"Es gibt keine marxistische Erotik"

Marko Martin im Gespräch mit Mario Vargas Llosa

Señor Llosa, 1958 kamen Sie mit einem Stipendium nach Madrid, lebten anschließend sieben Jahre in Paris und zogen später nach London, wo sich heute Ihr Hauptwohnsitz befindet. Sie haben dieses zwischen Lateinamerika und Europa pendelnde Leben einmal als "freiwilliges Exil" bezeichnet, das Ihnen erst die Kraft und die Perspektive gäbe, die Romane über ihre Heimat Peru zu schreiben. Seit dem Staatsstreich Alberto Fujimoris im Jahre 1992 sind Sie nun in Peru "persona non grata". Wie geht man mit diesem Bruch um?

Seit 1974 lebte ich wieder regelmäßig in Lima, ohne meine Wohnung in London aufzugeben. Als ich dann 1990 im zweiten Wahlgang als Präsidentschaftskandidat gegen den Ingenieur Fujimori verlor, war es überhaupt kein Problem, zusammen mit meiner Frau erneut nach Großbritannien zurückzukehren. In dieser Zeit beschloß ich, mich zur politischen Situation in Peru erst einmal nicht mehr zu äußern. Dies änderte sich, als am 5. April 1992 Präsident Fujimori - oder besser: die Armee, die sich hinter seiner Person versteckte - die Entscheidung bekanntgab, die Verfassung außer Kraft zu setzen, den Kongreß und andere politische Institutionen zu suspendieren, ab nun nur noch mit Hilfe von Gesetzesdekreten zu regieren.

Es war vollkommen klar, daß ich mich zu diesem Putsch, der völlig in der düsteren Tradition eines verhängnisvollen Autoritarismus stand, verhalten mußte. Also begann ich, in Interviews, Reden und Zeitungsartikeln öffentlich gegen diese Attacke auf die Demokratie in Peru zu protestieren. Das war - leider, muß ich sagen - nicht das erste Mal, daß ich mich derart herausgefordert sah. Wenn es eine Linie der Kontinuität in meinem Denken gibt, dann ist es die Kritik an der Diktatur, gleich welcher ideologischen Couleur auch immer. Das war also weniger ein Bruch als vielmehr die Fortsetzung eines alten Kampfes.

Wie stellt sich Ihnen die Situation in Peru heute dar, sechs Jahre nach dem Staatsstreich?

Es ist noch immer das Militär, das die eigentliche Macht in den Händen hält, auch wenn aus taktischen Gründen der "Zivilist" Fujimori vorgeschoben wird. Gegenüber der internationalen Staatengemeinschaft gibt man sich noch den Anschein einer Demokratie, aber im Inneren herrscht wie früher Diktatur, und das bedeutet Zensur, Repression, Terror, systematische Menschenrechtsverletzung. Unglücklicherweise hatte dieses System zu Beginn auch noch eine recht starke Unterstützung im Volk. Man war des Guerilla-Terrors des maoistischen "Sendero Luminoso" ebenso überdrüssig wie der populistischen, durch und durch korrupten Politik der vorherigen Regierung, die es geschafft hatte, Peru immer weiter in Armut und Elend hineinzuziehen. Vor allem deswegen hatte ich mich ja 1987 entschieden, für die Präsidentschaft zu kandidieren, um mit einem klaren Reformprogramm dem Land wieder zu Stabilität und Wohlstand zu verhelfen. Leider kam es anders. Fujimori gewann durch völlig überzogene Versprechungen die Wahl, und anstatt die instabile Demokratie in Peru auf ein sicheres Fundament zu stellen, schaffte er sie einfach ab. In den letzten Jahren haben nun auch weite Teile der Bevölkerung erkennen müssen, daß ein Staatsstreich kein einziges Problem lösen kann.

In Ihren Essays haben Sie die Politik als eine eher mediokre, auf Ausgleich und Kompromisse angewiesene Tätigkeit beschrieben, die nichts mit dem schöpferischen Irrsinn literarischer Fabulierlust zu schaffen hat - und zu schaffen haben darf -, aber gerade deshalb von Intellektuellen oft als etwas Niedriges verachtet wird. Nun hat man aber bei Lektüre Ihrer Erinnerungen Der Fisch im Wasser durchaus den Eindruck, daß Politik, zumindest während Ihres Wahlkampfes in Peru, etwas außerordentlich Phantastisches, Okkultes und Bizarres ist. War diese Entdeckung ein Schock für Sie?

Ja und nein. Überall in der sogenannten "Dritten Welt" ist Politik etwas, das ganz eng mit Gewalt verknüpft ist. Es scheint keinerlei gemeinsame Werte zu geben, auf deren Basis man miteinander diskutieren und konkurrieren könnte, statt dessen hat man den Eindruck, in einen Hexenkessel voll unheimlicher, unbändiger Energien zu schauen, in dem alles, aber auch wirklich alles, Kampf um die pure Existenz ist. Das ist grauenhaft. Gleichzeitig ist es die dortige Realität. In den entwickelten Demokratien gibt es eher das entgegengesetzte Problem: Alles ist bereits Routine, jede Innovation wird von den Institutionen mit Mißtrauen beäugt, man lebt gut und langweilt sich dennoch. Viele, vor allem junge Leute im Westen, wenden sich deshalb angeekelt von dieser Wirklichkeit ab und suchen nach Alternativen. Jetzt ist dies eher der Konsum, bis vor wenigen Jahren aber projizierte man regelmäßig seine Hoffnungen auf die "Dritte Welt": Dort gab es ja "authentisches" Leben, klare Fronten, revolutionäre Romantik, Aktion und Abenteuer! Aber diese Idealisierungen sind nicht unschuldig. Denken Sie nur an einen Diktator wie Fidel Castro, der jahrzehntelang von diesen Mythen profitieren konnte.

Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich habe meinen Ausflug in die Politik nicht bereut. All die Intrigen, Doppelzüngigkeiten, kalkulierten Zweckbündnisse und Postenschachereien, mit denen ich während der drei Jahre meines Engagements konfrontiert gewesen bin, haben mir eine ganz andere Welt offenbart. So niederschmetternd diese Erfahrung auch war - ich möchte sie nicht missen. Tatsächlich wissen ja die wenigsten Intellektuellen und Schriftsteller etwas über das politische Tagesgeschäft; sie reden darüber, kritisieren es, unterschreiben manchmal auch Resolutionen, aber im Grunde ist ihnen diese Welt völlig fremd.

Spricht das in jedem Fall gegen sie?

Natürlich nicht! Gleichzeitig kann es aber nicht schaden, wenn man irgendwann eine Ahnung davon bekommt, daß sich Politik nicht nur über Theoriestudien in den Bibliotheken erschließt und nicht nur in der Reflexion über Modelle und Utopien offenbar wird. Die Wirklichkeit ist bunter, widersprüchlicher, nicht selten auch schmutziger. Ich sage nicht, daß man da selbst unbedingt mittun müßte - man sollte nur wissen, daß so etwas existiert.

In Ihrer Jugend waren Sie eher links eingestellt und wie viele Intellektuelle von der kubanischen Revolution regelrecht verzaubert. Was bewirkte schließlich die Desillusionierung?

Da kamen mehrere Faktoren zusammen. Am Anfang stand der idyllisierende Blick: Als ich zum ersten Mal auf Kuba war, schienen mir dort Freiheit und Sozialismus auf großartige Weise verbunden. Dann kamen die Irritationen und die Entdeckung, daß Fidel Castro einen perfekten Unterdrückungsstaat geschaffen hatte. Oppositionelle wurden verfolgt, die Presse zensiert, Schriftsteller wurden eingesperrt und Homosexuelle unter barbarischen Bedingungen zusammen mit Schwerkriminellen in regelrechte Konzentrationslager gesperrt. Anfangs verstand sich meine Kritik noch als "kritisch-loyal", später mußte sie, damit ich nicht zum Heuchler wurde, immer schärfer ausfallen. Ein Wendepunkt war die Invasion der Truppen des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei und die Niederschlagung des Prager Frühlings. Als Fidel Castro dies öffentlich guthieß, reagierte ich und kritisierte erstmals ebenfalls öffentlich das Regime in Havanna.

Dann kam der "Fall Heberto Padilla": Der kubanische Autor war 1971 wegen seiner Regimekritik verhaftet und in stalinistischer Manier zur öffentlichen Selbstkritik gezwungen worden, in der er sich beschuldigte, Agent der CIA zu sein. Ich habe damals das Manifest geschrieben, um gegen dieses Unrecht zu protestieren. Viele linke, der kubanischen Revolution gegenüber bis dahin eher positiv eingestellte Schriftsteller unterschrieben: Sartre, Enzensberger, Pasolini, Simone de Beauvoir, Italo Calvino .... Dies hat mir das Regime nie verziehen.

Fidel Castro hielt damals eine Rede, in der er "lateinamerikanische Schriftsteller, die in Europa leben" als "Kanaillen" bezeichnete und ihnen für die Zukunft die Einreise nach Kuba verbot.

Ja, ich hatte es mir mit Castro verdorben, dafür aber meine Freiheit und geistige Unabhängigkeit zurückbekommen. Ein guter Tausch, nicht?

Ab dieser Zeit griff die Manipulationsstrategie der Kommunisten - kritisiere uns nicht, damit Dir unsere gemeinsamen Feinde nicht Beifall spenden - nicht mehr. Ich erkannte, daß entgegen der Marxschen Behauptungen die demokratischen Werte keineswegs nur rein formaler Art waren, sondern die einzige Gewähr bieten, eine Gesellschaft wirklich zum Guten verändern zu können. Freie Wahlen, Gewaltenteilung, Einhaltung der Menschenrechte, soziale Verantwortlichkeit und wirtschaftliche Prosperität sind ja keine wolkigen Ideale, sondern ganz konkrete Ziele, für die man sich einsetzen kann und muß. Natürlich muß man wissen, daß man sich mit dieser Haltung, die linke Diktaturen genauso abscheulich findet wie rechte Diktaturen, auch gehörig isolieren kann - vor allem in Lateinamerika.

Nach Lektüre Ihrer Erinnerungen kann man verstehen, weshalb Sie den staatlichen Einfluß auf die Wirtschaft, Protektionismus und Subventionismus so hart kritisieren, da zumindest in den Entwicklungsländern solche Eingriffe stets nur eine absurd aufgeblähte, raffgierige und dabei völlig ineffiziente Bürokratenkaste schaffen. Etwas schwieriger wird es aber, Mario Vargas Llosa zu folgen, wenn er im Gegensatz dazu die reine Marktwirtschaft preist und dabei durchaus etwas - Pardon - eifernd und doktrinär wird. Die stabilen Demokratien Skandinaviens, aber auch die von Ludwig Erhards Ideen geprägte Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik, haben ja hinreichend bewiesen, daß eine funktionierende Marktwirtschaft auch eine soziale Komponente haben kann.

Das Problem besteht darin, daß der Staat, so wie er sich heute in vielen Ländern Lateinamerikas zeigt, mitnichten jener um Interessenausgleich, Chancengleichheit und Schutz der Armen bemühte Staat ist, den Sie vor Augen haben. In unseren Ländern entschärft der Staat nicht die Probleme, sondern er ist selbst ein Problem, er ist Partei und will immer weitere Zuständigkeiten - auf Kosten der Demokratie, aber auch der sozialen Gerechtigkeit.

Weder Friedrich von Hayek noch Milton Friedman - schon gar nicht, um in die Vergangenheit zu gehen, Adam Smith - glaubten daran, daß eine Gesellschaft die Präsenz des Staates aus ihrem sozialen Leben eliminieren könnte. Der Staat ist nötig, denn der Markt kann natürlich auch nur dann funktionieren, wenn es Regeln gibt, die allgemein akzeptiert werden, wenn die Rechtssicherheit kein Problem ist et cetera. Wahr ist auch, daß der Staat eine gewisse Verpflichtung gegenüber jenen sozialen Sektoren hat, die sich nicht selbst verteidigen können, etwa wie die Alten oder die sozial Schwachen. Das ist etwas, was bei den meisten Liberalen völlig außer Zweifel steht.

Ihr Wort in Gottes Ohr.

Doch, doch; ich glaube, daß es in dieser Frage einen Konsens gibt. Gleichzeitig sollte man nicht in den Irrtum verfallen, den Staat - Octavio Paz bezeichnete ihn einmal als "menschenfreundlichen Menschenfresser" - und seine größtenteils anonyme Bürokratie zu idealisieren und von dort alles Heil zu erwarten. Ich glaube, das ist ein wenig das Problem in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern, wo man sich zu lange allzu blind auf die Segnungen und Geldausschüttungen eines "Sozialstaates" verlassen hat. Die Idee, den Markt unter allen Umständen domestizieren zu wollen, kann meines Erachtens auch dazu führen, die Zahl der Arbeitslosen noch weiter in die Höhe zu treiben. Was aber wäre die Alternative? Das Beispiel Großbritanniens unter Margaret Thatcher hat gezeigt, wie man das Wachstum wieder voranbringen kann.

Um den Preis der tausendfachen Marginalisierung der sozial Schwachen, denen man fast jede Basis entzogen hat.

Ich stimme mit Ihnen darin überein, daß der Staat die Opfer, die gebracht werden müssen, wenigstens für die Ärmsten einigermaßen abzufedern hat. Leider hat sich bis jetzt allerdings kaum die Erkenntnis durchgesetzt, daß diese Opfer unvermeidlich sind, um die Gesellschaft zu erneuern. Die Globalisierung, die so viele Chancen bietet, fordert Ihren Preis. Es geht nicht um die Verteidigung eines "reinen" Kapitalismus, sondern eher um die Frage, in welchen europäischen Gesellschaften man tatsächlich sozial gesicherter ist - in denen mit über 12 Prozent Arbeitslosen oder in denen, wo der Prozentsatz der Erwerbslosen unter 5 Prozent liegt? Warum prosperiert wohl die Wirtschaft in den Vereinigten Staaten in diesem Ausmaße? Sicherlich nicht wegen ihres Präsidenten, der zur Zeit mit anderen, eher privaten Problemen zu tun hat ... Nein, man hat den Markt geöffnet, und die Gesellschaft hat sofort geantwortet.

Señor Llosa, ein schönes Nebenprodukt der Demokratie ist es sicher auch, nicht immer einer Meinung sein zu müssen - schon gar nicht bei der doch recht allgemeinen Rede von den zu bringenden "Opfern", die meiner Meinung nach von der Illusion ausgeht, daß die Gesellschaft eine große Familie wäre, in der jeder die gleichen Interessen hätte und wo man nur zusammenrücken und "gewisse Opfer" bringen müsse, um wieder Wohlstand für alle zu schaffen.

Leiten wir also zur Literatur über?

Ja. In Ihren Essays und Vorlesungen haben Sie stets den Eindruck Sartres auf Ihr frühes Denken und Ihre ersten Bücher erwähnt. 1975 schrieben Sie dann den sehr berührenden Aufsatz "Albert Camus und die Moral der Grenzen", in dem Sie die Klarheit und Luzidität dieses Autors für sich wiederentdeckten und würdigten ...

Von Sartre zu Camus - das ist auch ein wenig der Spannungsbogen meiner intellektuellen Erfahrungen. Als ich die Wirklichkeit der kommunistischen Ideen und all den Terror und die Ungerechtigkeiten, die sie im Gefolge hat, entdeckte, bekam ich erstmals eine Ahnung von der Wichtigkeit eines Denkens, für das Albert Camus par excellence steht. Da herum kreist ja alles bei ihm, um die Frage der Moral, die gerade auch bei politischen Betrachtungen nicht ausgespart werden darf. Er hat sich stets geweigert, die Moral zur Dienstmagd einer Ideologie zu machen; ob er nun den Franco-Faschismus in Spanien attackierte oder den sowjetischen Einmarsch 1956 in Budapest - Albert Camus ist sich immer treu geblieben.

In ihrem Erstlingsroman Die Stadt und die Hunde, der den traumatischen Alltag in einer peruanischen Kadettenanstalt beschreibt, ist der Sartresche Einfluß evident. Gab es danach - was die Literatur, nicht was die Politik betrifft - auch einen Einfluß von Camus auf Ihre Romane?

Eine interessante Frage, aber da bin ich mir eher unsicher. Ich verehre Albert Camus ungeheuer; von der ganzen Generation der Existentialisten war er wahrscheinlich nicht nur der intellektuell integerste, sondern auch der artistischste. Er hat wunderbare Essays und Theaterstücke geschrieben, auch seine Romane sind sehr interessant, aber dennoch ist Camus nicht mein Lieblings-Romancier geworden. Da zieht es mich eher zu André Malraux, dessen Condition Humaine ich für einen der großen Romane dieses Jahrhunderts halte. Und dann natürlich William Faulkner, von dem ich enorm viel für mein eigenes Schreiben lernen konnte, aber auch all die anderen "Konkurrenten Gottes", wie Melville, Balzac, Tolstoi, Flaubert, Thomas Mann. Diese Schriftsteller waren mit Gott in einen richtigen Wettbewerb getreten, um ein eigenes Universum zu schaffen - sie könnte ich wieder und wieder lesen.

Auch das undurchsichtige Ehepaar Dionisio und Dona Adriana in Ihrem vorletzten Roman Tod in den Anden schafft eine eigene Welt - allerdings mit dem Resultat, daß sie die abergläubischen Indios in ihrer Bergarbeitersiedlung zum Menschenopfer und damit zu dreifachem Mord anstacheln. Hat dieses Mythen-Erfinden nicht auch eine Beziehung zur literarischen Imagination, die ebenfalls vom Unmäßigen, partiell auch Irrationalen gespeist wird?

Ja, mit einem Unterschied, daß bei der ersten Tätigkeit richtiges Blut fließt, bei der zweiten hingegen nur Tinte. Man kann das Irrationale nicht verneinen. Um es domestizieren zu können, muß man zuerst einmal von seiner Existenz wissen, anstatt es zu verleugnen. Wir bestehen aus Vernunft und Reflexion, gleichzeitig aber auch aus Instinkten, Passionen, Emotionen, verbotenen Wünschen und Träumen. Ich nenne das, nach Nietzsche, den dionysischen Part unserer Existenz. Er gebiert Kreativität, aber auch Gewalt - alle totalitären Ideologien haben diese irrationalen Wurzeln. Im politischen und sozialen Leben sollten derlei Einflüsse deshalb nichts, aber auch gar nichts zu schaffen haben; sie müssen konsequent aus dieser Sphäre herausgehalten werden.

Aber im privaten Leben und vor allem natürlich in der Kunst muß es erlaubt sein, einen gewissen Irrsinn auszuleben, freilich ohne anderen Menschen dadurch Schaden zuzufügen. In dem Moment nämlich, wo ich einen Roman schreibe, bin ich ein Diktator, und als Liebender frage ich nicht nach einer demokratischen Gewaltenteilung in einer Beziehung. Das Paar in meinem Roman aber wird in dem Augenblick allgemeingefährlich und kriminell, in dem es seine Privatobsessionen als Heilslehre in die Öffentlichkeit trägt und damit eine ohnehin schon gewaltgeschwängerte Atmosphäre zusätzlich noch anheizt.

Diesem Kontrast zwischen modernem Leben und archaischen Verhaltensmustern waren Sie bereits in Ihrem im Amazonasgebiet spielenden Roman Der Geschichtenerzähler nachgegangen. Gleichzeitig haben Sie einmal in einem Essay, der sich mit der Geschichte Perus beschäftigt, geschrieben: "Wäre ich gezwungen, zu wählen zwischen der Bewahrung der Kultur der Indianer und ihrer vollständigen Assimilation, ich würde voll tiefer Traurigkeit die Modernisierung der indianischen Bevölkerung wählen, weil es Dinge gibt, die Vorrang haben; und den ersten Vorrang hat natürlich der Kampf gegen Hunger und Elend."

Das war eine extreme Zuspitzung, wie man sie manchmal wagt. Das Entscheidende aber ist, was man sich unter Modernisierung vorstellt. Ich denke dabei vor allem an die Menschenrechte, den Respekt vor dem Individuum, an Freiheit und Toleranz.

Das ist der positive Aspekt dabei. Sehen Sie keinerlei Chance, diese Werte auch anderen Lebensformen zu vermitteln, ohne daß diese sogleich verschwinden müßten?

Genau das ist die Frage. Man sollte es auf jeden Fall versuchen und all das erhalten, was an regionaler Kultur und Struktur mit diesen Werten, die ich allerdings für unverzichtbar halte, kompatibel ist. Gleichzeitig muß man realistisch sein. Es bringt nichts, sich selbst zu belügen, nur um "politisch korrekt" zu sein. Ich kenne diese Welt, die ich unter anderem im Geschichtenerzähler zu beschreiben versucht habe, recht gut und kann Ihnen deshalb versichern: Niemand aus der sogenannten "primitiven Kultur" hat diese Kultur freiwillig gewählt, hat sich nach reiflichem Überlegen für sie entschieden. Diese Leute hatten nie eine Wahl; jetzt aber hat man für sie entschieden, modern zu werden. Das ist streckenweise tragisch, ich will das überhaupt nicht leugnen. Man muß diese schmerzhaften Ablösungsprozesse, all die Einsamkeit und Enttäuschungen, die sie im Gefolge haben, illusionslos beschreiben. Ich wehre mich nur gegen die falsche Harmonisierung ihres vorherigen Zustandes: "Primitiv" zu bleiben bedeutet Opfer zu bleiben, von skrupellosen "Modernisten" ausgebeutet und manipuliert und vielleicht sogar vernichtet zu werden. Um sich gegen die negativen Seiten der Modernisierung wappnen zu können, muß man ihre positiven Seiten erst einmal adaptiert haben. Wie konnte es etwa, um ein Beispiel aus der Geschichte zu wählen, passieren, daß 180 Spanier unter dem Kommando Pedro Pizarros die hochkomplexe Zivilisation der Inkas, in deren Reich immerhin über zwanzig Millionen Menschen lebten, einfach überrennen konnten? Weil die Krieger, in dem Moment, wo ihr Herrscher Atahualpa gefangen genommen wurde, jeden Kampfesmut verloren und wie verirrte Schafe einfach niedergemetzelt werden konnten. Trotz aller Tempel, Straßen und Bewässerungsanlagen, trotz der gigantischen Machu-Picchu-Zitadelle war diese Zivilisation zum Scheitern verurteilt, weil sie ihre Angehörigen zu gläubigen Dienern und emsigen Ameisen herabgestuft hatte, die sich dem gottähnlichen Herrscher völlig unterordneten. Als sie aber entdeckten, daß ihre Leitfigur ein schwacher Gefangener geworden war, brach alles in sich zusammen - ja, die hierarchische Struktur ihres Denkens führte sogar dazu, sich nun ebenso willenlos den "neuen Göttern", also den spanischen Eroberern, unterzuordnen.

Das aber ist eine Wahrheit, die die doktrinären Träumer der Multikulturalität nicht wahrhaben wollen: Anstatt bei der Modernisierung behilflich zu sein, fordern sie für "ihre" jeweiligen Völker, Stämme und Gruppen Reservate, um sie zu schützen - eine Illusion, die dazu noch auf permanenter Ausgrenzung beruht. Wie kann man sich denn gegen etwas schützen, was man gar nicht kennt, was man statt dessen möglichst ignorieren soll? Gerade dadurch wird man doch erst recht wehrlos und zum Spielball der dubiosesten Interessen!

In Ihrem jüngsten Roman Die geheimen Aufzeichnungen des Don Rigoberto haben Sie sich wieder einmal als einer der großen Erotiker der lateinamerikanischen Literatur erwiesen, für den Sinnlichkeit und Ironie keine Gegensatzpaare sind. Schaut man sich nun einmal Autoren an, in deren Werk eine ähnliche Thematik präsent ist - etwa Nabokov oder Kundera -, so fällt auf, daß all diese Schriftsteller eher Skeptiker sind, dezidierte Nicht-Utopisten. Ist die Erotik vielleicht sogar als Kammerspiel ein Kontrastprogramm zu den Massenaufmärschen einer Heils-Idee, ein mit dem Lob vitaler und spielerischer Körperlichkeit geführter Protest gegen unsere Sterblichkeit, gegen die Endlichkeit unserer Existenz?

Da ist etwas dran. Die Erotiker versprechen - und schaffen! - das Paradies auf Erden, und zwar sofort. Gerade deshalb sind sie vielleicht nie frei von einer gewissen metaphysischen Traurigkeit, da sie sehr genau wissen, daß die Zeitspanne, die uns für den Genuß bleibt, eine denkbar kurze ist.

Wenn man will, kann man diese Einsicht sogar als konservativ definieren. Im Gegensatz dazu gibt es bei der Linken die lange Tradition der Heilsgewißheit, den Traum von der Auflösung aller Widersprüche, dem natürlich auch immer etwas zutiefst Puritanisches zu eigen ist.

Die Idee von der absoluten Reinheit.

Eben. Darin nehmen sich der Marxismus und die katholische Kirche nur sehr wenig. Sowohl die Kommunistische Partei wie auch die Kirche hält vom individuellen Anspruch auf Glück - und dann sogar auch noch auf sinnliches Glück! - denkbar wenig. Die große Tradition der Verteidigung der Sinne kommt eher aus der libertär-anarchistischen, aber nicht aus der sozialistisch-kommunistischen Richtung. Sie ist säkular und antikollektivistisch und im Grunde damit erzdemokratisch. Es ist sicher kein Zufall, daß es innerhalb der marxistischen Linken - und schon gar nicht innerhalb der autoritären Rechten - keine wirklich erotische Literatur gegeben hat.

Vielleicht mit der Ausnahme einiger Gedichte Louis Aragons an Elsa Triolet ...

Na ja, aber das war doch größtenteils auch nur Erotik im Rahmen der letzten Parteitagsbeschlüsse der KPF, oder?

Eine letzte Frage: Einen Großteil Ihrer Erinnerungen Der Fisch im Wasser haben Sie 1991 als Gast des Wissenschaftskollegs in Berlin geschrieben; jetzt leben Sie wieder für einige Monate hier. Was zieht Mario Vargas Llosa eigentlich so in diese Stadt?

Ich mag Berlin sehr. Die Stadt ist interessant und in kultureller Hinsicht einfach faszinierend; die Atmosphäre hier ist ungeheuer stimulierend für mich. Außerdem wird es Zeit, daß ich endlich einmal Deutsch lerne. Gegenwärtig arbeite ich auch an einem neuen Roman. Er spielt in der Dominikanischen Republik, und zwar in den letzten Monaten der Trujillo-Diktatur. Mehr wird im Moment nicht verraten.

Señor Vargas Llosa, haben Sie vielen Dank für dieses Gespräch.

Aus dem Französischen von Marko Martin

Mario Vargas Llosa, 1936 in Arequipa/Peru geboren, gilt - zusammen mit seinem politischen Antipoden Gabriel Garcia Marquez - als der bedeutendste Schriftsteller der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur. Er hat zahlreiche Romane, Essays und Erzählungen veröffentlicht, war Präsident des Internationalen PEN und erhielt für sein Werk unter anderem den Cervantes-Preis, die höchste Anerkennung für spanischsprachige Literatur, sowie 1996 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Nach seiner Niederlage in der Präsidentschaftswahl von 1990 lebt Mario Vargas Llosa mit seiner Frau Patricia vor allem wieder in London. Seit Februar 1998 ist er "assoziiertes Mitglied" des "Autorenkreises der Bundesrepublik".
Sein Werk in deutscher Sprache erscheint im Suhrkamp Verlag, darunter die Romane "Tante Julia und der Kunstschreiber", "Das grüne Haus", "Maytas Geschichte", "Lob der Stiefmutter", "Tod in den Anden" sowie die Essaybände "Gegen Wind und Wetter" und "Die Wirklichkeit des Schriftstellers".