dagegen durch ihren instrumentellen Charakter gekennzeichnet. Sie erfordert Werkzeuge, Waffen, die Gehorsam erzwingen können.

Der politische Gegenbegriff zur Gewalt ist deshalb nicht Gewaltlosigkeit oder Gewaltfreiheit, sondern Macht. "Macht und Gewalt sind Gegensätze: wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden" (Hannah Arendt: Macht und Gewalt). Für die internationale Ordnung wie für die innerstaatliche gilt deshalb: So lange die durch Zusammenhandeln entstehenden und durch gerechte Institutionen geregelten Machtstrukturen Bestand haben, so lange hat Gewalt keine Chance. Gewaltlosigkeit ist Ergebnis des Machtgewinns für die gerechte Ordnung und nicht selber das Ziel.

In der politischen Wirklichkeit treten Macht und Gewalt sowohl in der Außen- wie in der Innenpolitik gewöhnlich kombiniert auf. Die Staaten verfügen über Gewaltmittel, die sie nach innen wie nach außen einsetzen können. Und prinzipiell abschaffbar ist Gewalt als eine menschliche Möglichkeit nie. Um so wichtiger ist es, Macht und Gewalt begrifflich zu unterscheiden, wenn man begreifen will, auf welches Phänomen Kant die Weltfriedensordnung stützen will.

Es geht ihm um einen vertraglichen Zustand zwischen Staaten, das heißt um die Vereinbarung zwischen ihnen, Friedensstörung nicht auszuüben und nicht hinzunehmen. Die Staaten sollen durch ihr Zusammengehen eine Macht bilden, die auf Aggression verzichtet und sie ächtet. Und diese Ächtung soll sich stützen auf die öffentliche Meinung in den verbundenen Staaten. Natürlich kann man nicht sicher sein, daß sich jeder potentielle Aggressor in eine solche friedenssichernde Machtstruktur, die letztlich auf Meinung basiert, einbinden läßt. Das gelingt ja auch innerstaatlich dem Verbrecher gegenüber nicht. Deshalb muß notfalls Gewalt eingesetzt werden gegen die Gewalt eines Aggressors, wenn die Machtstruktur versagt hat. Aber das ist nicht der Kern der Sache: Vor allem geht es darum, eine organisierte und institutionalisierte friedenssichernde Machtstruktur zu schaffen, an der alle Staaten teilnehmen.

Über die "Ausführbarkeit dieser Idee der Föderalität, die sich allmählich über alle Staaten erstrecken soll", machte sich Kant keine Illusionen. Kein Weltparlament oder keine Vollversammlung der Staaten würde dergleichen zustande bringen, vielmehr: "wenn das Glück es so fügt: daß ein mächtiges und aufgeklärtes Volk sich zu einer Republik (die ihrer Natur nach zum ewigen Frieden geneigt sein muß) bilden kann, so gibt diese einen Mittelpunkt der föderativen Vereinigung für andere Staaten ab, um sich an sie anzuschließen, und so den Friedenszustand der Staaten, gemäß der Idee des Völkerrechts zu sichern, und sie durch mehrere Verbindungen dieser Art nach und nach immer weiter auszubreiten."

Das war eine ziemlich gute Prognose. Sowohl bei der UNO als auch bei ihrem Vorläufer, dem Völkerbund standen jeweils die USA am Anfang der Idee und der Gründung. Der Völkerbund scheiterte schnell, weil die "große und aufgeklärte Republik" ihm nicht beitrat. Das bedeutete, die föderative Vereinigung Völkerbund blieb von Anfang an ohne eine Macht, die diese Idee tatsächlich trug. Es blieb im Kern eine Organisation der europäischen Siegermächte des ersten Weltkrieges zur Kontrolle der Friedensverträge von 1919, die von vornherein das Ressentiment der Besiegten gegen sich hatte.

Die Gründung der UNO stand unter einem glücklicheren Stern. Wiederum betrieben die Vereinigten Staaten vor allem diese Gründung, und sie taten das als führende Macht in der Anti-Hitler-Koalition. Sie handelten in einer Situation, in der alle Gründungsmitglieder unter dem Eindruck standen, daß zur Sicherung ihrer staatlichen Existenz gegen den Friedensstörer ein gewisses Maß an Souveränitätsverzicht nach außen Bedingung ihres Bündnisses war.

Und unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und des Holocaust gewann auch der Gedanke ein bis dahin unbekanntes Gewicht, daß die Geltung der Menschenrechte Vorrang haben müsse vor dem Anspruch der Staaten, mit ihren Untertanen ohne äußere Einmischung nach Gutdünken verfahren zu dürfen. Richard Rorty spricht deshalb davon, daß die "Menschenrechtskultur" ein neues positives Faktum der Welt nach dem Holocaust sei. Nicht in dem Sinne, daß die Menschenrechte überall respektiert würden, wohl aber in dem Sinne, daß die Bewegung dafür seitdem eine wirkungsvolle Tatsache in der Welt sei.

Im Kern ist die UNO bis heute eine internationale Organisation, die den Mitgliedstaaten das Recht auf Existenz zu garantieren sucht und sich formell zu den Menschenrechten bekennt.

Mängel der UNO

Das ist nicht wenig. Aber sowohl in der Situation des Ost-West-Gegensatzes als auch heute liegt auf der Hand, daß die UNO nur begrenzt in der Lage ist, ihre Garantien auch im Konfliktfall zu verwirklichen. Die UNO waren weder in der Lage, 1956 die Sowjetunion davon abzuhalten, Ungarn zu besetzen und 1968 die Tschechoslowakei. Noch waren sie fähig, die USA davon abzuhalten, in Vietnam Krieg zu führen, um versprochene Wahlen in Südvietnam nicht abhalten zu müssen.

Und auch heute sind die Vereinten Nationen nur dann in der Lage, einem Staat die Existenz gegen militärische Aggression eines anderen zu garantieren, wenn eine Großmacht die Sache (aus eigenem Interesse) zu der ihren macht wie in Kuwait und keine andere sich ihr in den Weg stellt.

Ähnliches gilt für die Sicherung der Menschenrechte. Auch hier wird erst gehandelt, wenn eine oder mehrere (Groß-)Mächte bereit sind, das Risiko und die Lasten eines Eingriffs auf sich zu nehmen wie schließlich in Bosnien und wiederum sich ihnen keine andere Großmacht in den Weg stellt.

Wenn - wie in Ruanda - keine der großen in der UNO organisierten Mächte das Überleben erst der Tutsi und heute der Hutu zu ihrer Sache macht, bleibt die UNO machtlos. Es tritt dann der Fall ein, daß die Machtstruktur UNO wirkungslos bleibt, weil die Beteiligten sich zum Handeln nicht aufraffen. Wobei man zugestehen muß, daß die Vereinbarung, nicht selber die Menschenrechte zu verletzen, leichter einzuhalten ist als eine Verpflichtung, gegen solche Verletzungen zu intervenieren.

Und wenn eine der großen Atommächte wie heute Rußland in Tschetschenien es zu einer Angelegenheit ihrer inneren Souveränität erklärt, ein Volk militärisch zu vergewaltigen, dann sind die UNO beinahe machtlos. Zumindest militärisch könnten die übrigen Staaten der Welt Rußland an seinem Vorgehen nur hindern um den Preis des Untergangs der Welt überhaupt.

Die Staaten der "Menschenrechtskultur" und die NATO

Die Zone relativer Sicherheit vor Krieg ist in der Welt deshalb auch nicht durch Mitgliedschaft in der UNO umschrieben, sondern durch Zugehörigkeit zur "westlichen Welt" der entwickelten Länder. Diese Länder bedrohen sich gegenseitig nicht mit Krieg, sind vor militärischer Gewaltandrohung weniger entwickelter Länder durch technische Überlegenheit einigermaßen sicher und streben zumindest nicht mehr koloniale Unterwerfung anderer Länder an, sondern sind - was ihre Grenzen angeht - saturiert. Sie alle haben - im kantischen Sinne - republikanische Verfassungen mit mehr oder weniger funktionierender Gewaltenteilung. Und sie respektieren mit einigen Einschränkungen die Menschenrechte.

Untereinander haben diese Länder eigene Vertragssysteme geschaffen, in denen sie sich gegenseitige Friedfertigkeit und gegenseitige Bereitschaft zur Verteidigung ihrer Länder und Freiheiten versprechen. Die NATO ist das wichtigste dieser Vertragssysteme. Sie bildet eine eigene Machtstruktur, innerhalb derer die Verpflichtungen der Mitglieder zur Abwehr von Friedensstörungen, die von außen kommen, wesentlich höher sind als in der UNO.

Gleichzeitig hat die NATO in ihrer Gesamtheit bisher keine aggressiven Handlungen gegenüber anderen Staaten vorgenommen. Angesichts der Vielzahl ihrer Mitglieder und deren durchaus unterschiedlichen Interessenlagen, ist eine gemeinsame militärische Aggression nach außen auch wenig wahrscheinlich. Eine derartige Politik geriete auch sehr rasch in die Kritik der öffentlichen Meinungen in den verschiedenen beteiligten Ländern.

Das hat allerdings einzelne NATO-Länder nicht davon abgehalten, Krieg zu führen, wie etwa Großbritannien und Frankreich in Suez oder im Tschad, die USA in Vietnam oder auch die NATO-Länder Griechenland und die Türkei gegeneinander. Immer aber hat die Mitgliedschaft in der NATO auf die Kriegsbereitschaft in diesen Fällen eher dämpfend gewirkt, weil sich die beteiligten Länder der inneren Kritik ihrer Bundesgenossen ausgesetzt sahen.

Im Falle Deutschlands wird die NATO-Mitgliedschaft von seinen westlichen und östlichen Nachbarn geradezu gewünscht, weil Deutschland dadurch zu einem dauerhaften Souveränitätsverzicht bewegt und von der Verfügung über Atomwaffen abgehalten werden kann. Die größte europäische Macht wird auf diese Weise zuverlässig eingebunden in eine gemeinsame westliche Machtstruktur, die sich auf die Menschenrechte verpflichtet hat.

Diese Zone relativer Sicherheit vor Krieg ist eine große historische Errungenschaft, die nicht aufs Spiel gesetzt werden darf. Sie muß vielmehr umgekehrt die Rolle eines Stabilitätsankers für die übrige Welt akzeptieren. Das bedeutet heute, nach der Beendigung der Ost-West-Konfrontation: Sie muß mehr Gewicht als vorher auf den Charakter ihrer Mitgliedsländer legen. Unter dem Druck des Kalten Krieges neigte die NATO dazu, aus strategischen Gründen auch mal Fünfe gerade sein zu lassen und griechische Obristendiktatur wie türkische Militärherrschaft zu akzeptieren.

Wenn heute die NATO angesichts des Beitrittswunsches osteuropäischer Länder ihre Erweiterung diskutiert, muß vor allem darauf geachtet werden, daß sie ihren Charakter nicht gefährdet. In politisch-militärische Bündnissysteme dieser Zone dürfen nur Länder aufgenommen werden, die republikanisch verfaßt sind und sich auf die Menschenrechtskultur verpflichten.

Es bedeutet weiter: Sie muß versuchen, dem Friedens- und Menschenrechtsziel der Vereinten Nationen reales Gewicht auf der ganzen Welt zu verleihen und ihre ökonomische und politische Macht dafür nutzen.

Und sie muß bereit sein, die wirtschaftliche und technische Entwicklung anderer Länder außerhalb der heutigen Zone relativer Sicherheit nach Kräften zu fördern, um ein Milieu zu stärken, in dem republikanische Verfassungen und Menschenrechte eine Chance haben.

Für die Grünen in der Bundesrepublik heißt das meiner Meinung nach, daß sie einerseits die Institutionen der UNO stärken und bereit sind, sich an Aktionen der UNO zur Sicherung der Existenz von UNO-Staaten und von Menschenrechten zu beteiligen. Das betrifft vor allem politische und wirtschaftliche Mittel. Im Falle der völkerrechtlichen Existenzgarantie von UNO-Mitgliedsstaaten beziehungsweise bei der Verhinderung von Völkermord und völkermordähnlichen Vorgängen kann aber auch der Einsatz militärischer Mittel notwendig sein.

Es heißt zum anderen, daß die Grünen die NATO als ein defensives Militärbündnis von Staaten akzeptieren, innerhalb derer die Menschenrechte weitergehend geachtet werden als in den meisten anderen Staaten der Erde. Die NATO hat eine Berechtigung als Bündnis der Staaten der Menschenrechtskultur. Unter diesem Gesichtspunkt sollte auch über ihre Erweiterung entschieden werden. Diejenigen ostmitteleuropäischen Staaten, die sich durch ihre aktuellen Handlungen und ihre Institutionen dazu bekennen, gehören dazu. Denn generell gilt, wir wollen für Frieden und gesicherte Menschenrechte einen "sich immer ausbreitenden Bund", um "so den Freiheitszustand der Staaten, gemäß der Idee des Völkerrechts, zu sichern, und sich durch mehrere Verbindungen dieser Art nach und nach immer weiter auszubreiten" (Kant).

Der Artikel ist der vierte und letzte Teil der Reihe ",Modernisierungskritische Modernisierer`? Überlegungen zur Strategie der Grünen", deren erste drei Teile in den Heften 3, 4 und 5/96 erschienen.