König Tudjman

Dunja Melcic

Obwohl Franjo Tudjman mit all seinen Leuten von der Regierung, in den Medien und im gesamten öffentlichen Dienst geradezu streberhaft alles daran gesetzt hat, einen unbezweifelbar überwältigenden Wahlsieg bei den Präsidentschaftswahlen am 15. Juli zu erringen, kann dieser "Triumph" nicht darüber hinweg täuschen, daß mit ihm zugleich das Ende der Ära Tudjman begonnen hat.

Welchen politischen Charakter die letzte Herrschaftsperiode Franjo Tudmans haben und wie lange sie dauern wird, wird sich erst zeigen. Daß ihm offensichtlich sehr daran gelegen war, eine plebiszitäre Unterstützung zu bekommen, wie die unabhängigen Kommentatoren im Lande betonen, ist sicherlich kein gutes Zeichen. Es ist etwas faul an einer solchen demokratischen Basis, wie sich bei näherem Hinschauen deutlicher zeigt: Von über 4 Millionen Wahlberechtigten1 haben 1,6 Millionen, also mehr als 40 Prozent an den Wahlen nicht teilgenommen. Dem plebiszitären Sieg Tudjmans steht so etwas wie ein Wahlboykott eines großen Teils der Bürgerinnen und Bürger Kroatiens gegenüber. Die oppositionellen Kandidaten Tomac und Gotovac erhielten 21 und 17 Prozent der Stimmen. Wie viele von den 1,3 Millionen Stimmen für Tudjman Wählerinnen und Wähler aus dem Nachbarstaat Bosnien-Hercegovina sind, kann ich den mir verfügbaren Zahlen nicht entnehmen, doch kann man annehmen, daß es nicht unter 250.0002 sind, die in Hercegovina und Mittelbosnien ihren "Papa" gewählt haben, wie sie Tudjman nennen. Abgesehen von multiplen politischen Folgen dieser Art des Mehrheitbeschaffens, das gleichzeitig Unterwanderung eines verbündeten Nachbarstaates ist, verändert diese illegitime Prozedur einer representation without taxation nachhaltig das politische Wesen der Republik Kroatien. Schon bei den Parlamentswahlen 1995 führte Tudjman seinen Coup mit sogenannten Diaspora-Kroaten aus, was dem kroatischen Parlament (Sabor) zwölf Mandate bescherte, die Menschen ausüben, die ihre Bürgerschaft nicht als Bürger Kroatiens, sondern als Angehörige des kroatischen Volkes erlangten und von ebensolchen Angehörigen gewählt wurden. Das auf jeden Fall wird eine Hypothek auch nach der Ära Tudjman bleiben, die auf der kroatischen politischen Kultur schwer lasten wird.

Wir wollen in einem Rückblick die Grundzüge von Tudjmans Herrschaft entwerfen, die ja so sehr mit seiner Person und seinem Charakter verbunden ist. Tudjmans Verständnis von der Demokratie erschöpft sich in dem durch sie legitimierten Erreichen einer nationalen Mehrheit. In der historischen Situation, in der er auf die politische Bühne trat, spielte diese Ebene der Demokratie tatsächlich die Hauptrolle. Die ersten demokratischen Wahlen in Kroatien und Slowenien 1990 demonstrierten zum ersten Mal die politischen Mehrheiten in diesen Republiken und legitimierten die mehrheitlichen politischen Entscheidungen, sich aus einem unmöglich gewordenen Staat und terroristischen System zu verabschieden. Auf jeden Fall ist es ein Faktum, daß seitdem zum ersten Mal in Kroatien eine Mehrheit über dessen politisches Schicksal entscheidet, während es in der Vergangenheit Minderheiten und Fremdbestimmungen waren. Tudjman entsprach auch der historischen Situation, die durch einen emanzipativen Willen entstanden war, indem er eine Bewegung anführte, die so etwas wie nationale Befreiung anstrebte.

Vielfach ist auf den anachronistischen Charakter einer solchen Bewegung zu Zeiten differenzierter Parteiensysteme moderner Gesellschaften hingewiesen worden. Das ist richtig, bloß handelte es sich zunächst um die Antwort auf eine anachronistische Situation. Im Europa der 90er mußten verschiedene Nationen im ehemaligen Jugoslawien erst um ihre Gleichberechtigung und um die Chance kämpfen, sich entsprechend den Wünschen der jeweiligen Mehrheiten gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich entwickeln zu dürfen. In solchen Situationen sind bewegungsähnliche Gruppierungen geeigneter als differenzierte Parteienprogramme betont demokratischer Politiker. Das mußten die Politiker oppositioneller Parteien spätestens beim Ausbrechen des Krieges erkennen, als es dann zu einer Koalitionsregierung und einer riesigen Mobilisierung der gesamten Bevölkerung kam, die ihre neugewonnene Freiheit verteidigen wollte. Dennoch hat der liberale Oppositionspolitiker Vlado Gotovac recht, wenn er Tudjmans Beharren auf der Bewegungspolitik kritisiert. Nach der Beendigung des Krieges, nach der erreichten Unabhängigkeit des Landes gibt es keinen Bedarf an politischer oder nationaler Bewegung. Dieser Grundcharakter von Tudjmans Politik wirkt sich nicht nur verheerend aus auf die innere Demokratisierung der Gesellschaft. Die Wirkung der noch immer bestehenden nationalen Bewegung liegt vor allem im Nachbarstaat Bosnien-Hercegovina und speist sich aus den Bestrebungen des Großteils der dortigen Kroaten, zu Kroatien zu gehören, dem Gefühl also ihrer noch nicht erreichten Freiheit. Das steckt hinter Tudjmans Anspruch, Präsident aller Kroaten zu sein. Und so hatte auch die Rückeroberung der von Serben besetzten Gebiete Kroatiens zwei Seiten: eine professionelle, ausgeführt von disziplinierten militärischen Einheiten und eine nationalbewegte, bei der die "Befreiung" zur "ethnischen Säuberung" der verlassenen Gebiete von wenigen hilflosen alten Menschen serbischer Herkunft ausartete.

Die gesamte Art Tudjmans, Politik zu machen, ist schillernd - mal tut er, was richtig und nötig, um danach in unzivilisierte Abgründe zu fallen. Als sich Anfang Juni die erste demokratisch gewählte Stadtversammlung in Beli Manastir konstituierte, der Stadt in Ostslawonien, die Anfang 1991 als erste putschartig von den Serben usurpiert wurde, geschah dies feierlich und würdig. Alle benahmen sich der historischen Stunde entsprechend. Franjo Tudjman, der eine versöhnliche Rede hielt, eben auch. Doch zehn Tage später auf dem Bahnhof von Vukovar - in die Stadt selbst durfte der kroatische Präsident nicht - nützte er die Gelegenheit, eine scharfe Wahlkampfrede zu halten, in der er vollkommen undiplomatisch betonte, daß nicht alle Serben, die das Land infolge der Rückeroberung verlassen hatten, nach Kroatien zurückkehren dürfen.

Vieles an der politischen Haltung Tudjmans ist aus der kroatischen politischen Tradition erklärbar, die voller Defizite ist, und zwar Defizite, die sich aus der Geschichte Kroatiens erklären. Seit Jahrhunderten waren politische Konzepte in Kroatien notgedrungen mit den Vorstellungen von nationaler Unabhängigkeit und politischer Freiheit verbunden, die die Ziele der inneren Demokratie überlagerten. Anders als einige Länder im Westen, die in analoger Situation der nationalen und politischen Unfreiheit existierten, betraf die Knechtschaft in Kroatien auch die gesellschaftlichen und ökonomischen Eliten, mit der Folge einer mangelhaften politischen Strukturierung der Gesellschaft und der Rückständigkeit der einheimischen Wirtschaft. Alle politischen Visionen waren durch die der nationalen Emanzipation überlagert. Sogar die kroatischen Kommunisten verfochten zwischen den Kriegen die Ziele der nationalen Befreiung von der großserbischen Diktatur, die sie mit der Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft vermengten. Auf diesem Boden entwickelten sich Tudjmans politische Gedanken.

Schon als Schüler sympathisierte er mit den Kommunisten, las begeistert Miroslav Krleza, der nicht nur herausragender kroatischer Schriftsteller, sondern auch kommunistischer Agitator war.3 Tudjman entstammt kleinbürgerlichen Verhältnissen, und diese waren in dieser Gegend nördlich von Zagreb (Zagorje) mehr als bescheiden. Er war ein sehr guter Schüler, aber für einen angemessenen Schulbesuch reicht das Geld nicht. In Zagreb besuchte er vor dem Krieg eine Handelsschule und zog sich beim Ausbruch des Krieges in sein Dorf in Zagorje zurück, ohne sein Abschlußdiplom abzuholen. Sein Vater war ein in der Gegend bekannter Politiker der Bauernpartei und stand wie der Sohn in Opposition zur Ustascha. Der junge Franjo schloß sich den kommunistischen Aufständischen an, was eine Art Untergrundtätigkeit bedeutete. Die Partisanenbewegung war in dieser bäuerlichen Gegend, der auch Josip Broz Tito entstammte, ziemlich schwach, und Tudjman, der mit Fragen der personellen Organisation beauftragt war, beschwerte sich oft in Berichten an seine vorgesetzten Kommissare über die Passivität der dortigen Bevölkerung. Aus Dokumenten und Zeugnissen von Tudjmans damaligen Mitstreitern geht ziemlich eindeutig hervor, daß er krankhaft ambitioniert, sehr arrogant und eingebildet war. Kaum jemand hatte ihn gern, zumal er sich oft aufzuspielen pflegte und es gleichzeitig immer verstand, sich von den Kämpfen fernzuhalten. Nach dem Krieg wollten ihm sogar seine Mitkämpfer zunächst nicht bestätigen, daß er zu den "Prvoborci", den antifaschistischen Kämpfern der ersten Stunde gehört habe.

Nach dem Krieg findet man ihn in Belgrad, wo er in der Abteilung für personelle Angelegenheiten der JVA - irgendwann mal im Rang eines Oberst - beschäftigt ist. Er hegt weiterhin große Ambitionen und beginnt sich als Hobby-Historiker zu betätigen. Das war nicht ungewöhnlich; die Sieger begannen, Zeitgeschichte nach ihrem Gusto zu schreiben - vor allem etwa in dem neuen Belgrader Institut für Militärgeschichte, das von serbischen Generälen dominiert wurde. Nun gehörten die Einheiten aus Zagorje nicht gerade zu den Kampftruppen, die entscheidend zum Sieg beigetragen hätten, weil die entscheidenden Kämpfe sich dort auch nicht abspielten. Offensichtlich aber war es Tudjman sehr daran gelegen, den Beitrag seiner und der kroatischen Einheiten bei dem Sieg ins rechte Licht zu rücken. Diese Tendenz ist bei seinen ersten Veröffentlichungen offensichtlich. In seinen Beiträgen setzte er sich oft auch gegen das typische kommunistische Mythologisieren des Widerstandes ein und erntete sogar das Lob von Martin Broszat für seine "bemerkenswert objektive Darstellung".4

Doch Tudjman war kein Wissenschaftler, sondern ein relativ intelligenter Kompilator, der sich weder scheute abzuschreiben noch davor, Texte anderer Autoren als eigene auszugeben, so etwa in seinen Büchern Krieg gegen den Krieg (1957) und Entstehung des sozialistischen Jugoslawien (1960), in denen der Klassenkampf, aber immer stärker auch der nationale Charakter des Antifaschismus in Kroatien betont werden. Wie und warum der hyperkarrieristische Tudjman Belgrad verlassen hat, ist noch nicht hinreichend geklärt. Festzustehen scheint, daß Tudjman, unzufrieden mit der Position in der Armee, die seinen übersteigerten Erwartungen nicht entsprach, mit seiner ganzen Umwelt zerstritten war; da eine Beförderung - vor allem nachdem er des Plagiats überführt wurde - ausgeschlossen schien, bemühte er sich um eine Position in Zagreb und bekam sie als Direktor des neugegründeten Instituts für die Geschichte der Arbeiterbewegung. Zuvor beförderte man ihn zum General - eine eher symbolische Geste. Mit dem Generalsrang konnte er in Zagreb mehr Eindruck machen. Im Institut führte er sich wie ein Kleindiktator auf und machte sich wieder unbeliebt, hatte aber einige einflußreiche Befürworter. Seine Arbeitsweise behielt er bei: Produkte von Teamarbeit gab er als seine eigene aus, benutzte unerlaubterweise Forschungsergebnisse aus unveröffentlichten Studien und machte sich daran, die Kroatische Bauernpartei in ihrer historischen Bedeutung zu rehabilitieren, was zwar nötig war, doch behandelte er die - politisch sehr heikle - Sache nicht wie ein wissenschaftlich geschulter Historiker. Statt einer kritischen Neubewertung wichtiger geschichtlichen Ereignisse, die von der offiziellen ideologischen Historiographie verfälscht wurden, lieferte Tudjman Beiträge mit eigenwilligen Thesen, die in ihrer politischen Absicht leicht zu durchschauen waren. So bewertete er die Vorkriegspolitik der Bauernpartei, die zur Gründung des im gewissen Sinne autonomen Gebiets der kroatischen Banovina 1939 geführt hatte - eines Gebiets, das aus Kroatien und Teilen Bosnien-Hercegovinas mit mehrheitlich kroatischer Bevölkerung bestand -, nicht nach historisch-wissenschaftlichen Kriterien neu, sondern verfocht die politische These, die sich wie eine politische Lösung für die Gegenwart anhörte und Teilung Bosniens hieß. Das kostete ihn den Direktoren-Posten und brachte ihn letztlich ins Gefängnis, allerdings mit schonungsvoller Sonderbehandlung. Tudjmans Nationalismus entwickelte sich, wie sein Biograph, Darko Hudelist, bemerkte, sprunghaft: Aus dem Kommunisten wurde Anfang der 60er Jahre mit einem Schlag gleich ein großkroatischer Nationalist.

Tudjman wird oft angeführt als jemand, der die Opferzahlen im kroatischen Ustascha-Staat willkürlich verniedlicht. Das stimmt so nicht: Er berief sich auf die Zahlen, die 1964 durch eine offizielle Erhebung in einer großangelegten empirischen Zählung von Kriegstoten gewonnen worden waren, aber geheimgehalten wurden. Typisch für Tudjman ist freilich, daß er diese Zahlen, die man erst wissenschaftlich methodologisch-kritisch hätte überprüfen und auswerten müssen, sofort für seine politischen Thesen verwendete. Diese "Methode" des politisierenden Historikers, der gegen die großserbisch angehauchte Historie oder das "künstliche Gebilde" Bosnien-Hercegovina kämpft, bringt auch Staatsmann Tudjman zur Anwendung. Als historisierender Politiker hat er etliche ausländische Politiker genervt. Aus dem dilettierenden Historiker wurde ein dilettierender, von Visionen geleiteter Politiker, der aus einem undifferenzierten Geschichtsbild folgt, das er noch plumperen kommunistischen und/oder großserbischen Geschichtsklitterungen entgegensetzte. Als Mann mit politischer, ja, historischer Mission ist Tudjman in seinen Überzeugungen unbeirrbar. Wenn man seine Kontrahenten aus Belgrad kennt, so waren diese Eigenschaften Tudjmans beim politischen Endspiel Jugoslawiens schon wichtig. Kompromißbereitschaft wäre in diesem Falle der Niederlage gleichgekommen. Aber Tudjman ist generell unbelehrbar, wie seine Politik gegenüber Bosnien-Hercegovina beweist. Der Mann mit dem zweifalhaften Doktorat zeichnet sich durch halbgebildete Besserwisserei aus. Das zeigt sich am verheerendsten darin, daß er alle Kompromisse und Zugeständnisse, die er sowohl gegenüber dem armen Nachbarstaat als auch gegenüber den demokratischen Forderungen im Inland eingegangen ist, nur taktisch versteht. Sein Bild von Bosnien-Hercegovina als künstlichem Gebilde ist die leitende Idee seiner Politik geblieben. Und niemand wird ihn überzeugen können, daß Kroatien nicht eines der "demokratischsten Länder der Welt" ist. Vielleicht gewinnt er diese Überzeugung aus dem Vergleich mit dem Regiment, das er als Direktor in seinem Institut einführte; denn so sehr er sich bemüht, kann er im Staat nicht so schalten und walten, wie er es streckenweise in seinem Institut vermochte.

Tudjman begnügte sich nicht damit, Präsident der Republik Kroatien zu sein. Die nationale Bewegung, die er durch das Streben, eine historische Mission zu erfüllen, inszenierte und die sowieso bloß eine halbe war, wird ihn nicht überleben. Erst nach ihm wird es möglich sein, jemanden an die Spitze des Staates zu wählen, der oder die im politischen Dienste der Republik stehen wird, ohne falsche historisierende politische Visionen auszuleben.

1 Diese Wählerschaft ergibt sich aus 3.664.693 Wählern, die im Frühjahr bei den Kommunal- und Distriktwahlen in Kroatien registriert waren und 377.000 Auslandskroaten (der neugegründeten Wochenzeitung Tjednik vom 13.6. zufolge).

2 OSZE schätzte die Zahl der Kroaten, die in Bosnien-Hercegovina an der kroatischen Präsidentenwahl teilgenommen haben, auf 330.000 (FAZ, 18.6.).

3 Vor kurzem hat der Journalist Darko Hudelist Materialien für eine kritische Biographie Tudjmans in einem Serial in der Wochenzeitung Globus veröffentlicht, dem ich viele im Artikel verwendete Einzelheiten verdanke.

4 Ladisalus Hory/Martin Broszat, Der kroatische Ustascha-Staat, 1941-1945, Stuttgart 1964, S. 10.