Das Ende einer Hoffnung

Der Sexskandal um Daniel Ortega verschärft die politische und moralische Krise der Frente Sandinista

Werner Mackenbach

Seit dem 3. März 1998 existiert der Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN) nicht mehr. Zwar gibt es weiterhin einen Apparat gleichen Namens, dessen Maschinerie sogar besser zu funktionieren scheint als bisher. Als politisches Projekt jedoch ist der FSLN tot. Der jüngste Parteitag Ende Mai war nicht mehr als die Bestätigung dieses Sachverhalts. Der Frente Sandinista unterschrieb sich seinen Totenschein selbst.

Am 2. März, einen Tag nach einer weiteren bitteren Niederlage des FSLN (der vierten seit dem Regierungsverlust im Februar 1990) bei den Wahlen in den beiden autonomen Regionen der nicaraguanischen Atlantikküste, Región Autónoma del Atlántico Norte (RAAN) und Región Autónoma del Atlántico Sur (RAAS), wurde die sandinistische Front von einem neuerlichen und in seinen Folgen noch verheerenderen politischen und moralischen Erdbeben erschüttert. In einem offenen Brief bezichtigte die Adoptivtochter des FSLN-Generalsekretärs Daniel Ortega, Zoilamérica Ortega Murillo, ihren Adoptivvater des jahrelangen sexuellen Mißbrauchs und der sexuellen Belästigung, beginnend im Jahr 1978 (als sie keine elf Jahre alt war). Sie forderte ihn auf, öffentlich diesen Mißbrauch einzugestehen, und betonte, sie vergebe ihm und wolle keinen Strafprozeß gegen ihn anstrengen. Gleichzeitig kündigte sie an, daß sie die Adoption durch Daniel Ortega rückgängig machen werde und von nun an wieder ihren Namen Zoilamérica Narváez Murillo trage. - Zoilamérica und ihr älterer Bruder Rafael, Kinder der Ehefrau Ortegas, Rosario Murillo, aus ihrer Verbindung mit Jorge Narvaéz, lebten seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre mit Ortega zusammen, zunächst im Exil in Panama und Venezuela und in Costa Rica, ehe sie zwei Tage nach dem Sieg der sandinistischen Revolution nach Nicaragua zurückkehrten. 1986 wurden beide von Daniel Ortega adoptiert.

Am 24. Mai, einen Tag nach dem Parteikongreß des FSLN, auf dem Daniel Ortega als Generalsekretär bestätigt wurde, legte Zoilamérica Narváez Murillo eine fast fünfzigseitige Dokumentation vor, in der sie den sexuellen Mißbrauch (von 1978 bis 1982), die wiederholten Vergewaltigungen (in den Jahren 1982 bis 1991) und die sexuellen Belästigungen (von 1992 und 1997) bis in alle Einzelheiten beschrieb (siehe Dokumentation "Ich klage Daniel Ortega an"). Drei Tage später reichte sie auf dieser Grundlage offiziell Anklage bei den nicaraguanischen Strafbehörden gegen Ortega ein. Daniel Ortega ließ die Anschuldigungen durch seinen Rechtsanwalt Ramón Rojas zurückweisen und konterte mit einer Gegenanklage wegen Verleumdung.

Der offene Brief und noch mehr die detaillierte Dokumentation, die ein erschreckendes Mißbrauchsszenario enthüllt, haben die nicaraguanische Gesellschaft (einschließlich der sandinistischen Bewegung, die weit umfassender ist als die organisierte Partei FSLN) in zwei Lager gespalten: diejenigen, die Zoilamérica glauben, und diejenigen, die zu Daniel Ortega stehen.

Natürlich kann über die strafrechtlichen Tatbestände nicht geurteilt werden, bevor der eingeleitete Justizprozeß zu Ende gegangen ist. Allerdings habe ich keinen Zweifel an der grundlegenden Richtigkeit der Aussagen Zoilamérica Narváez Murillos. Eine Reihe von Indizien und Begleitumständen deuten darauf hin, daß Daniel Ortega zu Recht von ihr beschuldigt wird. Von vielen (ehemaligen) sandinistischen FunktionsträgerInnen wird im persönlichen Gespräch ohne weiteres eingeräumt, daß das intime Verhältnis zwischen Daniel Ortega und seiner Stieftochter in den achtziger Jahren ein offenes Geheimnis war, allerdings ohne die konkreten Einzelheiten (wie sie im genannten Dokument enthüllt werden). Der "Fall" weist darüber hinaus eine Reihe von Begleitumständen auf, wie sie typisch sind für sexuellen Mißbrauch von Minderjährigen innerhalb der eigenen Familie.

In einem vielbeachteten Artikel unter dem Titel "Zoilamérica: Eine Familienangelegenheit?" (Nuevo Diario, 11.3.98) hat die nicaraguanische Feministin Sofía Montenegro (ehemals Redaktionsmitglied der inzwischen eingestellten sandinistischen Tageszeitung Barricada) auf eine Reihe dieser Begleitumstände hingewiesen. Laut einer in León, der zweitgrößten Stadt Nicaraguas, im Jahr 1997 durchgeführten epidemiologischen Untersuchung wird eins von vier Mädchen und einer von fünf Jungen vor dem Erreichen des achtzehnten Lebensjahrs von einem Familienangehörigen sexuell mißbraucht, siebzig Prozent der Fälle ereignen sich vor Erreichen des elften Lebensjahrs. Das Problem ist also in der nicaraguanischen Gesellschaft weit verbreitet und trifft einen wunden Punkt. Direkt davon betroffen sind etwa 600.000 Minderjährige weiblichen Geschlechts, einbezogen sind - wegen der Konsequenzen für die Familie - jedoch weit mehr Personen.

Nach den auf diese Fälle spezialisierten Therapeuten ist das Trauma der Opfer vergleichbar dem bei Überlebenden einer Schiffskatastrophe, allerdings mit dem verschärften Umstand, daß sie keine Solidarität erleben, das Trauma schweigend und völlig auf sich allein gestellt durchleben müssen. Hinzu kommt, daß das Trauma sich in dem kritischen Moment des Übergangs von der Kindheit und dem Heranwachsen ins Erwachsenenalter vollzieht, der ein hohes Maß an Zuwendung, Schutz, Unterstützung und Vertrauen seitens der erwachsenen Familienmitglieder erfordert. Die Opfer bleiben oft für ein ganzes Leben von diesem Ereignis geprägt und sind nicht - oder erst sehr spät, und dann auch oft nur mit Hilfe einer Therapie - in der Lage, darüber zu sprechen. (Ein Vorwurf, der Zoilamérica Narváez Murillo von vielen gemacht wird, ist gerade der, daß sie "erst so spät" spreche. Das sei nicht glaubwürdig.)

Sofía Montenegro hat auch auf interessante Aspekte der öffentlichen Reaktionen hingewiesen. Der allgemeine Verlust des Vertrauens in gesellschaftliche Werte-Instanzen und Führerpersönlichkeiten, der mit den Anklagen gegen Ortega einhergehe (ein Prozeß, der bereits weit vor dem "Fall" eingesetzt hat), rufe unbewußt eine solche Bedrohung der eigenen Sicherheit hervor, daß viele Menschen mit Ablehnung und Zurückweisung der "ungeheuerlichen" Anschuldigungen reagierten: "Das glaube ich nicht", "Das ist unmöglich, eine Erfindung", "Das gehorcht einer anderen Logik". Dazu komme das Problem, daß dieser Skandal ähnlich traumatische Erfahrungen am eigenen Leib oder in der unmittelbaren Umgebung lebendig werden lasse.

All dies rufe die verschiedensten Abwehrmechanismen hervor, von der Aussage: "Das ist eine reine Familienangelegenheit" (der sich Ortega bisher mit Einsatz seiner Ehefrau und seiner Kinder bedient, und die von der Mehrheit der nicraguanischen männlichen Politiker in einem "Pakt der Ehrenmänner" vertreten wird) bis zu Verschwörungstheorien. So wurde wie gewohnt ein CIA-Komplott bemüht, aber auch ein Manöver der Feministinnen oder eine politische Intrige gegen Ortega innerhalb der sandinistischen Führung wurde vermutet.

Daniel Ortega hat mit seinem bisherigen Verhalten in der Auseinandersetzung den Rest an politischer und moralischer Glaubwürdigkeit verspielt, der ihm innerhalb der nicaraguanischen Gesellschaft über den engen Kreis des "orthodoxen" Sandinismus hinaus noch geblieben war. Am 3. März, einen Tag nach der Veröffentlichung des offenen Briefes seiner Stieftochter, präsentierte sich Ortega an der Seite seiner Ehefrau Rosario Murillo und ließ diese, ohne selbst ein einziges Wort zu der Angelegenheit zu sagen, die ganze Sache zur "Familienangelegenheit" erklären. Das hinderte ihn allerdings keineswegs daran, einen Tag später diejenigen sandinistischen Funktionsträger ihres Postens zu entheben, die eine kritische Meinung in dieser "Familienangelegenheit" riskierten, allen voran Henry Petri, Gründer der Sandinistischen Jugend und Departementsvizesekretär von Managua, sowie William Rodríguez, Mitglied der Leitung der Sandinistischen Jugend. Bis heute schweigt Ortega und beharrt auf seiner Immunität als Abgeordneter der Nationalversammlung, während der Parteiapparat (wer würde wohl glauben, daß er da seine Hände nicht im Spiel hat) alle Register der persönlichen Einschüchterung seiner (ehemaligen) Adoptivtochter und der ihr nahestehenden Personen zieht. Das reicht von physischer Bedrohung bis zu Presseartikeln und bezahlten Anzeigen, die "beweisen" sollen, daß Zoilamérica Narváez Murillo sowie ihre Unterstützer (vor allem Henry Petri) geistesgestört sind.

Wer geglaubt hatte, die Partei FSLN, in der es nach wie vor eine große Zahl eigenständig denkender, erfahrener politischer Kader gibt, würde angesichts des jüngsten Skandals die Kraft finden, endlich den immer wieder beschworenen Erneuerungs- und Demokratisierungsprozeß einzuleiten, der sah sich getäuscht.

Wenige Tage nach der Veröffentlichung des Briefes von Zoilamérica Narváez Murillo proklamierten die politischen Departementssekretäre einstimmig die bedingungslose Unterstützung Daniel Ortegas und seine Wiederwahl als Generalsekretär. Achtzig sandinistische Funktionsträgerinnen sprachen sich für die Unterstützung Ortegas aus und forderten die Absetzung Xanthis Suárez, der Abgeordneten im Zentralamerikanischen Parlament, weil sie öffentlich Zoilamérica Narváez Murillo unterstützt hatte. Die Führung der Sandinistischen Jugend erklärte sich bedingungslos für die Wiederwahl Ortegas. (Zeitungsartikeln zufolge waren im FSLN T-Shirts im Umlauf, auf denen zu lesen war: "Yo también fui mujer de Daniel", etwa "Auch ich war Daniels Frau/Geliebte".) Obwohl innerhalb der Partei vor dem Kongreß etwa sechzig verschiedene Meinungsgruppen existierten, die sich zum Teil auch öffentlich äußerten, gelang es dem Apparat, jegliche Opposition schon im Vorfeld auszuschalten, was zur Folge hatte, daß wichtige, weit über die FSLN hinaus anerkannte sandinistische Persönlichkeiten dem Parteitag fernblieben, unter anderen Vilma Núñez, die Direktorin des Menschenrechtszentrums CENIDH, der legendäre Comandante Henry "Modesto" Ruiz und Luis Carrión, ehemaliges Mitglied der Nationalen Leitung.

Wie nicht anders zu erwarten, bekräftigte der Parteitag am 22. und 23. Mai selbst diesen Kurs. In der Rekordzeit von wenigen Stunden, wodurch eine tiefgehende Diskussion erfolgreich verhindert wurde, wurden Daniel Ortega in seinem Amt bestätigt und die Mitglieder der Nationalen Leitung gewählt (weiterhin fünfzehn Mitglieder, davon fünf Frauen), die zur überwiegenden Mehrheit bedingungslose Gefolgsleute Daniel Ortegas sind. Selbst so hartgesottene "orthodoxe" Sandinisten wie Bayardo Arce und Mónica Baltodano hatten gar nicht erst kandidiert. Bestätigt wurde auch Tomás Borge, einziges lebendes Gründungsmitglied des FSLN, als Vizegeneralsekretär.

Politisch löste der Parteitag keine der anstehenden Aufgaben auch nur annähernd. Über die heiklen Themen, wie die persönliche und politische Moral der Führer (der Fall Ortega), die Größe, die Verwaltung und Nutzung des Parteivermögens, die Haltung der Partei gegenüber der Regierung, die Finanzkrise oder die Schließung der sandinistischen Tageszeitung Barricada, wurde gar nicht erst diskutiert. Die Wochenzeitung El Semanario sprach von "Einfrierung des Denkens".

Am Tag nach dem Parteikongreß rief Ortega zu einem nationalen Dialog mit dem Präsidenten Arnoldo Alemán auf, um Lösungen für die schwierige Situation des Landes zu suchen. Der Präsident, der pikanterweise am Tag vor dem Parteikongreß den sandinistischen Delegierten die Wiederwahl Daniel Ortegas empfohlen hatte, ohne daß dies einen Sturm der Empörung hervorgerufen hätte, sagte freudig zu. In der Tat konnte Alemán nichts Besseres passieren, als daß der FSLN die Reihen um Daniel Ortega schloß. Mit Daniel Ortega als Generalsekretär und möglichem erneutem Präsidentschaftskandidaten besteht keine Gefahr, daß er die nächsten Wahlen gewinnen wird. Und mit einem Ortega, der in einen Skandal verwickelt ist, kann Alemán erfolgreich von seinen eigenen Skandalen (allen voran die Verwicklung in einen Drogenskandal) ablenken. Noch dazu hat er, weil er die Krise Ortegas in keiner Weise ausnutzte, bei diesem sozusagen einen Punkt gut, der ihm in Zukunft nutzen kann. Schließlich ist nicht zu übersehen, daß Alemán wie praktisch alle führenden Politiker wohlweislich zu den Anschuldigungen gegenüber Ortega schweigt, aus Geschlechtssolidarität heraus und angesichts der Gefahr, daß bei einer Ausweitung der Auseinandersetzung vielleicht auch bei Politikern seines Lagers ähnliche Dinge ans Licht kommen könnten wie im Fall Ortega.

In der aktuellen politischen Situation Nicaraguas machen sich mit besonderer Schärfe die Konsequenzen des Wahlergebnisses vom Oktober 1996 bemerkbar, das die Reinstitutionalisierung eines Zweiparteiensystems unter veränderten Bedingungen mit sich brachte und den Caudillismo in Nicaragua fröhliche Urständ feiern läßt. Während die Regierung sich erlauben kann, was sie will, dümpelt das Land ohne wirkliche politische Opposition vor sich hin, und die Situation der breiten Bevölkerungsschichten wird täglich prekärer.

Natürlich ist nicht generell auszuschließen - im Gegenteil: es ist zu hoffen -, daß sich innerhalb des Frente Sandinista vermehrt kritische Stimmen zu Wort melden, daß Daniel Ortega - und mit ihm der Parteiapparat - im Gefolge der gegen ihn erhobenen Anschuldigungen eine Niederlage erleidet und die Partei sich erneuert. Nach wie vor setzen viele Menschen, gerade aus den unteren Schichten der nicaraguanischen Gesellschaft, ihre Hoffnungen auf den FSLN, gibt es faktisch keine alternative Kraft gegen den reaktionären Kurs der Regierung Alemán. Daß man einen politischen Kadaver (der sich auf dem letzten Parteitag den eigenen Totenschein unterschrieben hat) wiederbeleben kann, ist allerdingst äußerst unwahrscheinlich.