Bücherfenster

Nach der Goldhagendbebatte

Joscha Schmierer

 

Die Auseinandersetzung um Daniel Goldhagens Buch war sicherlich in erster Linie eine politische Debatte, auch wenn sie mit wissenschaftlichen Argumenten geführt wurde. Daniel Goldhagen tat freilich alles, um seine These über Hitlers willige Vollstrecker politisch zu neutralisieren. Erklärte er die Judenvernichtung durch das Dritte Reich aus der Kontinuität einer spezifisch deutschen Tradition des eliminatorischen Antisemitismus, in der ein (sich potenzierender) Wille zur Judenvernichtung immer schon vorherrschte, so postulierte er zugleich einen völligen Bruch mit dieser Tradition durch Gründung und Aufbau der Bundesrepublik. Definierte er so die deutsche Geschichte im ersten Zug aus der europäisch-amerikanischen Zivilisation völlig hinaus, so entrückte er im zweiten Zug Gesellschaft und Politik der Bundesrepublik der deutschen Geschichte. In dieser Argumentation mußte der Bruch um so radikaler erscheinen, je mehr die vorangehende Kontinuität herausgestellt wurde. Je brutaler und entmenschter die ganz normalen Deutschen vor 1945 erschienen, desto weniger konnten die Menschen in der Bundesrepublik noch mit ihnen zu tun haben. Entpolitisierend wirkt diese Argumentation, weil sie den staatlichen Verantwortungszusammenhang zerstört, den die Bundesrepublik mit dem Anspruch auf Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches stets behauptet hatte und der jeden ihrer Bürgerinnen und Bürger einschließt. Diese Zerstörung des Verantwortungszusammenhanges dürfte die Grundlage für den Erfolg des Buches und von Goldhagens Vortragsserie gewesen sein.

Dennoch stieß das Buch auf politisch motivierte Kritik. Wer die Bundesrepublik in erster Linie in die Tradition der deutschen Geschichte stellen und aus ihr heraus legitimieren will, mußte die Interpretation dieser Geschichte als einseitig ablehnen. Wer aber die Bundesrepublik als eine immer noch fragile Form versteht, die antizivilisatorischen Traditionen der deutschen Geschichte zu überwinden, mußte sich als Don Quichote vorkommen, der einen Kampf gegen Windmühlen und längst überwundene Gefahren führt. Da das Buch reichlich Anlaß für wissenschaftliche Einwände liefert, erübrigte es sich, die entgegengesetzten politischen Motive der Kritik offenzulegen und zu entwirren. Ja mehr noch: Die nationalistisch motivierte Kritik konnte sich weitgehend zurückhalten, weil ihr die eher linken Historiker und Publizisten die Arbeit weitgehend abnahmen.

So hat das Buch zwar gewirkt, aber nicht eben klärend.

Der entscheidende Einwand gegen Goldhagens These ist für mich der Christopher R. Brownings, dessen Studie Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die "Endlösung" in Polen von Goldhagen so scharf kritisiert und schon im Untertitel mit Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust konterkariert wird: "Wir müssen die beruhigende, Distanz schaffende Vorstellung aufgeben, die Holocaust-Täter seien das Produkt einer gänzlich anderen Kultur und folglich eine von Grund auf andere Menschenart." Browning geht noch weiter: "Jeglicher Versuch, nachzuvollziehen, was - nicht nur die deutschen, sondern auch die anderen in die Vernichtungsmaschinerie eingespannten - Täter dazu brachte, sich am Holocaust zu beteiligen, macht eine Untersuchung der menschlichen Natur erforderlich. Wenn wir uns dieser Aufgabe nicht stellen, wird es uns weder gelingen, den Holocaust besser zu verstehen, noch die Massentötungen und Völkermorde, mit denen die Tageszeitungen ständig ihre Titelseiten füllen." Das klingt naturalistisch, begründet aber nur die Notwendigkeit einer Menschenrechtspolitik, weil die Geltung von Menschrechten gerade nicht naturgegeben ist.

Ausführlicher als Browning kritisieren Norman G. Finkelstein und vor allem Ruth Bettina Birn Goldhagens Umgang mit den Quellen, die ihm im wesentlichen nur als Beleg dienen, um eine unabhängig von ihnen gewonnene These zu illustrieren. Solche Kritik an einseitiger Quellennutzung kommt leicht in den Geruch, die Täter zu entschuldigen, was aber erst bei einer Beschönigung oder Verharmlosung ihrer Taten der Fall wäre. Davon kann keine Rede sein. Die Ausblendung situativer Momente aus den Tatmotiven verabsolutiert die ideologischen und kann den Übergang von der Meinung zur Tat nicht erklären.

Beunruhigend für die deutschen Historiker war der Widerhall, den Goldhagens Buch im großen Publikum fand, während ihre Bücher nur selten über die engere Fachwelt hinaus Wirkung erzielten. Johannes Heil und Rainer Erb haben diesem Phänomen einen Sammelband von fast 350 Seiten gewidmet, Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit, mit einer ganzen Reihe von lesenswerten Beiträgen. Unter anderem findet sich ein Vorschlag von Christof Dipper, mit dem Problem von Kontinuität und Bruch etwas anders als gewohnt, auch anders als Daniel Goldhagen, umzugehen: "Wir wissen heute, daß der Nationalsozialismus in außerordentlich hohem Maß die Erwartungen und Ziele der Deutschen erfüllt, ja übertroffen hat. Das Regime war in den Augen der Mehrheit erfolgreich und populär. ,Unklug` war nur, daß es den Krieg angefangen und die Juden umgebracht hat. So jedenfalls sahen es die Deutschen, die zwischen 1945 und 1947 von den Amerikanern nach ihrer Einstellung zur jüngsten Vergangenheit befragt worden sind. Dieses Urteil ist so naiv wie unbequem. Mein Vorschlag wäre, aus dieser Perspektive die Geschichte des ,Dritten Reiches` zu rekonstruieren, denn das ist es, was der Zugriff der Historisierung von uns verlangt." Eine "Stunde Null" habe es bekanntlich nie gegeben.

Während in diesem Band, wenn auch oft anregend, vor allem nachgekartet wird, befassen sich die Beiträge in Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939-1945. Neue Forschungen und Kontroversen mit der Sache selbst. Der Band geht auf eine Freiburger Vortragsreihe zurück und wurde von Ulrich Herbert herausgegeben. In seinem zusammenfassenden ausführlichen Einleitungsbeitrag würdigt Herbert, daß Goldhagens Buch "jene einfache Frage wieder in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt" hätte, "die so lange verdrängt, kaum mehr diskutiert und eben auch nicht hinreichend erforscht wurde, nämlich: Welche Rolle spielten die Deutschen, die ,gewöhnlichen Deutschen`, bei der nationalsozialistischen Judenverfolgung? Welche Bedeutung kam dem Verhalten der breiten Bevölkerungsschichten bei dem Völkermord an den Juden zu?"

Die Antwort auf diese Fragen fällt dann anders aus als bei Goldhagen: "Insgesamt offenbaren die vorliegenden Untersuchungen also eher eine Vielzahl von Faktoren bei der Ingangsetzung des Völkermords. Auf der einen Seite ein sich radikalisierender Prozeß der Brutalisierung bei der Durchsetzung der kontinentalimperialistischen Expansionsziele, insbesondere der ,Umvolkung` Mittel- und Osteuropas und der Aushungerung eines Teils der indigenen Bevölkerungen. Auf der anderen Seite, damit eng verbunden, vielfältige Formen individueller und ideologischer Motive. Hier spielten Opportunismus eine Rolle und ein verbreiteter Mangel an positiven, wertbesetzten Normen; Fatalismus und Obrigkeitshörigkeit, Sadismus und vollständige Abstumpfung. Es ist jedoch unübersehbar, daß es sich bei vielen der Protagonisten, wenn auch nicht bei allen, um Antisemiten handelte, wenngleich sich hinter diesem Begriff offenbar sehr unterschiedliche Einstellungen verbergen konnten, denen auch innerhalb des Geschehens selbst verschiedene Funktionen beikamen."

Womöglich "habe es zur Hinnahme oder gar Akzeptanz der sich anbahnenden nationalsozialistischen Vernichtungspolitik eines so weitgreifenden ideologischen Fanatismus, einer Massenhysterie, eines ,nationalen Projekts` gar nicht bedurft." Ähnlich wie Browning findet Herbert diesen Befund alles andere als beruhigend. Der Band mit seinen Fallstudien zur Judenpolitik in einzelnen Besatzungsgebieten stellt einen guten Überblick über den Forschungsstand her.

Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die "Endlösung" in Polen. Deutsch von Jürgen Peter Krause, Reinbeck bei Hamburg (rororo Sachbuch) 1997 (280 S., 16,90 DM)
ders., Der Weg in die "Endlösung". Entscheidungen und Täter. Aus dem Amerikanischen von Jürgen P. Krause, Bonn (Dietz Verlag) 1998 (231 S., 36,00 DM)
Norman G. Finkelstein, Ruth Bettina Birn, Eine Nation auf dem Prüfstand. Die Goldhagen-These und die historische Wahrheit. Mit einer Einleitung von Hans Mommsen. Aus dem Amerikanischen von Bernd Leineweber, Hildesheim (Claassen Verlag) 1998 (192 S., 32,00 DM)
Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit. Der Streit um Daniel J. Goldhagen. Hrsg. von Johannes Heil und Rainer Erb, Frankfurt/M. (Fischer TB Verlag) 1998 (348 S., 26,90 DM)
Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939-1945. Neue Forschungen und Kontroversen. Hrsg. von Ulrich Herbert, Frankfurt/M. (Fischer TB Verlag) 1998 (332 S., 24,90 DM)

Erinnerung und Suche

In Ist das ein Mensch? beschreibt Primo Levi unterschiedliche Arten, wie man in den Vernichtungslagern "zur Rettung gelangen kann". Eine dieser Geschichten ist die von "Henri". Henri "ist in eminenter Weise zivilisiert und bewußt, und über die Art, im Lager am Leben zu bleiben, hat er eine vollständige und organische Theorie entwickelt. Er ist nicht älter als zweiundzwanzig, hochintelligent, er spricht Französisch, Deutsch, Englisch und Russisch und besitzt eine hervorragende wissenschaftliche und klassische Bildung." Nach Primo Levi gibt es Henri zufolge "drei Methoden, der Vernichtung zu entgehen, die der Mensch anwenden und dabei des Namens Mensch würdig bleiben kann: organisieren, Mitleid erwecken und stehlen". Am Ende seiner Geschichte von Henris Erfolgen, schreibt Primo Levi: "Nach allen Unterhaltungen mit Henri, auch nach den herzlichsten, empfand ich stets einen leichten Nachgeschmack von Niederlage; und den ungewissen Verdacht, daß auch ich in irgendeiner Weise und unbemerkt nicht ein Mensch vor ihm gewesen sei, sondern ein Werkzeug in seiner Hand. Heute weiß ich, daß Henri lebt. Mir wäre viel daran gelegen, sein Leben als freier Mensch zu kennen, aber wiedersehen möchte ich ihn nicht."

1996 hat Paul Steinberg seine Chronik aus einer dunklen Welt auf Französisch veröffentlicht. Sie ist jetzt in deutscher Übersetzung erschienen. In zwei "Parenthesen" geht Steinberg auf Primo Levi ein: "Ich nähere mich dem Ende dieser Prüfung." Sie besteht in der Niederschrift eben dieser Chronik: "In mir war der Wunsch entstanden, noch einmal Primo Levis erstes Buch zu lesen, Ist das ein Mensch?, das über seine Berufung als Schriftsteller entschieden hat. Ich hatte es bei seiner ersten Veröffentlichung in Frankreich in Les Temps modernes um 1950 lediglich überflogen. Damals ging ich wie der Pest allem aus dem Weg, was mit der Deportation zu tun hatte. Ich entdecke mit Staunen, daß er ziemlich ausführlich über mich spricht und dabei einige Details modifiziert. So nennt er mich Henri. Er macht mich zweiundzwanzig Jahre alt, während ich damals gerade mal achtzehn war, ebenso spricht er mir eine breite literarische und wissenschaftliche Bildung zu, was dann doch übertrieben ist. Alles andere ist da und läßt keinen Raum für Zweifel. Noch bartlos, polyglott: französisch, englisch, deutsch, russisch." Steinberg bemerkt: "Das merkwürdigste an dieser Beziehung, die in seinem Gedächtnis so genaue Spuren hinterlassen hat, ist, daß ich mich überhaupt nicht an ihn erinnere. Vielleicht, weil ich nicht zu beurteilen mochte, daß er mir nützlich sein könnte? Was sein Urteil um so mehr stützen könnte." Dieses "Urteil" bestand in der Beobachtung eines völlig instrumentellen Umgangs mit menschlichen Beziehungen. In einer anderen "Parenthese" schreibt Steinberg: "Aus einem naiven, verletzbaren Jungen, der zu warmherziger Zuneigung fähig ist, kam, wie ein Schmetterling in der Puppe, jenes kalte, berechnende Wesen zum Vorschein, das Primo Levi erwähnt." Diese erzwungene Metamorphose und wie verstörend sie noch nach mehr als fünfzig Jahren wirkt, beschreibt Steinberg.

Von der Zusammensetzung der Gefangenen her waren 1943 in Drancy für diesen 18jährigen alle Bedingungen da, die etwa aus den zaristischen Gefängnissen die vielbeschworenen Hochschulen der Politik machten. Drancy aber war das Tor nach Auschwitz, und dort "gab es tausend versiegelte Monaden und zwischen diesen einen verzweifelten, verborgenen, fortwährenden Kampf", wie Primo Levi in Die Untergegangenen und die Geretteten (dt. 1990) schrieb. Natürlich hat Levi kein Urteil über Henri gefällt, sondern über das Lagersystem.

Patrick Modiano stieß im Dezember 1988 zufällig auf eine Suchanzeige im Paris-Soir vom 31.12.41. Unter Angabe ihrer Adresse fragten die Eltern von Dora Bruder, damals 15 Jahre alt, also gleichaltrig mit Paul Steinberg, nach ihrem Verbleib. Der 1945 geborene Patrick Modiano schreibt: "Dieses Viertel um den Boulevard Ornano herum kannte ich schon lange. In meiner Kindheit begleitete ich meine Mutter zum Flohmarkt von Saint-Ouen. Wir stiegen an der Porte de Clignancourt aus dem Bus und manchmal vor dem Rathaus des achtzehnten Arondissements..." Viel später in diesem Buch heißt es: "Viele Freunde, die ich nicht gekannt habe, sind 1945 umgekommen, im Jahr meiner Geburt." Aus dieser Spannung zwischen den berühmten Schicksalen und der Suchanzeige nach der unbekannten Dora Bruder in unbekannter Umgebung entspringt die Recherche Patrick Modianos. Die nackten Daten ihres Lebens lassen sich nach und nach ermitteln, aber von ihrem Leben weiß man letzten Endes nichts: "Das bleibt ihr Geheimnis. Ein armseliges und kostbares Geheimnis, das die Henker, die Verordnungen, die sogenannten Besatzungsbehörden, das Dépot, die Kasernen, die Lager, die Geschichte, die Zeit - alles, was einen erniedrigt und zerstört - ihr nicht rauben können." Das mag sein. Aber das Rätsel um Dora Bruder bleibt letzten Endes doch eine romantisierende Imagination Patrick Modianos.

Joscha Schmierer

Paul Steinberg, Chronik aus einer dunklen Welt. Ein Bericht. Aus dem Französischen von Moshe Kahn, München (Carl Hanser Verlag) 1998 (166 S., 34,00 DM)
Patrick Modiano, Dora Bruder. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl, München (Carl Hanser Verlag) 1998 (150 S., 29,80 DM)