Familienmißbrauch

Harry Kunz

Ständig werden neue Fälle sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche enthüllt. Obskure sexuelle Praktiken, sadistische Vergewaltigungen, Kinderpornographie und -prostitution eignen sich dazu, den Voyeurismus der Zuschauer zu befriedigen und zugleich eine Auseinandersetzung mit Opfern und Tätern, mit Ursachen und Folgen sexuellen Mißbrauchs zu vermeiden. Als abwegige Praxis und polizeilich zu verfolgende Straftat dargestellt, brauchen Bezugspunkte sexueller Gewalt in der Mehrheitskultur nicht mehr hinterfragt zu werden.

Wo das mediale Scheinwerferlicht auf Abgründe des Mißbrauchs von Kindern aus broken families - meist aus der Unterschicht - gerichtet ist, erstrahlt das Ideal der heilen Familie in neuem Glanz. Doch seit rund 25 Jahren steht dieses Familienidyll auch in der Kritik. Bedingt durch Veränderungen in den Geschlechts- und Generationenverhältnissen wurde der Schleier des Schweigens über familiäre Gewalt und sexuellen Mißbrauch aus verschiedenen, teilweise widerstreitenden Perspektiven gelüftet: Die Diskussion der Frauenbewegung begriff Gewalt und sexuellen Mißbrauch gegen Frauen und Mädchen als Teil eines gesellschaftlich verankerten Machtverhältnisses innerhalb der Geschlechterbeziehung. Im Umfeld der "neuen Kinderschutzbewegung" wurde unter Bezug auf die Individualisierungstheorie sexueller Mißbrauch als Modernisierungsfalle gedeutet. Die therapeutische Debatte interpretiert sexuellen Mißbrauch als Teil grundlegender Beziehungsstörungen in der Familie. In der politisch-rechtlichen Diskussion geht es um das Wohl der Kinder, vor allem aber um die Identifizierung von Tätern und Opfern. Seit der Strafrechtsreform von 1973 entkoppelt sich das Recht von moralischen Wertungen und bindet Rechtsverstöße allein an objektiv nachweisbare Schäden durch Gewalt und Verstöße gegen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Doch sexueller Mißbrauch bildet keine diagnostische Kategorie in Medizin oder Psychologie, aus ihm kann eine Vielzahl an Symptomen resultieren. Typisch sind dem "Abschalten" während der Tat entsprechende spätere Depersonalisierungszustände, das Gefühl, neben sich zu stehen, fehlendes Selbstwertgefühl, Spaltungsphänomene und Selbstbeschädigungstendenzen.

Die moralische Aufladung der öffentlichen Kontroverse um sexuellen Mißbrauch zeigt indes an, daß es nicht nur um objektive, quantifizierbare Schädigungen von Kindern geht, sondern auch um den Versuch einer moralisch-politischen Selbstverständigung der Gesellschaft darüber, was Grundwerte wie Menschenwürde oder Autonomie im Umgang mit Kindern bedeuten.

Die im Dunkeln sieht man nicht... Gegen das verharmlosende Bild sexuellen Mißbrauchs als Taten einzelner Pädophiler, das strafrechtlich zu verfolgen sei, steht das in unterschiedlichen Versionen gezeichnete Sittengemälde alltäglicher Gewalt, wonach sexueller Mißbrauch übliche Praxis "ganz normaler Väter" oder anderer Bezugspersonen (Verwandte, Bekannte, Lehrer, Pfarrer, etc.) sei, die in einer engen sozialen Beziehung zu ihrem Opfer stehen. Für Mißbrauch im sozialen Nahraum des Opfers ist kennzeichnend, daß das Kind nicht ein fremdes Objekt zur sexuellen Erregung darstellt, sondern in einer sozialen und emotionalen Abhängigkeit vom Täter befangen ist. Solche Formen eines sozialen, auf zwischenmenschliche Beziehungen und Abhängigkeiten von Opfer und Täter abstellenden Inzests überwiegen nach allen vorliegenden Untersuchungen deutlich gegenüber sexuellem Mißbrauch durch Fremde. Diesem Täterprofil wird die übliche polizeiliche und sozialarbeiterische Praxis nicht gerecht. Deren Interventionen zielen auf eine Festnahme des Täters und die Herausnahme des Kindes aus dem Kontext des Inzests. Dabei verkennen sie die Abhängigkeit des Kindes von der Beziehung zum Täter, das heißt oftmals von der eigenen Familie. Die Herauslösung aus dem Beziehungskontext und die Inhaftierung des Täters verschärfen die psychische Situation des Opfers und erschweren die Aufarbeitung von Schuldgefühlen und der Verstrickung des Opfers, die der aktiven Auseinandersetzung mit einer Beziehungssituation bedürfen, die für das Kind zerstörerisch ist und von der es zugleich abhängig ist.

In der polizeilichen Kriminalstatistik findet die Bedeutung sozialer Inzestformen keinen Niederschlag. Je enger die Beziehung zwischen Opfer und Täter, um so wirkungsloser erscheinen polizeiliche Interventionen und das Recht. Insbesondere der oft langjährige sexuelle Mißbrauch innerhalb der Familie kommt kaum zur Anzeige. Und hiervon führt wiederum nur ein sehr kleiner Anteil zur Verurteilung.

Eine ernsthafte Diskussion, ob die Zunahme bekanntgewordenen Kindesmißbrauchs (jenseits der rückläufigen Straftatbestände) Ergebnis verstärkter Sensibilisierung und zunehmender Beratungs- und Therapieangebote ist oder aber auf eine wachsende Zerrüttung von Familien und anderer sozialer Netzwerke verweist, wird durch eine unzureichende Datengrundlage erschwert. Hierzulande ist trotz einer Vielzahl von Einzeluntersuchungen eine repräsentative empirische Aussage über das Ausmaß von sexuellem Mißbrauch nicht möglich. Die kursierenden Dunkelfeldschätzungen - zwischen 20.000 und 300.000 "unerkannten" (und zudem unterschiedlich definierten) Mißbrauchsfällen jährlich - kommen vor diesem Hintergrund einem interessegeleiteten Kaffeesatzlesen gleich.

Hohe Dunkelziffer und geringe Verurteilungsrate belegen jedenfalls den geringen Einfluß des Rechts auf die Praxis des sexuellen Mißbrauchs. Sofern dieser in etablierten und für das Kind oftmals alternativlosen Sozialbeziehungen stattfindet, kann das Strafrecht nicht einmal dem Interesse des Opfers und der anderen Familienangehörigen nach Erhalt des sozialen Bezugsraumes entsprechen.

Wenn Männer zu sehr lieben Väter (und damit die Kleinfamilie als soziale Institution) bilden eine relevante Tätergruppe, aber sie stellen ebensowenig wie der fremde "schwarze Mann", vor dem wir als Kinder achtgeben sollten, den Prototyp des Täters dar. Gleichwohl begreift der feministische Erklärungsansatz Inzestfamilien als Extrem der Normalfamilie und einer Kultur, die den männlichen Anspruch auf die Verfügung über Frauen bejaht. Sexueller Mißbrauch an Mädchen zementiere die patriarchale Ordnung, indem der Mißbrauch die Basis der Abhängigkeit der Frau von der männlichen Sichtweise und Anerkennung festige. Die Familie sei eine Gewaltstruktur, die Sexualität durch ein Netzwerk von Moral, Herrschaft, Gewalt, Schuldgefühlen und Unterwerfung nur in repressiver Form ermögliche. Foucoults Deutung der Familie als "Sexualitätsdispositiv" bringt diesen Gedanken auf den Punkt: "Der Inzest wird ständig bemüht und abgewehrt, gefürchtet und herbeigerufen (...), damit die Familie der Dauerbrennpunkt der Sexualität bleibt" (Foucault, 1983). Solche Ineinssetzung von Familie und Inzestpraxis macht es sich zu einfach. Familien können auch Perspektiven gelingenden Lebens für alle Beteiligten bieten, in jedem Falle aber die Verheißungen wechselseitigen Vertrauens, der Liebe, der Zuneigung und der ungezwungenen Nähe. Inzestuöse Verhaltensweisen sind nicht notwendige Folge der auf Familien und familienähnliche Beziehungen begrenzten Gemeinschaften, sondern Ausdruck ihrer Zerstörung. Vorhandene Untersuchungen belegen, daß die Zahl pädophiler und solcher Familien gering ist, wo Inzestbeziehungen Teil allgemeiner, meist mit Gewalttätigkeit einhergehender Promiskuität sind. Die Mehrheit der Mißbrauchsfamilien lebt sozial unauffällig und angepaßt an die Forderungen der Mittelklasse. Augenfällig ist lediglich die soziale Isolation, das Fehlen unterstützender Beziehungen zur Außenwelt. In dieser sozialen Beziehungslosigkeit werden Aspekte der innerpsychischen Realität der Täter sichtbar, weniger im Rollenverhalten. Gleichzeitig gilt die feministische These vom Familienpatriarchen für diese Tätergruppe nicht mehr ohne weiteres. Kehrseite einer auf Gleichstellung abzielenden Emanzipation der Frau und ihrer größeren außerhäuslichen Selbstentfaltungschancen ist, daß auch die Männer immer stärker aus ihrer Verantwortung für die Familie entlassen werden. Die Übernahme der sozialen Vaterschaft und ihre Ausgestaltung sind nicht mehr selbstverständlich vorgegeben, sondern öffnen sich dem Entscheidungshandeln. Dies gilt etwa für jene "Muß-Ehen" bei einer Schwangerschaft der Frau, wo zumeist zwar gemäß konventionellem Rollenverhalten geheiratet wird, die innere Verpflichtung, dem Rollenverhalten als Vater zu entsprechen, aber oft fehlt.

Für manche nur eine Attrappe ohne innere Bindung, kommt für andere der Familie eine emotionale, den Selbstwert der Eltern wesentlich definierende Bedeutung zu. Hier öffnet sich eine weitere Modernisierungsfalle: Die Verheißungen individueller Selbstverwirklichung mittels einer aus Liebe formierten Familie prallen auf die realen Konsequenzen gesellschaftlicher Modernisierung. Versagte Anerkennung, beruflicher Mißerfolg, gescheiterte Aufstiegshoffnungen können die Selbstachtung derart beeinträchtigen, daß Aggressionen gegen andere gewendet werden, Selbstbestätigung wird in der Erniedrigung Schwächerer gesucht. Oder emotionale Bedürfnisse des Erwachsenen können angesichts frustrierender, kalter Familienbeziehungen nur inzestuös befriedigt werden. Solches Verhalten zielt nicht einfach auf Triebabfuhr, sondern bildet ein Surrogat für das Bedürfnis nach Sicherheit, Wohlfühlen und Geborgensein, das der Täter nur in sexualisierter Form artikulieren kann. Dabei steht das Kind ständig in der Gefahr, als Ventil für die Konflikte der Eltern benutzt zu werden. Mißbrauch und andere Formen der Kindesmißhandlung stabilisieren die Familie, indem die Kinder als "Blitzableiter" fungieren und die Eltern ihre Aggressionen nicht aufeinander richten (Hirsch, 1994).

Die bekannt gewordenen Inzestformen innerhalb der Familie bestätigen sowohl den feministischen Erklärungsansatz wie ein Verständnis als Individualisierungsfolge. Mißbrauch bei größeren Mädchen wird hauptsächlich einem tyrannischen, dominierenden Vatertyp zugeschrieben, während Väter, die Vorschulkinder mißbrauchen, häufiger als abhängig und passiv beschrieben werden und über wenig Selbstachtung verfügen. Detaillierte Kenntnisse über diesen Tätertyp liegen kaum vor, weil ihre Vergehen besonders selten strafrechtlich verfolgt werden. Das Redeverbot ist Bestandteil des Inzests. Auch heute ist es noch ein wirksames Tabu, über sexuellen Mißbrauch im Verwandten- und Bekanntenkreis zu sprechen. Selbst die Opfer schweigen, weil sie Schuldgefühle mit sich tragen, am Inzest beteiligt zu sein oder vom Täter sozial oder emotional abhängig sind.

Eine Frage der Ehre?

Warum sind sexuelle Aktivitäten von Erwachsenen mit Kindern abzulehnen? Die intuitive Ablehnung durch die moral majority als "unnatürlich" oder als ästhetisch abstoßend überzeugt nicht, weil sich hierin jene Selbstgerechtigkeit artikuliert, mit der zum Beispiel auch Homosexualität diskriminiert wird. Auch der Verweis auf die physischen und psychischen Schädigungen kann die rechtliche und ethische Diskriminierung sexueller Kontakte zu Kindern unabhängig von Interessenabwägungen nicht begründen. Erhebliche Schäden für die betroffenen Kinder rufen beispielsweise oftmals auch Ehescheidungen hervor.

Die besondere Qualität des Mißbrauchs liegt in der Zerstörung der ethischen Dimension der Beziehung zum Kind. Der Erwachsene ist derjenige, der sich der Bedeutung von Sexualität in der Beziehung zwischen Menschen bewußt sein sollte. Für den Psychoanalytiker Mathias Hirsch beginnt der Mißbrauch mit der Unfähigkeit der Erwachsenen, "Grenzen von Privatheit, Körperlichkeit und Sexualität im Kontakt mit ihren Kindern taktvoll zu spüren und einzuhalten" (Hirsch (1994, 16). Mißbrauch setzt da ein, wo die Bedürfnisse, die befriedigt werden sollen, diejenigen des Erwachsenen sind. Er nimmt, ohne zu geben. Den Vorrang des Kindes ignoriert er. Deshalb kann es keine einvernehmlichen Sexualkontakte geben, solange das Kind aufgrund seines Entwicklungsstandes keinen Begriff von dem hat, dem es vielleicht sogar zustimmt. Ein Widerstand des Kindes ist schon deshalb ausgeschlossen, weil das Kind abhängig von den Eltern ist. Da die zu jeder Entscheidung zugehörige Freiheit fehlt, ist sexueller Kontakt immer mit Gewalt - und sei es die der Überredung, der Verführung und der Schmeichelei - seitens des Erwachsenen verbunden. Unabhängig davon, ob es schadet, kündigt der sexuelle Mißbrauch die Verantwortung für den anderen auf und zerstört damit die Soziabilität.

Hat die in der Kultursoziologie beobachtete Tendenz zur Erlebnis- oder Spaßgesellschaft, wonach die individuelle Maximierung als lustvoll empfundener Ereignisse als wichtigstes individuelles Lebensziel gilt, Auswirkungen auf Formen und Häufigkeit des Inzests? Auch Kinder sind Teil dieser Lebensphilosophie. Weitgehend ohne wirtschaftlichen Nutzen, erfüllt das Kind wesentliche psychologische Funktionen für die Eltern: Sinnstiftung, Statusrepräsentation, Verwirklichung des elterlichen Ich-Ideals im Kind, das "es einmal besser haben soll". Mißbrauch ist die auf die Spitze getriebene narzißtische Besetzung des Kindes durch Eltern oder Bekannte, die ihre Bedürfnisse ohne Rücksicht befriedigen. Dies kann durchaus Zuwendung einschließen. Ein Sichsorgen mit dem Junktim, daß das Kind primär für die Eltern da ist. Narzißtische Besetzungen des anderen Menschen sind keine Erfindung der Gegenwartskultur. Auch die ehedem dominierende Vorstellung, Kinder als elterlichen Besitz zu verstehen und zu behandeln, war Ausdruck narzißtischer Besetzungen. Neuartig ist, daß das Ausleben dieses Impulses weniger durch traditionale Rollenverständnisse und rigide Normen begrenzt wird. An ihre Stelle tritt der double-bind moderner Moral, der einen Anspruch auf individuelles Glück für jeden postuliert - auch, indem der andere Mensch unbedenklich für die eigenen Interessen instrumentalisiert wird. Die an die Stelle rigider Verhaltensnormen tretenden vielfältigen rechtlich-institutionellen Schutzmechanismen verlangen wiederum ein Maß an Selbstbeherrschung, Beziehungsfähigkeit und Realitätssinn des einzelnen, das nicht einfach als allgemein gegeben unterstellt werden kann. Die Psychoanalyse sieht als Voraussetzung von Beziehungsfähigkeit und Gewissen eine affektive Bindung des Kindes an Liebesobjekte, die im Ödipuskomplex (Verzicht auf ein Befriedigungserlebnis angesichts dessen zerstörerischer Wirkung) und im Tabu des Vatermordes (Verzicht auf Brutalität gegen andere) Grenzen im Wissen erfährt, daß solche perversen Formen die ersehnte Geborgenheit und Nähe gerade zerstören. Wo Kinder in weitgehender Beziehungs- und Bindungslosigkeit aufwachsen, schreibt sich diese Beziehungsunfähigkeit fort, fehlt die Einsicht in den Sinn von Grenzen und wird so der Keim für eine neue Mißbrauchsgeneration gelegt. Staatlicher Kinderschutz zielt ins Leere, wo die persönlichen Voraussetzungen fehlen, Kinder als eigenständige Wesen zu akzeptieren.

Aus diesem grundlegenden Dilemma des Kinderschutzes bietet eine Strategie, das Wohl des Kindes mit Zwang zu sichern und seinen Schutz mit einer Entmachtung der Eltern erreichen zu wollen, keinen Ausweg. Die verbreitete Vorstellung, vordringlich sei, das Opfer aus inzestuösen Kontexten zu befreien bzw. den Inzesttäter dingfest zu machen, widerspricht der Perspektive des Opfers. Natürlich ist in konkreten Notfällen oder dann, wenn betroffene Kinder und Jugendliche dies wünschen, eine Fremdplazierung angebracht. Als allgemeine Orientierung wird diese Vorgehensweise den fortbestehenden Beziehungsproblemen und ambivalenten Empfindungen des Opfers gegenüber dem Täter aber nicht gerecht. Zudem fällt aus dem Blick, was mit den "befreiten" Opfern passiert. Der Psychoanalytiker Jörg Wiesse berichtet aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie: "Die Patientinnen sind in der stationären Therapie bei Mitarbeiter/innen eher ungeliebt, es wird bald auf Entlassung gedrängt, offensichtlich enttäuschen sie zu schnell und bedrohen zu sehr" (Berger/Wiesse, 97). Der Umstand, daß die Motivation mancher Eltern, ein Kind in Pflege zu nehmen, sexuell gefärbt ist, wird ebenso tabuisiert wie die Praxis sexuellen Mißbrauchs in Heimen, wo die Betroffenen genau dem gleichen Teufelskreis aus übertriebener Nähe und betretenem Schweigen ausgesetzt sein können wie in der Herkunftsfamilie. Selbst eine kontinuierliche therapeutische und pädagogische Begleitung sexuell mißbrauchter Kinder und Jugendliche findet nicht regelmäßig statt, oder diese Angebote werden nicht angenommen. Eine Auseinandersetzung mit den Schuldgefühlen und der Verstrickung des Opfers bleibt aus, der Weg für eine Inzestkarriere oder eine Fortschreibung der Inzestgenerationenfolge ist frei.

Hilfe statt Strafe? Die vom Deutschen Kinderschutzbund entwickelte Konzeption, auf Fremdplazierungen möglichst zu verzichten und keine Interventionen gegen den Willen der Eltern vorzunehmen, setzt voraus, daß der Leidensdruck all die Hemmungen und Vermeidungsstrategien der Täter, ihre bisherige Lebensform in Frage zu stellen, übersteigt. Aber auch eine gerichtlich angeordnete Zwangstherapie kann Verhaltens- und Einstellungsveränderungen bei den Tätern bewirken. Denn eine fehlende Inanspruchnahme von Hilfe bedeutet nicht, daß kein Veränderungswille vorhanden sei (Cirillo, 1992). Wo ein Mindestmaß von wie immer fehlgeleiteter Empathie und Scham vorhanden ist, wo sexueller Mißbrauch ein Surrogat für die Suche nach Nähe und Anerkennung bildet, ist eine Therapiefähigkeit gegeben. Anreize für Täter, aktiv an der eigenen Resozialisierung mitzuwirken, sucht man aber in den vorliegenden politischen Vorschlägen zu sexuellem Mißbrauch vergebens. So wenden sich die Grünen zwar gegen schärfere Strafen für Mißbrauchstäter, die Möglichkeit einer Strafaussetzung für Täter - unter der Auflage eines entsprechenden Therapie- und Resozialisierungsprogrammes - wird aber nicht einmal erwogen. Die von ihnen geforderte strafrechtliche Einstufung schweren sexuellen Mißbrauchs als Verbrechen statt als Vergehen würde Verfahrenseinstellungen bei Erfüllung von Auflagen vielmehr unmöglich machen (Den Schutz von Kindern vor sexualisierter Gewalt verbessern, BT-DS 13/7087).

Freilich könnte jene kleine Tätergruppe, die aufgrund eigener kindlicher Sozialisationsschäden bindungs- und beziehungsunfähig ist, auch durch Therapieangebote kaum erreicht werden. Wo sollte eine therapeutische Aufarbeitung von Schuld bei antisozialen Tätern ansetzen, für die Begriffe wie Liebe, Vertrauen oder Mitgefühl letztlich bedeutungslos sind?

LITERATUR:

L. Alcoff u. a. (Hg.), Sexueller Mißbrauch. Widersprüche eines öffentlichen Skandals, Hamburg (Argument Verlag) 1994

Dirk Bange, Die dunkle Seite der Kindheit. Sexueller Mißbrauch an Mädchen und Jungen, Köln (Volksblatt Verlag) 1992

Margarete Berger/Jörg Wiesse, Geschlecht und Gewalt, Göttingen/Zürich (Verlag Vandenhoek & Ruprecht) 1996

Stefano Cirillo, Familiengewalt. Ein systematischer Ansatz, Stuttgart (Klett-Cotta Verlag) 1992

Günter Deegener, Sexueller Mißbrauch - die Täter, Weinheim (Psychologie Verlagsunion) 1995

Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Frankfurt/Main (Suhrkamp Verlag) 1983

Mathias Hirsch, Realer Inzest, Berlin/Heidelberg/New York (Springer Verlag) 1994

Wolfgang Krieger, Sexueller Mißbrauch und Heimerziehung: Zur Situation sexuell mißbrauchter Kinder und Jugendlicher im Heim, Berlin (Verlag für Wissenschaft und Bildung) 1995