Die Entdeckung des alltäglichen Nationalsozialismus für den Unterhaltungsfilm

Die "Comedian Harmonists" bei Joseph Vilsmaier

Peter Schyga

Die Schlüsselszene des Films: Nach einem Konzert in Nürnberg ("wo es mehr Nazis als Lebkuchen gibt", wie das Ensemble wußte) wird das Sextett aus der Garderobe heraus von einem SS-Mann zum Anwesen des Gauleiters von Franken und Herausgebers des Stürmer befohlen. Eine schwere Limousine bringt die Künstler in eine von roten Hakenkreuzfahnen überfrachtete Villa. Streichers Hofstaat ist so zahlreich versammelt, daß sich seine Adlaten gegenseitig auf die Füße treten. Der jedem als "Judenfresser" bekannte Streicher wünscht sich nach einem Toast, daß ihm das Sextett ein "deutsches Volkslied" vorsinge. Mit hauchender Stimme bestellt er sein "Lieblingslied, Aus einem kühlen Grunde von Joseph Eichendorff". Das Sextett hebt an, doch Harry Frommermann wird nach den ersten Takten schlecht, er muß sich übergeben. Der Versuch, noch einmal zu beginnen, scheitert an Frommermanns physischer Abneigung gegen das Lied. Streichers Gesicht, über dem bisher ein süffisant dämlich-verträumter Ausdruck lag, mutiert ob des Fauxpas gegen nationalsozialistische Prinzipien von Macht und Gehorsam zu einer eiskalten, gewalttätig-zynischen Maske.

Diese Szene ist deshalb die Schlüsselszene, weil Vilsmaiers Dramaturgie des gesamten Films hierin konzentriert ist. Kotzt Harry, weil er die politische Situation erbärmlich findet? Jude muß sich vor Obernazi prostituieren. Oder kommt der private Liebesschmerz zum Ausbruch? Scheinbar läßt der Film die Antwort offen. Doch Vilsmaier weiß, daß sich Streicher kein romantisches Liebeslied gewünscht hat, sondern "Grün ist die Heide". Die Ambivalenz von Politischem und Privatem muß Thema sein, wenn man sich mit alltäglicher Geschichte des Nationalsozialismus befaßt. Vilsmaier nimmt sich ihrer auf seine Weise an, indem er Politik ausblendet.

Die gesamte Szene scheint voll von Gewalt zu sein, so, wie man sich das Schreckensregime vorstellt: Es wimmelt von braun und schwarz Uniformierten in gelackten Lederstiefeln. Doch sie sind Satrapen, gestiefelte Puppen in einer Ritterburg. Die Szene zeigt die Inszenierung von Macht, was die Nazis mit ihren Aufzügen der Ordnung und Disziplin allgemein beherrschten. Doch blendet diese Machtdarstellung Gewalt aus. Diese Macht wirkt steril und unwirklich. Wirklich ist die alltägliche Gewalt der Denunziation, der Gestapo, der Schutzhaft, des Zuchthauses, des Konzentrationslagers. Diese Macht der Gewalt gibt es bei Vilsmaier nicht. Er gibt die Inszenierung für die Realität aus. Gewalttätigkeit, die diese abgebildeten Diener des Julius Streicher verkörperten und ausübten, wird von den Bildern nicht erfaßt.

Die Abschiedsszene der Gruppe vor Publikum ist vielfach kritisiert worden, weil dort Widerstandspotential suggeriert würde. G. Seeßlen liegt wohl richtig mit seiner Kritik des Films, wenn er in der Zeit vom 26.12.97 anmerkt: "Noch eine kurze Ergriffenheitspause, dann erheben sich die Münchner Zuschauer zu stehender Ovation. Ja, so mutig, ja, so solidarisch waren wir damals!" Tatsächlich sind solche Beifallsstürme verbürgt, deshalb geht Kritik, die diese Tatsache negiert, ins Leere. Die Motive für die Ovationen sind interessant. Wird der Beifall getragen von der Solidarität für die drei jüdischen Mitglieder des Ensembles, wie Vilsmaier suggeriert, oder vom Dank für gute Unterhaltung? Ersteres ist mehr als unwahrscheinlich. Massenhaftes, öffentliches Eintreten und Demonstrieren für Juden hat es im Nationalsozialismus nicht gegeben. Menschen, die Schillers Don Carlos als Stichwortgeber für das Mitrufen des Satzes "Sire, geben Sie Gedankenfreiheit" genutzt haben, hat es 1935 in Deutschland wirklich gegeben. Das zur Kenntnis zu nehmen heißt Realitäten anzuerkennen. Das Publikum steht zu seinen Idolen. Der "gute Deutsche" war sogar in der Überzahl, will der Film weismachen. Das war er eben nicht.

Indem der Film sich dem Alltag der Zeit von 1927 bis 1935 widmet, bringt er ein Stück vergangener Wirklichkeit ins Kino. Er kommt damit einer seit mehreren Jahren sich immer stärker entwickelnden Tendenz in der Erforschung und Beschreibung des Nationalsozialismus entgegen: der Bearbeitung der Alltagsrealitäten im Nationalsozialismus. Wir befinden uns heute auf einem Stand der Forschung zum Nationalsozialismus, bei dem wesentliche Elemente der Entstehung, der Funktionsweise, der inneren Strukturen des Herrschaftsapparates und des Herrschaftswirkens der Nationalsozialisten geklärt scheinen. Die Kontinuitäten von Bürokratie und Verwaltung, von ökonomischer Macht und sozialen Restriktionen werden von interessierter Seite allerdings neu bewertet, indem die Modernisierungsimpulse der bundesdeutschen Nachkriegszeit ihre Ursprünge in Görings Vierjahresplan, Leys DAF oder Speers Rüstungsbeschleunigung erhalten. Die Kontinuitäten der Kultur, insbesondere der Unterhaltung, und Kontinuitäten der Biographien, bis vor wenigen Jahren eher verdrängtes Kapitel historischer Forschung, dienen dabei als willkommenes Transportmittel dieser Historisierung. Kontinuitäten in den Biographien, das heißt nichts anderes als Lebensschicksale, interessieren zunehmend. Mit voller Berechtigung. Die meisten Deutschen, die das Naziregime gewollt und überlebt haben, sind groß geworden im Kaiserreich, sozialisiert in der Weimarer Republik, haben gewirkt im Nationalsozialismus, rühmten sich des Wirtschaftswunders; ihre Kinder leben jetzt in Rente. Die Enkel und Urenkel wollen in ihren Ahnen nicht nur die unmenschlichen Monster der Shoah sehen, sondern wissen, wie es "wirklich war". Die Zuschauer, insbesondere die jüngeren, gehen in den Film, weil die Musik en vogue ist und bekommen mit ihren Idolen Vilsmaiers Interpretation von Wirklicheit der Zeit geboten. Deshalb ist der Film so brisant.

Daß das Hitlerregime schrecklich war, meint man heute zu wissen. Aber der Schrecken kann nicht die ganze Wahrheit sein. Das ist richtig. Nur ist der Schrecken die wesentliche Wahrheit in der alltäglichen Wirklichkeit. Indem diese Wirklichkeit aber erzählt wird, ohne ihre Grausamkeit zu reflektieren, entwickelt sie sich zu kolportagelastiger Rechtfertigung. Ganz entscheidend dabei wirkt die biographische Herangehensweise. Wenn Menschen in den Mittelpunkt historischer Untersuchung und Darstellung gerückt werden, wird allzu oft vergessen, was schon Karl Jaspers zu Hannah Arendts "Imperialismusbuch" gesagt hat: "Es liegt am Menschen und nicht an einem dunklen Verhängnis, was aus ihm wird." Wir haben es immer, ganz im Sinne von Hannah Arendt, mit politisch handelnden Menschen zu tun. Bei Vilsmaier gibt es keinen einzigen, von dem man das sagen könnte. Das liegt nicht an den Menschen, die er beschreibt, sondern an seinem Film.

Der Film behandelt eine Zeit des gesellschaftlichen und politischen Umbruchs in Deutschland. Zu Beginn seiner Geschichte, in den Jahren 1927/28, haben Republik und Demokratie, Weltoffenheit und kultureller Aufbruch in Deutschland durchaus noch Chancen, die Bürden, die das untergegangene Kaiserreich hinterlassen hat, zu überwinden. Die Menschen, die uns in dem Film als Akteure und Zuschauer begegnen, gehören zu dem Teil der neuen Mittelschicht, die sich bei prosperierender Ökonomie durchaus Karriereplanungen ausrechnen können. Sie haben sich von dem durch soziale Normen eingeschränkten Milieu ihrer Elterngeneration gelöst. Ihre Wurzeln zu den traditionellen Milieus sind zerschnitten, denn die vertikale Durchlässigkeit auf der Suche nach sozialer Verankerung ist nach dem ersten Weltkrieg gestiegen. Die Restriktion der sozialen und politischen Ausgrenzung des Kaiserreichs sind nicht aufgehoben, aber sie haben sich, gerade in den Metropolen, gelockert. Die Menschen, die in dem Film vorkommen, suchen neue Perspektiven in neuen Welten. Es sind Angestellte, Sekretärinnen, Verwaltungsmitarbeiter, Akademiker, Künstler und Techniker ohne garantiert lebenslang gesicherte Anstellung, wie sie noch die Eltern hatten. Sie sind Teil der Generation der Jungen, die sich dem Neuen gegenüber aufgeschlossen nach Feierabend ins Amüsement des Berlin dieser Zeit stürzen. Sie sind nicht reich, wohnen manchmal noch bei ihren Eltern, wie Bob Biberti, wenn nicht in kleinen, zugigen Mansardenwohnungen, wie Harry Frommermann. Das Publikum der Musikgruppe hat ein Auskommen, das Teilhabe am Vergnügen zuläßt, eine materiell gesicherte Zukunft aber nicht garantiert.

Die gesellschaftliche Moderne, durch Krieg und Nachkriegszeit unterbrochen, durch Stagnation des Welthandels und international hohe Arbeitslosigkeit gebremst, bedeutet diesen Menschen der neuen Mittelschicht Chance wie Gefahr. Der Schritt vom Auskommen zum Elend ist klein, die Hoffnung auf Aufstieg ist noch vorhanden. Ebenso ist der Schritt von der lebensfrohen zur verlorenen und totalitären Generation nicht weit. Warum sollte nicht über ein Drittel des Publikums der "Comedian Harmonists" 1932 Hitler gewählt haben, wie der Durchschnitt der Bevölkerung (Reichstagswahl 31. Juli 1932: 37,3%, 6. November: 33,1%). So grausam und wirkungsvoll die Männer des SA-Mobs auch waren; Hitlers Wähler bestanden wahrlich nicht nur aus vierschrötigen Dumpfbacken, die pausenlos das Horst-Wessel-Lied grölten. Der Bürokrat in der Reichskulturkammer ist schließlich auch ein Verehrer, der um ein Autogramm nachsucht, während er das Auftrittsverbot der Gruppe androht, weil die Hälfte des Ensembles aus Juden besteht. Der Film suggeriert anderes, frei nach dem Motto, "wo man singt, da laß dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder" wird ein politikfreier Raum gemalt, der nicht existiert: Die Fangemeinde kann gar nichts mit den Nazis zu tun haben und wenn, in Wahrheit mögen diese die Gruppe doch auch. - Nur das mit den Juden paßt nicht ins Konzept.

Vilsmaier knüpft an die Ähnlichkeiten der Lebenswelten von gestern und heute an. Er greift das Thema Unterhaltung auf, das sich von 1927 bis heute nicht großartig unterscheidet. Viele Lieder und Gassenhauer von damals haben sich über Generationen gerettet. Die Ufa-Stars der Nazizeit, soweit sie es nicht vorgezogen hatten zu emigrieren, blieben nach 1945 bis zu ihrem natürlichen Tod gefeierte Künstler der Musikrevuen, Kino- und Fernsehunterhaltung, des deutschen Schlagers. Diese Kontinuitäten sind vorhanden, und es wäre albern, sie zu negieren. Die Ähnlichkeit zwischen Guildo Horn und den "Comedian Harmonists" scheint schwer zu leugnen.

Weil aber Vilsmaier auf diese Kontinuitäten und Ähnlichkeiten setzt, konstruiert er Parallelen, die er als Identitäten ausgibt. "Die Menschen waren so wie wir!" Das stimmt! Nur - die Zeiten waren entscheidend anders.

Vilsmaier verzichtet darauf, die entscheidenden Brüche im politischen Leben und damit auch in den Biographien der handelnden Menschen zu zeigen. Um beides geht es aber, wenn man sich mit dem Alltag im Nationalsozialismus beschäftigt. Es geht um die Reaktion der Menschen in politischen Entscheidungssituationen. Wenn politische Entscheidungen der handlungsfähigen Menschen von damals banalisiert werden, indem sie, transportiert über Unterhaltung, den heutigen Verhältnissen angepaßt werden, entstehen über empathische Bindungen historische Wahrnehmungen, die die vergangene Wirklichkeit bagatellisieren. Es ist ein qualitativer Unterschied, wenn ich mich heute für Kohl oder Schröder entscheide, weil ich auf einen Arbeitsplatz hoffe, und mein Ahn aus dem gleichen Grund Hitler gewählt und unterstützt hat. Auch wenn die Menschen das damals nicht so gesehen haben, viele es auch nicht sehen konnten, auch wenn es gar nicht darum gehen kann, Vorwürfe zu starten, enthebt es keinen, der sich in irgendeiner Art öffentlich mit der Nazivergangenheit beschäftigt, von der Verantwortung, diesen Unterschied klarzumachen, es zumindest zu versuchen. Genau darum drückt sich der Filmemacher, ja, er tut sein Bestes, die politischen Verhältnisse zu verdrängen, die damals bedrückende und bedrohliche Nähe zwischen Privatem und Politischem zugunsten des Privaten aufzulösen. Es sei daran erinnert, daß in seinem Stalingrad-Epos Politik auch nicht vorkommt.

Vilsmaier deutet die politischen Brüche sozusagen wegen der Political correctness an, um sie gleich wieder in die persönliche Ebene zu versenken. Wohl zerstört ein SA-Trupp unter den Augen der Polizei das Geschäft des deutschnational gesinnten jüdischen Musikalienhändlers, in dem Erna arbeitet. Doch im Kontext der bislang geschilderten Ereignisse stellt sich diese Aktion als ein pubertärer Racheakt des SA-Jünglings dar, der in Erna verliebt ist und sie nicht bekommen hat. Politik findet nicht statt in diesem Film. Es gibt keine Aufmärsche oder Schlägereien politischer Gegner, keine Verfolgungen, Verhaftungen, Morde nach dem Reichstagsbrand. Hitler kommt aus dem Radio. Und das in Berlin, einer Stadt, die wirklich, anders als viele Orte in der Provinz, in Aufruhr war. Ganz gewiß entspricht dies den Wahrnehmungen der Filmhelden, gewiß auch großen Teilen ihres Konzertpublikums, aber reicht es, das heute zu schildern?

Vilsmaier verfälscht die Geschichte der Gruppe nicht. Aber er verfälscht die Zeitgeschichte. Julius Streicher hat in einer Rede in Vorbereitung des Parteitags 1935, die am 24. Juli in allen Zeitungen des Reichs unter der Überschrift "Die Judenfrage als Weltfrage" verbreitet wurde, gesagt: "Zunächst muß in der Bevölkerung das Bewußtsein vom Vorhandensein einer Judenfrage geweckt sein, damit die Gesetze, die einmal kommen müssen, auch im Bewußtsein des Volkes wurzeln. Erst wenn jeder weiß, daß es um den rassischen Bestand des ganzen deutschen Volkes geht, ist der Boden für weitere ernste Arbeit bereitet."

Die "Comedian Harmonists" mußten diese Politik ebenso erfahren wie Millionen andere Menschen in der Welt. Die Suche "nach dem kleinen bißchen Glück... irgendwo auf der Welt" wurde zu einer langen, schmerzhaften Irrfahrt.

Der aus Lodz stammende jüdische Bariton der Gruppe, Roman Cycowski, verlor mit Ausnahme seiner Schwester seine gesamte Großfamilie im Ghetto.

Literatur:

Eberhard Fechner, Die Comedian Harmonists. Sechs Lebensläufe, 1998, 4. Auflage, München