Die These vom Stillstand in Bonn ist falsch

Wie auch SPD und Grüne in neoliberales Fahrwasser geraten sind

Renée Krebs/Danyel Reiche

Es ist in Mode gekommen, den "Stillstand" in Bonn zu beklagen. Tatsächlich hat sich in der Ära Kohl in der Bundesrepublik eine ganze Menge bewegt. Eine Politik der schleichenden Neoliberalisierung hat das Gesicht der Republik grundlegend verändert. Der Übergang vom Nachkriegsmodell einer sozialen Marktwirtschaft zum Turbokapitalismus à la Kohl & Westerwelle vollzieht sich dabei für viele kaum wahrnehmbar und kann dadurch seine langfristig schrecklichen Folgen kaschieren.

Die Konservativen haben den Gesellschaftskompromiß zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft aufgekündigt. Das gemeinwohlorientierte Nachkriegsmodell einer "mixed economy" ist von ihnen abgelöst worden. Ihre Sachzwanglogik des "Alles muß sich rechnen" hat fast alle Bereiche öffentlicher Infrastruktur den Mechanismen des Marktes unterworfen. Dessen propagierte Effizienz ist verheerend: Bei der Telekom werden bis zur Jahrtausendwende 6<%10>0<%0>000 der 23<%10>0<%0>000 Beschäftigten Opfer der Marktöffnung und "freigesetzt". Auch die Liberalisierung des Eisenbahnverkehrs ist ein Job-Killer. Die Öffnung der Rundfunkmärkte 1984 hat statt des propagierten Wettbewerbs einen noch nie dagewesenen Monopolisierungsgrad herbeigeführt, zwei Familien dürfen sich hier - ganz im Namen der Marktwirtschaft natürlich - den Kuchen aufteilen. Die Liberalisierung im Luftverkehr hat zu einem brutalen Verdrängungswettbewerb und Dumpingpreisen geführt. Daß die Bahn insbesondere bei Inlandsflügen nicht mehr wettbewerbsfähig gegenüber dem Flugzeug ist, erzeugt schlimme ökologische Folgen. Auch die Marktöffnung im Energiesektor verkommt zu einem Preissenkungsprogramm mit vorhersehbaren Verbrauchssteigerungen. Beschäftigungsabbau, Tendenzen zur Konzentration und eine Zunahme des Umweltverbrauchs - die Privatisierungsoffensive der Konservativen hat voll durchgeschlagen.

In Sonntagsreden wird die Massenarbeitslosigkeit beklagt. Tatsächlich ist sie Stützpfeiler einer Wirtschaftsordnung, deren Programm Lohndumping und Flexibilität sind. Der drohende Verlust des Arbeitsplatzes übt auf die Beschäftigten eine disziplinierende Wirkung aus. Um den Druck zu erhöhen, hat die Bundesregierung nun auch noch den Kündigungsschutz gelockert. Schließlich sei es, so beklagte der Bundeswirtschaftsminister, in Deutschland immer noch zu schwierig, jemanden zu entlassen.

Garniert mit dem unredlichen Versprechen auf neue Jobs verabreicht die Bundesregierung ihre neoliberale Medizin. Durch Lohnzurückhaltung und großzügige Steuersenkungen für Unternehmen ist angeblich eine Wende am Arbeitsmarkt möglich. Tatsächlich wird lediglich die einzelwirtschaftliche Rentabilität gestärkt. Die steigenden Gewinne werden nicht für beschäftigungsschaffende Erweiterungsinvestitionen verwandt, sondern an den internationalen Finanzmärkten angelegt und für Unternehmensaufkäufe im Ausland eingesetzt. Statt wirksam gegenzusteuern, läßt sich die Regierung Kohl mit leeren Versprechungen abspeisen - und bleibt auch dann tatenlos, wenn etwa die 1996 vom Handwerk im Gegenzug für die Aufhebung des Kündigungsschutzes angekündigten 500.000 zusätzlichen Arbeitsplätze nicht geschaffen werden.

Die "geistig-moralische Wende" hat ein neues Menschenbild produziert. In der Ellbogengesellschaft ist "jeder seines Glückes Schmied", die darwinistische Welt des Kampfes aller gegen alle erfährt eine Neuauflage. Der Neoliberalismus verkörpert die Ordnung des einsamen, aber freien Individuums. Die "Kräfte des Marktes" erscheinen inzwischen fast schon als eine unabhängige Instanz, so daß leicht vergessen wird, daß mit ihnen natürlich Interessen durchgesetzt werden. Auch andere gesellschaftliche Bereiche müssen sich dem Primat der Ökonomie unterordnen. Kritiker werden als Besitzstandswahrer diffamiert.

Schuld an der Massenarbeitslosigkeit sind in der kohlschen Lesart die Arbeitslosen selbst, nicht etwa der Rationalisierungsdrang der Wirtschaft oder ein Versagen der Politik. Arbeit sei im "Freizeitpark" Bundesrepublik schließlich genug da, schallt es uns aus den Mißbrauchskampagnen der Konservativen entgegen, während Arm und Reich in der Bundesrepublik immer weiter auseinanderdriften. Die Ränder der Gesellschaft wachsen, während die Mittelschicht erodiert. Vermögensmillionäre und Sozialhilfeempfänger haben sich in der Ära Kohl jeweils verdoppelt. Das verfügbare Realeinkommen Selbständiger stieg von 1980 bis 1995 um 54,3 Prozent, während das der Arbeitnehmer im gleichen Zeitraum um zehn Prozent sank. Lohnsteuer und Sozialabgaben auf die durchschnittlichen Arbeitseinkommen stiegen seit 1980 um ein Viertel auf 35 Prozent, während im gleichen Zeitraum der Anteil der Ertragssteuern der Unternehmen von 16 auf fünf Prozent der gesamten Steuereinnahmen fiel. Unser Steuersystem bietet den Reichen und Superreichen zahlreiche Schlupflöcher, während bei den Kleinen erbarmungslos abkassiert wird. Die Ungleichheit wurde auch durch die Finanzierung der Einheit aus den Sozialkassen befördert. Die Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben ist in der Bundesregierung politisches Programm.

Besonders unredlich am Neoliberalismus Marke Kohl ist, daß er seine Politik als fortschrittlich deklariert und mit Begriffen des politischen Gegners besetzt. So ist der Reformbegriff in der Bundesrepublik schamlos seines Ursprungssinns beraubt worden. Früher verstanden die Menschen unter Reformen eine Politik, die ihnen und ihrer Umwelt zugute kam. Wenn etwa von der Reform der Lohnfortzahlung oder aber der Reform des Kündigungsschutzes die Rede ist, tritt das Gegenteil ein: Die Menschen haben weniger Geld im Portemonnaie und leben in größerer Unsicherheit. Wenn ausgerechnet die FDP heute als "Reformpartei" auftritt, ist der Gipfel der Unverfrorenheit erreicht.

Mit Genugtuung stellte SPD-Kanzlerkandidat Schröder "das marktwirtschaftlichste Wahlprogramm" vor, das seine Partei je erarbeitet hat. Tatsächlich sind Schröders sozialdemokratische Modernisierungs- und Reformpolitik und in ihrem Gefolge das SPD-Wahlprogramm am Kanon der neoklassischen Doktrin orientiert. Dies hindert Schröder jedoch keineswegs daran, neoliberale Rezepte in den Wind zu schlagen und zum Beispiel ein Stahlwerk in staatliche Regie zu übernehmen, wenn dies wahlkampfmäßig opportun ist.

Gebetsmühlenartig beschwört das SPD-Programm "mehr Wachstum und neue Arbeitsplätze". Diese Formel, mit der gleichzeitig eine politische Aufbruchstimmung und die eigene Problemlösungskompetenz in Wirtschafts- und Arbeitsmarktfragen vermittelt werden soll, weigert sich, die Realität globalisierter Konkurrenz und deren verheerende ökologische Konsequenzen und destruktive Folgen für den Arbeitsmarkt zur Kenntnis zu nehmen. Quantitatives Wachstum als Konzept zur Verringerung der Arbeitslosigkeit führt zu einem rasant fortschreitenden Prozeß der Plünderung und Verschmutzung unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Anstatt die Frage in den Blick zu nehmen, was wachsen soll und wie diese Wachstumsprozesse zu gestalten sind, setzt die Formel "mehr Wachstum und neue Arbeitsplätze" auf eine weitere undifferenzierte Entfesselung der von der SPD positiv beschworenen Marktkräfte, deren Konsequenzen wir bereits heute schmerzhaft spüren. Selbst wenn man der umweltgefährdenden Verheißung des quantitativen Wachstums folgen wollte, sind die Wachstumsraten, die binnenwirtschaftlich in der Bundesrepublik erreicht werden müßten, um nachhaltig arbeitsplatzschaffend zu wirken, von einer auch für Optimisten unvorstellbaren Höhe.

Darüber hinaus suggeriert die Parole "Wachstum und neue Arbeitplätze" einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen diesen beiden Faktoren. Tatsache ist: Ein enormes Ansteigen der Produktivität - immer weniger Menschen stellen immer mehr Güter und Dienstleistungen her - führt zum Phänomen des jobless growth. Das Wirtschaftswachstum hat sich im Gegensatz zu den guten alten Zeiten der sozialen Maktwirtschaft von der Entstehung von Arbeitsplätzen weitgehend abgekoppelt - der Aufschwung geht am Arbeitsmarkt vorbei.

In ihrem Wahlprogramm hat die SPD ihre Liebe zu den "Kräften des Marktes" entdeckt. Enthusiastisch setzt sie auf die Kräfte des Marktes, also jene Kräfte, die sich einerseits mit tatkräftiger Unterstützung der Bundesregierung in den vergangenen 15 Jahren prächtig entfaltet und andererseits zu einer Rekordarbeitslosigkeit und der Zerrüttung der Staatsfinanzen beigetragen haben. Die undifferenzierte Befürwortung der auf Konkurrenz und Profitmaximierung beruhenden "Marktkräfte" entspricht dem neoklassischen Modell, nach dem das möglichst unregulierte Spiel des Marktes einen Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage bewirke und letztlich arbeitsplatzschaffend sei. Ebenso fortschrittsoptimistisch wie falsch behauptet das Wahlprogramm: "Der marktwirtschaftliche Leistungswettbewerb der Unternehmen ist der beste Motor für Innovationen und neue Arbeitsplätze". Das gipfelt in der Behauptung Gerhard Schröders: "Denn das ist die historische Erfahrung der Menschen, für die die Arbeiterbewegung zu arbeiten hat: Wenn es der Wirtschaft gutgeht, fällt für uns etwas ab, wenn es ihr schlecht geht, sind wir die zuerst Gekniffenen, und keine Gewerkschaft, keine SPD kann uns schützen." Diese Feststellung spiegelt angesichts von jobless growth und taxless growth neoliberale Ideologie statt Realitätssinn wider. Wer ihr anhängt, wird den von der derzeitigen Regierung beschrittenen neoliberalen wirtschaftspolitischen Kurs weiterverfolgen, ohne sein erklärtes Ziel, den "Interessenausgleich nach dem Grundsatz des gegenseitigen Gebens und Nehmens", realisieren zu können. Die starke Wirtschaft, die das SPD-Programm beschwört, ist ökologisch und sozial blind. Statt Arbeitsplätze zu schaffen, wird in ungeahntem Ausmaß rationalisiert, werden bestimmte Produktionszweige ins Ausland verlagert und Gewinne zunehmend an den internationalen Finanzmärkten erzielt.

Ein konsequentes Plädoyer für einen steuernden Staat, der den Kräften des Marktes Moral und Richtung geben könnte, fehlt im Programm der SPD. Sie setzt heute weniger denn je auf den Staat. Dies allerdings nicht, weil sie ihn wie die zur neoliberalen Kampftruppe gewendete FDP immer schon als Freiheitsbeschränkung empfunden hätte, sondern weil der Staat als Schutzmacht der kleinen Leute zunehmend versagt. Das neue Credo scheint zu sein: Wer seinen Lebensstandard erhalten will, darf sich nicht mehr auf den Staat und seine Umverteilungsmechanismen verlassen, sondern muß jetzt selbst mehr leisten.

Weder die neoliberale Angebotstheorie eines Gerd Schröder noch die eher nachfrageorientierte Sichtweise eines Oskar Lafontaine werden die SPD befähigen, ihr Ziel der Wiederherstellung von Vollbeschäftigung zu erreichen. Im SPD-Wahlprogramm sind eine Reihe von Vorschlägen enthalten, die zu einer tatsächlichen Reduzierung der Arbeitslosigkeit führen können (Job-Rotationsprinzip für Langzeitarbeitslose, Subventionierung von Arbeitsplätzen im Bereich der personen- und haushaltsbezogenen Dienstleistungen, Arbeitszeitverkürzung). Die strukturelle Arbeitslosigkeit, der wir uns gegenübersehen, ist jedoch durch diese Maßnahmen nicht zu beseitigen. Ihr können wir nur entgegenwirken, wenn wir dem Arbeitsbegriff einen neuen Inhalt auch jenseits traditioneller Erwerbsarbeit geben. Der staatlich finanzierte Ausbau eines dritten Beschäftigungssektors, in dem Arbeitsplätze entstehen, die der Markt nicht hervorbringt, weil sie sich "nicht rechnen", fehlt im Programm der SPD. Kein Wunder, würde er doch einen Abschied vom für die Sozialdemokratie identitätsstiftenden Modell der traditionellen Vollbeschäftigung und eine Anerkenntnis marktwirtschaftlich geschaffener struktureller Arbeitslosigkeit erfordern. Eine grundlegend andere Politik wird erst möglich sein, wenn eine Regierung eingesteht, daß der Markt allein es nicht mehr richtet. Es ist zu bezweifeln, daß die SPD zu einem solchen Eingeständnis bereit ist.

Im Bemühen, gute Stimmung zu verbreiten, werden nicht nur die Kräfte des Marktes, sondern auch die Globalisierung schön geredet: "Wir wollen, daß die deutsche Wirtschaft die Chancen der Globalisierung nutzt." Der SPD-Kanzlerkandidat forderte in seiner Rede auf dem Hannoveraner Parteitag sogar, Deutschland müsse im Prozeß der Globalisierung "Hammer und nicht Amboß" sein. In puncto Globalisierung leidet die SPD unter partiellem Realitätsverlust. Die deutsche Wirtschaft nutzt auch schon ohne die anfeuernden Aufrufe der SPD ihre Chancen: Sie ist - pro Kopf gerechnet - Exportweltmeister und betätigt sich als erfolgreicher global player. Die Bedeutung der Binnenwirtschaft tritt demgegenüber zurück und mit ihr die Schaffung von Binnennachfrage, die zu einem Abbau der Arbeitslosigkeit beitragen könnte. Die schwindelerregenden Gewinne, die durch länderübergreifende Finanztransaktionen erzielt werden, bleiben von der SPD unangetastet. Gerd Schröder irrt sich, wenn er behauptet: "Das Treiben auf den internationalen Finanzmärkten hat mit Kapitalismus in seinem ursprünglichen Sinn nur noch wenig zu tun." In der globalisierten Form kommt der Kapitalismus zu seiner reinsten und "modernen" Ausdrucksform. Multinationale Konzerne und die Finanzjongleure auf dem internationalen Finanzmarkt haben längst nationale Grenzen eingerissen und interessieren sich immer weniger für die Arbeitsmarktlage in einzelnen Ländern.

Wer auf die Globalisierung der Marktkräfte ohne deren internationale Regulierung im Interesse einer nachhaltigen, der solidarischen internationalen Zusammenarbeit verpflichteten Politik setzt, reitet einen Tiger, der zu mehr statt weniger Arbeitslosigkeit, zu einem verschärften Wohlstandsgefälle sowie einer ruinösen Ausbeutung von Ressourcen führt. Wer Hammer und nicht Amboß sein will, schlägt nicht nur wirtschaftliche Konkurrenten aus Industrienationen, sondern vor allem die Länder des Südens vor den Kopf.

Zusammenfassend läßt sich ein tiefgreifender Wertewandel in der SPD feststellen. Innovation und Modernisierung sind die Chiffren, hinter denen sich ein neoliberales Konzept verbirgt. Vorschläge, die auf eine tatsächliche soziale Integration abzielen, wirken demgegenüber im SPD-Wahlprogramm bloß aufgesetzt. Da, wo früher der SPD die Sonne des Sozialismus schien, sendet heute der modernisierte, innovative Kapitalismus seine Strahlen auf das Wahlvolk. Einzig in der Forderung nach "Fußball für alle" findet sich noch ein Quentchen sozialistischer Gleichheitstheorie. Die SPD hat tatsächlich das marktwirtschaftlichste Wahlprogramm aller Zeiten vorgelegt. Sie erweist sich damit als unfähig zur Lösung struktureller gesellschaftlicher Probleme.

Bei den Grünen hat eine Gruppe von Unter-Dreißigjährigen die Doktrin des Neoliberalismus tief inhaliert. Ein Papier unter dem Titel "Start 21 - Start in den Staat des 21. Jahrhunderts" konstruierte einen Generationenkonflikt in der Partei und fand in der Öffentlichkeit Beachtung, weil angeblich nur der Nachwuchs, nicht aber die Alt-68er den Wechsel in Bonn wollten. Bahnbrechender an dem Text ist hingegen, daß Grundannahmen und Lösungsvorschläge der Neoliberalen unwidersprochen übernommen werden. Falsch ist zum Beispiel, daß die Globalisierung die Politik "überrollt" und zur Tatenlosigkeit verdammt. Zum einen hat die Politik gezielt Handelsbeschränkungen abgebaut und die Bedingungen für den zunehmenden Freihandel geschaffen. Bei einer deutschen Exportquote von gerade einmal rund 20 Prozent und der Standortgebundenheit vieler Unternehmen entbehrt die Annahme der Handlungsunfähigkeit zudem jeder empirischen Grundlage. Das trifft auch auf die These zu, "spätestens seit 1989 gibt es nichts mehr zu verteilen". Tatsächlich vermelden Unternehmen Rekordgewinne, verdienen Reiche oftmals doppelt gut - im Job, weil ihnen die Konservativen eine Vielzahl legaler (Beispiel Abschreibungen in den neuen Bundesländern), halblegaler (Umwandlung von betrieblichen in private Kosten) und illegaler (Steuerflucht) Steuervermeidungstricks ermöglichen, und an der Börse, wo sich die Vermögen im Rekordtempo vermehren. Fünf Prozent der privaten Haushalte besitzen mehr als ein Drittel des gesamten privaten Vermögens in der Bundesrepublik, die Anzahl der Vermögensmillionäre in Westdeutschland ist von 67.000 im Jahr 1980 auf 131.000 (1993) angestiegen. Eine an den Bedürfnissen der Menschen orientierte Politik hat genug Spielraum, die schamlose Umverteilung von unten nach oben rückgängig zu machen.

Die Jung-Grünen gefallen sich im Brechen von Tabus. Hand in Hand mit BDI-Chef Henkel wird der Flächentarifvertrag zum Auslaufmodell erklärt, die Teilhabegesellschaft brauche vielmehr "auf den jeweiligen Betrieb abgestimmte Arbeitszeitmodelle". Die für Grüne wichtige Forderung nach einer Grundrente ("...wäre in den nächsten 50 Jahren mit einer enormen Doppelbelastung für unsere Generation verbunden") fällt dem individualistischen Überdruß an Kollektivsystemen und dem Egoismus einer Yuppie-Generation, die meint, ganz gut alleine zurechtzukommen, zum Opfer. Statt dessen wird allen Ernstes für einen "Generationenfonds" plädiert, der "an den Finanz- und Aktienmärkten vermehrt werden (soll)". Daß zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit allein auf Teilzeitarbeit (und nicht Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich) und (zunächst) nicht auf eine Umlagefinanzierung für ausbildungsunwillige Unternehmen gesetzt wird, sind weitere Ärgerlichkeiten in einem Papier, das eine Seelenverwandtschaft zum Wirtschaftsflügel der FDP erkennen läßt.

Die Verfasser von "Start 21" stammen aus Hessen. Dort sind auch unter Alt-Grünen neoliberale Tendenzen sichtbar. "Wir müssen und wollen Abschied von der in den letzten 50 Jahren erfolgten rasanten Ausdehnung des staatlichen Sektors nehmen", schreibt - nein, nicht Guido Westerwelle, sondern Alexander Müller als Fraktionsvorsitzender der Bündnisgrünen im Hessischen Landtag. Und der hessische Parteivorsitzende Tom Koenigs begründet sein Plädoyer für eine Privatisierung des Frankfurter Flughafens damit, daß die FAG zur Etablierung als "Global Player" rasch "Zugang zum Börsenkapital" benötige. Die Debatte um eine neue Start- und Landebahn ist laut Koenigs "provinziell": "Wer nicht über die heutige Eigentümerstruktur hinausdenkt, behindert den Aufstieg in die Weltliga der Verkehrsdienstleister." Leute wie Koenigs hat der Zeitgeist besoffen gemacht. Doch sind sie in der Partei in der Minderheit. Das grüne Bundestagswahlprogramm beinhaltet eine klare Absage an den Neoliberalismus. Es will die Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums umkehren und Wirtschaftsmacht begrenzen, billigt dem Staat eine aktivere Rolle unter anderem bei der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit und in der Umweltpolitik durch einen nationalen Umweltplan zu, will die Privatisierungsspirale etwa durch ein Verbleiben des Schienennetzes in öffentlicher Hand stoppen und nimmt die Globalisierung nicht als Naturgesetz hin, sondern will ihr durch internationale Regulierungen Paroli bieten.

Es besteht die Chance, Ende September die Regierung Kohl abzulösen. Es besteht angesichts der zuvor dargestellten Entwicklungen allerdings die Gefahr, daß mit einem solchen Regierungswechsel kein Politikwechsel verbunden ist. Eine Politik, die nachhaltig statt neoliberal sein will, steht unseres Erachtens vor vier großen Zukunftsaufgaben: einer Abkehr von der Wachstumsideologie, einer stärkeren Binnenorientierung, der Definition eines neues Arbeitsbegriffs, und einer Absage an die fortschreitende Ökonomisierung von Politik und Gesellschaft.

1. Das "Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft" als Grundlage bundesdeutscher Wirtschaftspolitik ist zu verändern. Danach werden Bund und Länder auf eine Politik verpflichtet, die "im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichen Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen (soll)". Eine zukunftsorientierte Politik hat das Bekenntnis zum Wirtschaftswachstum durch das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung zu ersetzen, die Ökologie, Ökonomie und Gerechtigkeit gleichermaßen Rechnung trägt.

Das IFO-Institut kommt in seiner jüngsten Untersuchung über den Zusammenhang von Wachstum und Arbeitslosigkeit zu folgendem Ergebnis: Die Arbeitslosigkeitsschwelle - das ist die Wachstumsrate, die für einen Rückgang der Arbeitslosigkeit überschritten werden muß - liegt heute bei 2,3 Prozent. Ein Prozentpunkt Wachstum über dieser Schwelle senkt die Arbeitslosenquote um einen halben Prozentpunkt. Voraussetzung ist allerdings, daß ein solches Wachstum über zwei Jahre hinweg erzielt wird. Damit ist ersichtlich, wie (unerreichbar) hoch die Wachstumsraten liegen müßten, um die Massenarbeitslosigkeit abzubauen. Selbst in den Boomjahren der deutschen Einheit konnten solche Werte nicht erreicht werden. Das Phänomen des jobless growth - des beschäftigungslosen Wachstums - ist Strukturmerkmal des Turbokapitalismus.

Neoliberale bejubeln die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Umweltverbrauch, so, als seien damit alle Umweltprobleme gelöst. Tatsächlich hat sich die Produktion von Waren und Dienstleistungen weltweit von 1950 bis 1997 von knapp fünf Billionen auf über 29 Billionen US-Dollar erhöht und damit fast versechsfacht - mit verheerenden Folgen für die Umwelt. Im gleichen Zeitraum haben sich der Verbrauch fossiler Brennstoffe fast vervierfacht, der Verbrauch von Nutzholz verdreifacht, von Papier versechsfacht, die Fangerträge aus der Fischerei fast verfünffacht, der Getreideverbrauch fast verdreifacht. Bis 2050 wird sich das Volumen der Weltwirtschaft nach Schätzungen des IWF noch einmal vervierfachen, und es gehört nicht viel Phantasie dazu, die Folgen abzuschätzen. Doch die Alternative, vor der wir stehen, lautet nicht "Wachstum oder kein Wachstum". Die Frage ist vielmehr, was wachsen soll. Dabei muß es um zweierlei gehen: Erstens um den Ausstieg aus der fossilen und den Einstieg in eine solare Energiewirtschaft. Zweitens um eine Transformation der Wegwerf- in eine Recycling- und Wiederverwertungsgesellschaft.

Der Schlüssel für ein solch anspruchsvolles Wachstum liegt im Umbau unseres Steuersystems. Bislang wird das, was ausdrücklich erwünscht ist - der Einsatz menschlicher Arbeitskraft - mit hohen Steuern und Abgaben belastet, während das, was destruktiv ist - unser hoher Umweltverbrauch - viel zu billig ist. Mit Steuern zu steuern ist ein in diesem Jahrhundert bewährtes Konzept für Gesellschaftspolitik. Eine ökologische Steuerumschichtung, die den Faktor Arbeit billiger und die Ressourcennutzung teurer macht, kann nicht nur den Umweltverbrauch reduzieren, sondern vermindert auch den Rationalisierungsdruck und schafft Jobs in arbeitsintensiveren Branchen wie dem Handwerk, dem ökologischen Landbau oder im Bausektor, die das veränderte Steuersystem konkurrenzfähiger macht.

Solange die nachträgliche Beseitigung von Umweltschäden auch noch das Wirtschaftswachstum steigern kann und dieses wiederum nicht in Frage gestellt wird, profitiert das Industriesystem (zunächst) von seinen Mißständen und geht (langfristig) doch zugrunde, weil es sich seine eigenen Grundlagen zerstört. Neben einer Änderung des Stabilitätsgesetzes ist deshalb das Bruttosozialprodukt durch ein neues Indikatorensystem zu ersetzen, das gleichzeitig der Lage der Umwelt Rechnung trägt.

2. Das im Stabilitätsgesetz vorgegebene Ziel eines außenwirtschaftlichen Gleichgewichts darf nicht länger ignoriert werden. Die Massenkaufkraft ist nicht nur aus Gründen sozialer Gerechtigkeit zu stärken, sondern vor allem auch deshalb, damit die mehrheitlich für den heimischen Markt produzierenden Unternehmen Absatzaussichten haben, Erweiterungsinvestitionen vornehmen und damit neue Arbeitsplätze schaffen.

Die deutsche Exportorientierung begründet eine grundlegend falsche Wirtschafts- und Finanzpolitik, die tiefe Spuren in der Binnenwirtschaft hinterlassen hat. Das Plus im deutschen Außenhandel belief sich 1996 auf 98,6 Milliarden Mark, 1997 lag es bereits bei 121,7 Milliarden Mark, für 1998 wird ein neuerlicher Rekordüberschuß in der Handelsbilanz von nominal 170 Milliarden Mark prognostiziert. Pro Kopf gerechnet ist die Bundesrepublik unter den großen Industrienationen mit weitem Abstand Exportweltmeister.

Die Kostensenkungspolitik der Regierung Kohl zielt vor allem auf Unternehmen, die für den Export produzieren. Bei einer Exportquote von 24 Prozent hat eine solche Politik aber verheerende volkswirtschaftliche Auswirkungen. Der Preiswettbewerb auf den internationalen Märkten forciert Rationalisierungen und erhöht den Druck auf die Löhne. Kostensenkung durch Lohnverzicht, Sozialabbau und steuerliche Umverteilung können nur kurzfristig die Wettbewerbsfähigkeit verbessern, verschlechtern aber langfristig die Standortbedingungen für die Mehrheit der Unternehmen, die für den heimischen Markt produzieren. Nur hohe Masseneinkommen sichern die Massenkaufkraft und die Binnennachfrage.

Durch die zu starke Exportorientierung werden nicht nur Wachstums- und Beschäftigungschancen im Inland verspielt. Gleichzeitig entsteht ein hoher Wettbewerbsdruck gegenüber den Handelspartnern, die gleichfalls Kosten senken müssen und durch das Außenhandelsdefizit zu Deutschland zunehmende Arbeitslosigkeit zu beklagen haben.

Eine binnenwirtschaftlich orientierte Politik muß neben einer Stärkung der Inlandsnachfrage versuchen, die Märkte zu entzerren und der Konkurrenz Grenzen zu setzen. Herzstück einer solchen Politik ist eine ökologische Steuerumschichtung, die Arbeit billiger und den Umweltverbrauch teurer macht. Auch soziale und ökologische Klauseln in den internationalen Beziehungen können größere nationale Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen. Um den Spielraum im Bereich der Geld- und Finanzpolitik zu erhöhen, ist eine internationale Kapitalverkehrssteuer einzuführen. Eine solche Steuer ("Tobin-Steuer"), die bei jeder grenzüberschreitenden Finanz-Transaktion anfällt, wirkt um so stärker, je kürzer die Anlagedauer ist und bewirkt damit längerfristige Finanzanlagen und eine Abkehr von unberechenbaren Spekulationsanlagen. (Derzeit decken lediglich vier Prozent der täglich an den internationalen Börsen getätigten Transaktionen reale Geschäfte ab!) Zudem könnten mit der Tobin-Steuer die Einnahmesituation der Vereinten Nationen verbessert und wichtige Entwicklungsprogramme finanziert werden.

3. Menschliche Arbeitskraft ist nicht bloß billiger oder teurer Wirtschaftsfaktor. Sie dient nicht nur der Existenzsicherung, sondern ist darüber hinaus identitätsstiftend und verhilft zu sozialer Anerkennung. Das Bedürfnis nach sinnvoller Betätigung ist untrennbarer Bestandteil menschlichen Daseins. Angesichts der strukturellen Massenarbeitslosigkeit brauchen wir einen neuen Arbeitsbegriff.

Klar ist: Ungezügeltes quantitatives Wachstum wird nicht das Jobwunder bewirken, das wir benötigen, um allen Erwerbsfähigen die Chance auf eine existenzsichernde Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt zu garantieren. Auch der Bereich Multimedia, in dem uns Millionen von Arbeitsplätzen vorhergesagt wurden, ist weit weniger arbeitsplatzschaffend als erhofft. Die Informations- und Wissensgesellschaft, auf deren Schwelle wir stehen, ist keine Jobmaschine. Sie hält Arbeitsplätze für eine hoch qualifizierte Minderheit bereit und bedeutet zunehmende Chancenlosigkeit für gering qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Muß sich Politik, wie der Unternehmensberater Roland Berger anläßlich einer Anhörung im Bundestag forderte, entscheiden, welches Arbeitslosenniveau tolerabel ist? Massenarbeitslosigkeit als bedauerlicher, aber nicht zu vermeidender Makel der Übergangsgesellschaft zwischen Industrie- und Informationsgesellschaft?

Festzuhalten bleibt: Ein nachfrageorientierter wirtschaftspolitischer Kurs, die Umwandlung von Überstunden in zusätzliche Arbeitsplätze, Beschäftigungsprogramme für Langzeitarbeitslose sowie eine durchgreifende Politik der Arbeitszeitverkürzung können zum Abbau eines signifikanten Teils der Arbeitslosigkeit führen. Doch selbst mit einem solchen Maßnahmenbündel wird es eine Rückkehr zur traditionellen Vollbeschäftigung nicht geben, denn die Produktivität steigt weiter - bei einem gleichbleibenden Arbeitsvolumen.

--- Nur mit einem neuen Arbeitsbegriff kann es uns gelingen, sinnvolle, existenzsichernde Arbeit für alle Menschen zu schaffen. Der neue Arbeitsbegriff basiert auf vier Faktoren:

- auf Verteilungsgerechtigkeit, das heißt der Umverteilung aller gesellschaftlichen Arbeit inklusive der Familien- und Pflegearbeit

- auf einem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor zwischen Markt und öffentlicher Hand

- auf dem Prinzip des lebenslangen Lernens, in dem Phasen der Berufstätigkeit und Phasen der Aus- und Weiterbildung gleitend ineinander übergehen

- auf einer verstärkten auch finanziellen Anerkennung ehrenamtlicher Tätigkeiten.

Der Arbeitsbegriff der Zukunft wird Abschied nehmen vom traditionellen Begriff der Vollbeschäftigung, der sich an der männlichen Erwerbsbiographie von 49 Jahren Arbeit bei 40 Wochenstunden orientierte. Die Zukunftsorientierung des neuen Arbeitsbegriffes liegt darin, daß diejenigen Tätigkeiten, die bisher unentgeltlich überwiegend von Frauen ausgeübt wurden, und solche Tätigkeiten, die sich nach Marktgesichtspunkten nicht rechnen, aufgewertet und in unterschiedlichem Ausmaß finanziert werden. Mit der neuen Verteilungsgerechtigkeit sollen verschiedene Formen der Erwerbsarbeit und andere produktive Tätigkeiten wie die Familien- und Pflegearbeit und Phasen der Qualifizierung rechtlich und finanziell abgesichert und miteinander verzahnt werden.

Wir gehen davon aus, daß der neu zu schaffende öffentlich geförderte Beschäftigungssektor, der zwischen Markt und Staat seinen Platz hat, aus den bisherigen Transferleistungen für Arbeitslose sowie Sozialhilfemitteln und nicht zuletzt aus einer gewinnorientierten "Wertschöpfungssteuer" finanziert wird. Es kann nicht länger hingenommen werden, daß der Staat und die abnehmende Zahl sozialabgabenpflichtiger Steuerzahlerinnen und Steuerzahler allein für die Folgen von Rationalisierung und Exportorientierung aufkommen.

Jeder erwerbsfähige Mensch hat unserer Ansicht nach ein Anrecht auf eine etwa 20 Stunden umfassende Arbeitsstelle, die in Höhe eines existenzsichernden Mindesteinkommens entlohnt wird. Menschen, die bisher Empfänger von staatlichen Transferleistungen sind, werden zu Gehaltsempfängern und erlangen so nicht nur ein Einkommen, sondern auch ein Stück Menschenwürde zurück. Im Gegensatz zum Bericht des Club of Rome "Wie wir arbeiten werden" sowie zur Position konservativer Sozialpolitiker und Leuten wie Ulrich Beck, die in ihr Fahrwasser geraten sind, wird es sich bei der Arbeit im öffentlichen Beschäftigungssektor jedoch nicht um erzwungene Arbeit handeln. Wird dieser Beschäftigungsbereich als Mittel der Befriedung und Disziplinierung von Arbeitslosen und als billiger Lückenbüßer für staatliche Aufgaben mißbraucht, kann er nicht das leisten, was seine zukunftsträchtige Qualität ausmacht: mehr gesellschaftliche Wertschätzung für Arbeit, die im herkömmlichen Sinne nicht profitabel ist, und mehr gemeinschaftliches Engagement.

Der öffentliche Beschäftigungssektor, über dessen Finanzierung die Grünen in ihrem Wahlprogramm schweigen, weist sowohl eine Nähe zum Konzept des Club of Rome als auch zu Vorstellungen von Jeremy Rifkin über die Zukunft der Arbeit auf. Rifkins Vision von der "Entdeckung der Gemeinschaft" könnte für eine konkretere Konzeption des dritten Sektors fruchtbar gemacht werden. In ihm können Selbsthilfegruppen, Nichtregierungsorganisationen und Organisationen der Nachbarschaftshilfe zu abgesicherteren Konditionen tätig sein, als dies jetzt der Fall ist. In diesem Bereich werden nicht nur diejenigen Menschen beschäftigt, die aus dem ersten Arbeitsmarkt herauskatapultiert wurden. Wir werden dort eine Mischung aus ungelernten, gelernten und hochqualifizierten Arbeitskräften mit entsprechend differenzierten Einkommen finden.

Wir müssen und dürfen uns nicht damit abfinden, daß immer mehr Menschen aus der Erwerbstätigkeit verdrängt werden. Die Zukunft der Arbeit liegt weder in einer sozial gespaltenen Dienstbotengesellschaft à la USA mit working poor und bad jobs, noch in einer Dienstleistungsbürokratie, die knapper werdende Transferleistungen verteilt.

Wagen wir einen Sprung in die postmarktwirtschaftliche Moderne: jenseits der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, der beruflichen Ellbogenmentalität und des Konkurrenzsystems. Kurz gesagt: in eine andere Kultur.

4. Politik ist in den vergangenen Jahren verkommen zur an den Konkurrenzmechanismen eines globalisierten Marktes orientierten Standortdebatte. Der Terror der Ökonomie breitet sich nicht nur in der wirtschaftlichen Sphäre aus, sondern greift krakenartig nach allen gesellschaftlichen Bereichen. Die unerbittliche Sachzwanglogik des "Alles muß sich rechnen" unterwirft sich die Bildungspolitik ebenso wie die Gesundheits-, Sozial und Kulturpolitik. Kanzlerkandidat Schröder will, daß in Zukunft Hochschulen wie Großunternehmen geführt werden und kokettiert mit dem Wunsch, Manager der Deutschland AG zu werden. Die Gentechnologie wird parteiübergreifend unkritisch als positiver Standortfaktor beklatscht. Der neoliberale Frontmann der Wirtschaft, Henkel, hat im Sommer 1997 gar das Grundgesetz als Standortnachteil entlarvt: Er will die Anpassungsgeschwindigkeit an neue Verhältnisse erhöhen, indem er über die Fähigkeit unseres politischen Systems und seiner Verfassung im Wettbewerb mit anderen nachdenkt. In letzter Konsequenz muß sich heute sogar das Leben selbst rechnen. Die neue Euthanasiedebatte - behinderte Säuglinge als Schadensfall und Sterbehilfe für "teure" Komapatienten und -patientinnen - sind Ausdruck dieser Tendenz. Die kalte Logik der Ökonomie verdrängt ein durch Solidarität, Gemeinschaftlichkeit und Chancengleichheit geprägtes Menschenbild.

Es wird in Zukunft darauf ankommen, der rasant voranschreitenden Unterwerfung aller Lebensbereiche unter die Zwänge der Ökonomie Widerstand entgegenzusetzen. Diese Aufgabe muß zuvorderst der Staat übernehmen. Er ist es, der dem öffentlichen Interesse an Nachhaltigkeit, Chancengleichheit, Solidarität und einer lebenswerten Zukunft für kommende Generationen Ausdruck verleihen kann. Er muß zum Wahrer dieser Werte werden, eben weil sie häufig ökonomischen und Privatinteressen zuwiderlaufen.

Wer die Ökonomisierung von Politik und Gesellschaft zurückdrängen will, wird auf heftige Widerstände stoßen. Die Deregulierungs- und Globalisierungsgewinner werden nicht mit Konsensgesprächen und Runden Tischen zu überzeugen sein. Sie werden sich nur dann von ihrer Vormachtstellung verabschieden, wenn ihnen ein Bündnis aus Sozial- und Umweltverbänden, aus Kirchen und Gewerkschaften gemeinsam mit einem steuernden Staat neue Grenzen setzt. Auch in diesem Sinne ist es in Bonn Zeit für einen Wechsel.