Verlockendes Feindbild

Islam und Islam-Debatte in Deutschland

Jörn Schulz

Seit in vielen deutschen Städten Minarette in den Himmel ragen und das islamische Kopftuch im Straßenbild häufiger zu sehen ist, wächst in Teilen der deutschen Bevölkerung die Sorge vor den Bedrohungen durch den Islamismus oder auch "den Islam" an sich. Die politischen Fronten in dieser Auseinandersetzung sind verworren. Während aus manchen linken, liberalen und feministischen Kreisen laute Warnrufe ertönen und zum Teil auch staatliche Zwangsmaßnahmen befürwortet werden, stehen Teile der Rechten dem Islam wohlwollend gegenüber, scheint er doch dazu beizutragen, daß das Fremde fremd und die türkische Bevölkerung ruhig bleibt.

Die Debatte über den Islam in Deutschland basiert noch immer auf wenigen gesicherten Fakten und vielen mehr oder weniger gut begründeten Mutmaßungen. Anders als in Frankreich, wo der Islam schon länger etabliert ist und das Thema früher aufgegriffen wurde, sind hierzulande wissenschaftliche Untersuchungen und empirische Studien noch dünn gesät, und ihre Ergebnisse widersprechen sich in zentralen Fragen. Während die viel diskutierte Studie Verlockender Fundamentalismus von Wilhelm Heitmeyer, Joachim Müller und Helmut Schröder1 eine weite Verbreitung islamisch-fundamentalistischer Haltungen und eine auf islamische Überlegenheitsansprüche begründete Gewaltbereitschaft feststellt, kommt eine von der Berliner Ausländerbeauftragten in Auftrag gegebene Umfrage2 zu dem Ergebnis, daß sich Haltung und Lebensweise türkischer Jugendlicher kaum von denen gleichaltriger Deutscher unterscheiden und die Tendenz in Richtung Säkularisierung geht.

Schon die Zahl der Muslime in Deutschland ist umstritten. Die Schätzungen liegen zwischen 1,5 und 2,7 Millionen, je nachdem, ob alle überwiegend aus islamischen Ländern stammenden Menschen zu Muslimen erklärt werden oder ein wiederum schwer zu bestimmender Anteil nichtislamischer Minderheiten und Religionsloser angenommen wird. Nicht wenige Menschen islamischer Herkunft sind froh, den religiösen und sozialen Zwängen ihrer Heimat entronnen zu sein, die bekennenden AtheistInnen sind bisher dennoch eine kleine Minderheit. Die Mehrzahl hält am Islam als sozialer Identität fest. Die soziologische Forschung schätzt den Anteil dieser "Kulturmuslime", die sich zum Islam bekennen, aber ihren religiösen Pflichten wenig bis gar nicht nachkommen, auf 60 bis 80 Prozent; dieser Anteil ist in allen europäischen Staaten festzustellen. Den Rest bilden zu etwa gleichen Teilen praktizierende, aber politisch passive Muslime und islamische Aktivisten.

Auch letztere sind nicht mehrheitlich islamistisch, von mystischen Bruderschaften über Orthodoxie und Islamismus bis zu reformistischen Gruppen sind alle Strömungen vertreten. Was die Stärke islamistischer Organisationen betrifft, so beziehen sich die meisten Untersuchungen auf die Verfassungsschutzberichte. Diese im Hinblick auf harte Fakten wie die Mitgliederzahl relativ zuverlässigen Quellen orientieren sich jedoch am Kriterium der Verfassungsfeindlichkeit und nicht an der Art der Islam-Interpretation. Wenn als islamistisch jene Organisationen betrachtet werden, die für eine wortgetreue Anwendung koranischer Gebote eintreten und Staatsform und Politik an die Sharia binden wollen, kann die Mitgliederzahl auf 60.000 bis 80.000 beziffert werden.

Die türkisch-islamischen Organisationen

Jede bedeutende islamistische Organisation hat eine Vertretung in der BRD. Die meisten unterstützen islamistische Bewegungen in ihren Herkunftsländern, einige wollen vorrangig unter den hier lebenden Muslimen für den "wahren Islam" werben. Der Islam in Deutschland ist fast überall ethnisch segmentiert. Es gibt zwar einige gemeinsame Dachorganisationen, im religiösen Alltag jedoch kommen die Muslime unterschiedlicher ethnischer Herkunft selten zusammen. Da mehr als 80 Prozent der Muslime in Deutschland türkischer Herkunft sind, haben nur deren Organisationen potentielle politische Bedeutung.

Die einflußreichste Organisation ist die Türkisch-Islamische Union des Amtes für Religion (DITIB), die den türkischen Staatsislam vertritt. DITIB wird von den Religionsattachées der Konsulate geführt und kontrolliert etwa die Hälfte der 1100 bekannten Moscheen in der BRD.

DITIB tritt für die Trennung von Staat und Religion ein, genauer gesagt für die Trennung von deutschem Staat und türkischer Religion, denn die Organisation beansprucht, einzige legitime Vertretung des türkischen Islam in Deutschland zu sein. DITIB unterhält privilegierte Beziehungen zum deutschen Staat und kann daher neben den üblichen religiösen und sozialen Dienstleistungen im Umgang mit deutschen Behörden die Vermittlung eines dort respektierten Vertreters bieten. Die Organisation ist der offizielle Ansprechpartner der Schulverwaltungen und versucht dort, wo islamischer Religionsunterricht eingeführt werden soll, Inhalte und Lehrer zu bestimmen.

Die größte islamistische Organisation ist die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (ehemals AGMT, Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa), die nach Angaben des Verfassungsschutzes 30.000 Mitglieder hat und 500 Zweigstellen unterhält. Milli Görüs war bis zu deren Verbot der Refah-Partei verbunden. Die Organisation folgt dem üblichen Muster islamistischer Politik und versucht, über soziale Dienstleistungen eine Klientel an sich zu binden.

Ähnlich arbeiten die Süleimanli, eine in der Türkei offiziell verbotene, aber geduldete und politisch einflußreiche Bruderschaft. Die unter dem Namen Union Türkisch-Islamischer Kulturzentren auftretende Organisation kontrolliert 300 Moscheen und hat etwa 20.000 Mitglieder. Während die Bruderschaften in den meisten islamischen Staaten regimetreu sind und in einem distanzierten bis gegensätzlichen Verhältnis zum orthodoxen Gesetzesislam und Islamismus stehen, sind die Süleimanli und andere türkische Bruderschaften fundamentalistisch orientiert; eine Folge der antitraditionalistischen Politik des frühen Kemalismus, der die Bruderschaften verbot.

Die Mehrzahl der auf 3.000 bis 4.000 geschätzten islamischen Vereine ist politisch neutral, von den drei größten islamischen Organisationen allerdings sind zwei fundamentalistisch orientiert, während die dritte einen im Hinblick auf Demokratie und Minderheitenrechte auch nicht ganz unproblematischen Staatsislam vertritt. Der Einfluß des Islamismus ist schwer abzuschätzen. Die Mitgliederzahl sagt über den Einfluß noch wenig aus, denn einerseits nutzen viele Mitglieder nur die sozialen Angebote ihrer Organisation, andererseits wirken die Organisationen weit über den Kreis ihrer Mitglieder hinaus.

Überlegenheitsanspruch oder religiöse Toleranz?

Die Berliner Umfrage und die Heitmeyer-Studie kommen hier zu gegensätzlichen Urteilen. Heitmeyer konstatiert bei mehr als der Hälfte der türkischen Jugendlichen einen "islamzentrierten Überlegenheitsanspruch" und einen je nach Radikalität der angebotenen Aussage zwischen 23 und 35 Prozent liegenden Anteil, der bereit ist, im Dienste des Islam Gewalt anzuwenden. Zwar diene die Religion häufig nur als oberflächliche Rechtfertigung für Gewaltanwendung in Jugendgangs, daneben sei aber auch eine Gewaltbereitschaft festzustellen, "die gewissermaßen substantiell auf religiöse Legitimationsmuster zurückgreift, sich konsistent demgemäß auch organisatorisch durch einschlägige Vereine oder Parteien kanalisieren läßt" (S. 130). Da sich 28,6 Prozent durch die rechtsextreme MHP ("Graue Wölfe") und 21,5 Prozent durch Milli Görüs gut vertreten fühlen, ergibt sich ein beträchtliches Potential politischer Gewalt.

Von den in Berlin befragten Jugendlichen dagegen stimmten nur 8,7 Prozent der Aussage "Muslime sind bessere Menschen" zu, während 88,3 Prozent sich zur Toleranz gegenüber Andersgläubigen bekannten. Nur 1,7 Prozent gehörten einer religiösen Gruppe an, im Vergleich zu einer ähnlichen Umfrage 1991 ging die religiöse Bindung zurück. Ganze 2,7 Prozent bekundeten die Bereitschaft, sich einer gewalttätigen Jugendgruppe anzuschließen. Hier muß allerdings berücksichtigt werden, daß es sich um eine telefonische Umfrage handelte, bei der sich die Jugendlichen der Anonymität nicht sicher sein konnten. Wenige werden da ihre Bereitschaft bekunden, kriminelle Handlungen zu begehen. Allgemein ist die Bereitschaft, provokante Positionen zu beziehen, in einem direkten Gespräch geringer als beim Ausfüllen eines Fragebogens.

Dies hätte in der Bewertung zumindest reflektiert werden müssen. Die Berliner Umfrage untersucht vor allem das Verhältnis zwischen türkischen Jugendlichen und deutscher Gesellschaft, Religiosität und Nationalismus werden nur in allgemeiner Form abgefragt. Für die Beurteilung der Verbreitung radikaler Positionen ist die Untersuchung, die etwas leichtfertig als Widerlegung der Heitmeyer-Studie präsentiert wurde, daher nur von begrenztem Wert.

Die Untersuchung Heitmeyers allerdings weist weit schwerwiegendere methodische Mängel auf und muß sich vorwerfen lassen, durch zweifelhafte Konstruktionen und Fragestellungen zu den erwünschten Ergebnissen zu kommen. Nicht islamwissenschaftlich orientierte Untersuchungen, so klagen die Autoren, gerieten "in den Verdacht, Unkenntnis mit Pauschalisierung zu verbinden, Alarmismus auszulösen und Diffamierung den Boden zu bereiten, weil Islam, Fundamentalismus und Gewalt gleichgesetzt würden" (Hervorhebung im Original). Leider besteht der Verdacht oft zu Recht.

Die Untersuchung unterscheidet drei Kategorien der Religiosität: die persönliche Seite (Identität, Werte, persönliche Lebensgestaltung), die kollektiv-kulturellen Aspekte (Verhältnis zu anderen Religionen und Kulturen) und die politische Dimension (Vergrößerung des islamischen Machtbereichs, Gewaltbereitschaft). Diese Konstruktion mündet in zwei diffuse Begriffe, Überlegenheitsanspruch und Gewaltbereitschaft, zu denen den Jugendlichen eine Reihe schwammiger und interpretierbarer Aussagen vorgelegt werden.

Die Autoren betonen, daß ihre Fragen nicht konstruiert sind, sondern "aus Interviews mit Muslimen entnommen und bzw. aus offiziellem, veröffentlichtem Schriftgut islamistischer Organisationen stammen." Unreflektiert anderswo abzuschreiben und sich der Propagandaphrasen islamistischer Gruppen zu bedienen, ist nicht unbedingt ein Qualitätsmerkmal für eine soziologische Untersuchung. Den Jugendlichen wurde nicht die Möglichkeit gegeben, differenzierte Aussagen über das Verhältnis zum Islam und anderen Religionen zu machen. Statt Fragen und Aussagen zu formulieren, die eine klare Unterscheidung zwischen fundamentalistischen und anderen Islam-Interpretationen zulassen, wurde den Jugendlichen eine diffuse Begrifflichkeit vorgelegt, die in der Tat aus islamistischen Propagandaschriften zu stammen und zudem schlecht übersetzt zu sein scheint.

Die Frage der Rechtgläubigkeit

Die Aussage "Reform und Modernisierung des Glaubens sollte man ablehnen und für eine göttliche Ordnung eintreten" etwa, die von fast 50 Prozent bejaht wird, kann sehr unterschiedlich verstanden werden. Handelt es sich um die Forderung, den Kernbereich des Glaubens zu verändern, was in etwa einer Forderung an das Christentum gleichkäme, sich nach fast 2000 Jahren endlich einmal ein paar neue Evangelien zuzulegen, oder um eine allgemeine Frage nach der Reformbereitschaft? Auch der Begriff "göttliche Ordnung" muß nicht als Forderung nach einem "Gottesstaat" verstanden werden, sondern kann ebenso für die Geltung allgemeiner islamischer Werte stehen.

Besonders problematisch sind diese Unklarheiten bei der Beurteilung des von Heitmeyer konstatierten Überlegenheitsanspruchs. Die Aussage "Jeder Gläubige muß wissen, daß die Religionen anderer Nationen nichtig und falsch sind und ihre Angehörigen Ungläubige sind" müßte eigentlich von jedem orthodoxen Muslim und Islamisten abgelehnt werden. Das Christentum beruht nach islamischer Lehre auf einer göttlichen Offenbarung, die später verfälscht wurde. Es ist daher aus islamischer Sicht keineswegs "nichtig" und seinen Anhängern wird als "Leuten des Buches" auch keine Gottlosigkeit unterstellt. Vermutlich bezieht sich die Zustimmung von zwei Dritteln der Jugendlichen zu dieser Aussage auf deren folgenden Satz: "Der Islam ist die einzig rechtgläubige Religion."

Das würde auch jeder papsttreue Katholik für seine Religion in Anspruch nehmen. Wer bewußt nach den Regeln einer Konfession lebt, geht zumeist davon aus, daß seine Konfession die Botschaft Gottes an die Menschen besser und unverfälschter wiedergibt als andere Konfessionen. Das schließt Toleranz gegenüber Andersgläubigen nicht aus. Problematisch wird dieser "Überlegenheitsanspruch" erst, wenn er mit der Abwertung anderer Religionen und dem Wunsch, sie zu unterdrücken, einhergeht - etwa so, wie noch nach dem zweiten Weltkrieg Papst Pius XII. verkündete: "Was nicht der Wahrheit und dem Sittengesetz entspricht, hat objektiv kein Recht auf Dasein, Propaganda und Aktion."3

Einzig im Interesse höherer Rechtsgüter hielt Pius es für vertretbar, auf Zwangsmaßnahmen gegen Andersgläubige zu verzichten. Erst vor etwas mehr als drei Jahrzehnten hat sich der Katholizismus dann dazu durchgerungen, die Religionsfreiheit eindeutig zu akzeptieren. Die theologische Grundlage dieser Entscheidung ist die Trennung von Kirche und Staat; der Katholizismus befürwortet den religiös neutralen Staat, hält aber daran fest, daß Erlösung nur im Schoße der katholischen Kirche möglich ist. Wer die Toleranz gegenüber Andersgläubigen erforschen will, muß schon konkret nach dem Wunsch fragen, andere Religionen zu unterdrücken - beispielsweise mit einer auf das Christentum zugeschnittenen Abwandlung der oben angeführten päpstlichen Formulierung.

Jihad mit Gaspistolen?

Hier dagegen wird der auf fragwürdige Weise ermittelte und diffuse "islamzentrierte Überlegenheitsanspruch" mit Gewaltbereitschaft in Verbindung gebracht. Die von einem Viertel bis einem Drittel der Jugendlichen geäußerte Bereitschaft, in dieser oder jener Weise für ihren Glauben Gewalt anzuwenden, ist in jedem Fall beunruhigend, auch wenn aus keiner der vorgelegten Aussagen die Bereitschaft abgeleitet werden kann, Andersgläubige anzugreifen. Heitmeyer bezieht die Gewaltbereitschaft für den Islam ganz selbstverständlich auf die deutschen Verhältnisse und suggeriert, obwohl dies an keiner Stelle offen ausgesprochen wird, eine weit verbreitete Bereitschaft zur Gewaltanwendung gegen die deutsche Gesellschaft. Die diffusen Formulierungen lassen jedoch offen, gegen wen und unter welchen Bedingungen die Jugendlichen Gewalt für berechtigt halten. So dürften recht viele bei der Aussage "Wenn jemand gegen den Islam kämpft, muß man ihn töten" eher an Bosnien als an den Jihad in Deutschland gedacht haben.

Ein sehr fragwürdiges Verfahren ist es, religiös motivierte Gewaltbereitschaft mit der Selbstverteidigung gegen rassistische Gewalt in Verbindung zu bringen und dabei den Jugendlichen keine Möglichkeit zu geben, sich für ein säkular-demokratisches Engagement gegen den Rechtsextremismus auszusprechen. Die im Anhang abgedruckten Erklärungen türkischer Jugendlicher zeigen ein eher rationales und abgeklärtes Verhältnis zu militanter Selbstverteidigung und Gegengewalt. Und es hätte gewiß nicht geschadet, darauf hinzuweisen, daß jene 38,3 Prozent, die eine "Bewaffnung" gegen rassistische Gewalt befürworten, darunter in der Regel Gaspistolen und nicht Schnellfeuergewehre verstehen.

Ungeachtet ihrer fragwürdigen Konstruktionen zeigt die Heitmeyer-Studie eine weite Verbreitung autoritärer bis antidemokratischer Einstellungen unter türkischen Jugendlichen. Die Frage nach der Sympathie für bestimmte Organisationen etwa kann kaum falsch verstanden werden, und die großen Sympathien für MHP und Milli Görüs sind in der Tat besorgniserregend, mögen sie auch vielfach oberflächlich sein und eher den sozialen Angeboten als der Ideologie gelten. Schwer nachvollziehbar ist jedoch, warum Heitmeyer solche problematischen Einstellungen allein auf den Islam zurückführt und beispielsweise die eindeutig nationalistisch dominierte MHP hier einordnet.

Die Angaben zur religiösen Observanz belegen, daß die Sympathien für den Islamismus allenfalls oberflächlich sein können. Nur eine Minderheit folgt den religiösen Geboten. Ganze 10,8 Prozent der Jugendlichen absolvieren die vorgeschriebenen täglichen fünf Gebete. Gemeinsam mit jenen, die mehrmals oder einmal täglich beten, bilden sie eine Minderheit von etwas mehr als einem Viertel. Auch der Moscheebesuch ist nicht allzu beliebt. Gerade 21 Prozent suchen einmal pro Woche eine Moschee auf, während 23,3 Prozent nie hingehen. Einzig der Ramadan, der ja in erster Linie ein Familien- und Nachbarschaftsfest ist, erfreut sich mit einer Beteiligung von 61,4 Prozent großer Beliebtheit, weitere 25,1 Prozent geben an, wenigstens einige Tage zu fasten.

Für die große Mehrheit der Muslime sind die in den "fünf Säulen" festgehaltenen religiösen Pflichten der Kern des Islam, und in den meisten islamischen Ländern wird die Observanz sehr ernst genommen. Für Islamisten sind öffentliche Gebete und häufiger Moscheebesuch zudem politische Demonstrationen. Feindseligkeit und Spott aus der deutschen Bevölkerung mögen den religiösen Eifer bremsen, zumindest was das öffentliche Beten betrifft. Als alleinige Erklärung für die geringe Observanz sind sie jedoch unzureichend, denn drei Viertel der befragten Jugendlichen zeigten sich zufrieden mit den Möglichkeiten, ihre Religion in Deutschland auszuüben; zwei Drittel gaben an, eine Moschee in unmittelbarer Nähe zur Verfügung zu haben. Angesichts der Klagen diverser islamischer Organisationen und der häufig feindseligen deutschen Reaktionen auf geplante Moscheebauten ist dieses Ergebnis erstaunlich.

Die recht geringe religiöse Observanz wird von Heitmeyer kaum reflektiert. Jene Minderheit von 20 Prozent 25 Prozent, die sich im wesentlichen an die religiösen Rituale hält, entspricht in etwa dem in anderen europäischen Staaten festgestellten Anteil praktizierender und aktivistischer Muslime; diese Ergebnisse werden auch von der Berliner Umfrage bestätigt. Trotz aller sozialen und kulturellen Angebote ist es den türkisch-islamischen Organisationen nicht gelungen, die Moscheen zu von den Jugendlichen anerkannten sozialen Zentren zu machen.

Nationalismus und staatliche Kontrolle

Insofern ist es angebracht, anderen möglichen Wurzeln autoritärer Einstellungen größere Beachtung zu schenken. Doch Patriarchat und traditionelle Vorstellungen von männlicher Ehre werden bei Heitmeyer nur am Rande behandelt, und der Nationalismus wird ausgesprochen schonend bewertet. Zwar betonen die Autoren: "Im türkischen Zusammenhang ist die politische Seite des islamischen Fundamentalismus nicht ohne einen nationalistischen Kontext zu denken." Leider verschwindet diese überaus wichtige Erkenntnis in der späteren Darstellung völlig. Mit Formulierungen wie "defensiver Nationalismus" oder "wird an der formalen Demokratie festgehalten" drücken sie sich um die Kennzeichnung des türkischen Nationalismus als einer autoritären Ideologie, die selbst in ihren liberaleren Formen nur einen eingeschränkten Pluralismus akzeptiert.

Dementsprechend fehlt jede Problematisierung der Einflußnahme des türkischen Staates auf seine nach Deutschland ausgewanderten Untertanen. Der Einfluß der "Konsulatstürken" ist jedoch ein entscheidender Faktor sowohl für die Entwicklung des türkischen Islam als auch für die Verbreitung autoritär-nationalistischer Einstellungen. Es ist üblich, daß ArbeitsemigrantInnen sich weiterhin mit ihrem Herkunftsland identifizieren und daß dessen Regierung versucht, sie weiterhin zu kontrollieren. Die Verbindung ist jedoch nirgendwo so eng wie bei der türkischen Bevölkerung in der BRD, und sie wird von der Bundesregierung gefördert, weil sie es erleichtert, am Mythos festzuhalten, Deutschland sei kein Einwanderungsland.

Der türkische Islam in Deutschland liegt an der Kette des türkischen Staates und der islamistischen Opposition. Das ist bedauerlich, denn eine kreative, den Bedingungen der Emigration angemessene Weiterentwicklung des islamischen Erbes wird dadurch zumindest stark erschwert. Während in anderen europäischen Staaten neue, von einer jungen, in Europa aufgewachsenen Generation entwickelte Formen islamischen Lebens an Boden gewinnen, steckt diese Entwicklung hierzulande noch in den Kinderschuhen. Ein zentraler Faktor für die Orientierung auf die Türkei ist die Rechtsunsicherheit der türkischstämmigen Bevölkerung. Wer befürchten muß, ausgewiesen zu werden, ist praktisch gezwungen, enge Verbindungen zum Herkunftsland beizubehalten.

Durch die längst überfällige Reform des Staatsbürgerschaftsrechts könnte von deutscher Seite ein Beitrag geleistet werden, die Bindung an die Türkei zu normalisieren. Mehr als drei Viertel der in Berlin befragten Jugendlichen gaben an, in Deutschland bleiben zu wollen, und knapp 60 Prozent würden die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen, auch wenn sie die türkische aufgeben müßten. Die Gewährung staatsbürgerlicher Rechte oder ein Antidiskriminierungsgesetz sind natürlich keine Allheilmittel gegen antidemokratische Einstellungen, sie würden der türkischen Bevölkerung (und vielleicht auch der deutschen) aber neue Perspektiven eröffnen und sicherlich dazu beitragen, islamistische und nationalistische Einstellungen zurückzudrängen.

Heitmeyer betont die Bedeutung von Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung bei der Entstehung antidemokratischer Anschauungen. Die Erfahrungen anderer Industriegesellschaften belegen, daß Minderheiten häufig gerade das Merkmal betonen, aufgrund dessen sie diskriminiert werden. Dies muß nicht in eine Selbstethnisierung und bewußte Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft münden, wenn diese bereit ist, sich als multiethnische und multireligiöse Gesellschaft zu verstehen. Welche Orientierungen sich in der türkischen Bevölkerung durchsetzen, hängt nicht allein, aber maßgeblich von der Haltung der deutschen Gesellschaft ab. Hier ist die Entwicklung zwiespältig. Die Berliner Umfrage stellt einerseits fest, daß deutlich mehr türkische Jugendliche von persönlichen Erfahrungen mit Diskriminierung berichten als 1991; jede/r zwanzigste ist schon einmal aufgrund seiner Herkunft tätlich angegriffen worden. Andererseits betonen immerhin 18,3 Prozent, das Verhältnis zur deutschen Bevölkerung sei besser geworden; 1991 waren es nur 2,4 Prozent.

Knödel statt Kebab?

Bezüglich der Islam-Diskussion kann immerhin festgestellt werden, daß das Niveau in den letzten Jahren erkennbar gestiegen ist. Es gibt allerdings weiterhin eine Tendenz, den Islam als grundsätzlich fremd und nicht integrierbar zu betrachten. Bei rationaler Betrachtung fällt es jedoch schwer, an der islamischen Lebensweise, selbst in ihren konservativen und fundamentalistischen Formen, etwas zu finden, was nicht auch in der christlichen oder christlich geprägten Bevölkerung vertreten würde. Der gesellschaftspolitische Konservatismus im Islam unterscheidet sich nicht grundsätzlich vom Konservatismus der christlichen Rechten, die in den 70er Jahren beispielsweise gegen den Sexualkundeunterricht Sturm lief. Daß wahre Gleichberechtigung in geschlechtlicher Arbeitsteilung besteht, glauben auch Biedenkopf und andere deutsche Konservative. Ein Kopftuch tragen auch Nonnen und Diakonissinnen. Verzicht auf Schweinefleisch und Alkohol sind nichts Ungewöhnliches, das Fasten aus religiösen oder weltlichen Gründen wird ebenfalls von vielen Deutschen praktiziert.

Einzig in Randbereichen lassen sich Konfliktpunkte ausmachen, die eindeutig mit dem Islam verbunden sind. So wird die Schächtung, die von den meisten Muslimen als religiös geboten angesehene Schlachtung von Tieren durch Durchschneiden der Kehle, von den meisten Nichtmuslimen als grausam gewertet. Da es nicht verboten ist, die Tiere vor der Schlachtung zu betäuben, sollte es nicht schwerfallen, hier einen Kompromiß zu finden, der außer radikalen Tierschützern alle zufriedenstellt.4

So wird denn auch selten benannt, worin die der türkischen Bevölkerung abverlangte Integrations- oder Anpassungsleistung bestehen soll. Während kaum jemand davon ausgeht, daß Deutsche, die ausländische Kulturgüter oder Nahrungsmittel konsumieren, ihre gesellschaftliche Integration verlieren, werden bei der türkischen Bevölkerung immer noch andere Maßstäbe angelegt. Zu diesen anderen Maßstäben gehört auch die Konzentration auf den Islam als Wurzel autoritärer Einstellungen. Wer sich mit Nationalismus und Patriarchat beschäftigt, setzt sich mit Erscheinungen auseinander, die auch in der deutschen Gesellschaft nicht unbekannt sind. Einzig die Konzentration auf den Islam erlaubt es, autoritäre und antidemokratische Einstellungen auszugrenzen und "fremd" zu halten.

Die Heitmeyer-Studie und andere Untersuchungen sprechen dafür, daß solche Einstellungen in der türkischen Bevölkerung stärker verbreitet sind als unter den Deutschen. Die Religion spielt eine größere Rolle, Nationalismus und Patriarchat werden weniger hinterfragt. Zu Alltagskonflikten mit Deutschen führt weniger die Existenz solcher Haltungen als die Vorstellungen vieler türkischer Jugendlicher von männlicher Ehre, die es gegebenenfalls mit Gewalt zu verteidigen gilt. Darauf deuten zumindest die wenigen Forschungen über gewalttätige türkische Jugendgruppen hin.

So führt die von Klaus-Peter Martin in Kommune 5/1996 dargestellte ethnologisch orientierte Arbeit von Hermann Tertilt über die "Turkish Power Boys" die Gewaltbereitschaft auf den Konflikt zwischen Diskriminierung und Marginalisierung der Jugendlichen und ihren Werten von Männlichkeit und Ehre zurück. Die eigene Lage und die der Eltern, die in der Regel in untergeordneten und wenig angesehenen Berufen arbeiten, wird als Erniedrigung empfunden, die gerächt werden muß. Dabei verbinden sich traditionelle, nationalistische und westlich-kapitalistische Werte. Die bedingungslose Solidarität mit der Gruppe, die auch dort verteidigt werden muß, wo sie sich im Unrecht befindet, findet sich in traditionellen Gemeinschaften ebenso wie im westlichen und türkischen Nationalismus. Der Statusgewinn durch das Tragen teurer Markenkleidung (die kriminelle Hauptaktivität türkischer wie deutscher Jugendgangs besteht darin, anderen Jugendlichen solche Kleidung mit Gewalt abzunehmen) ist eine auch in der deutschen Gesellschaft neue Erscheinung, die wir der "geistig-moralischen Wende" zum Neoliberalismus zu verdanken haben. Der Islam spielt allenfalls eine untergeordnete Rolle als der Ethnizität nachgeschobene, zusätzliche Abgrenzung gegenüber der deutschen Gesellschaft.

Türkische Jugendliche werden maßgeblich von der deutschen Gesellschaft sozialisiert, wie alle MigrantInnen stehen sie vor dem Problem, einen Weg zwischen der Kultur ihres Herkunftslandes und der Kultur des Landes zu finden, in dem sie leben. Insofern wäre es sinnvoll, Gewaltbereitschaft und autoritäre Einstellungen unter ihnen als Teil der Probleme einer multikulturellen Klassengesellschaft zu betrachten, statt sie als "Ausländerkriminalität" oder "islamische Gefahr" auszugrenzen.

1 Wilhelm Heitmeyer, Joachim Müller, Helmut Schröder, Verlockender Fundamentalismus. Türkische Jugendliche in Deutschland, Frankfurt/M. (edition suhrkamp) 1997 (277 S., 22,80 DM)

2 Türkische Jugendliche in Berlin, Pressemitteilung der Ausländerbeauftragten des Senats, Oktober 1997; die Veröffentlichung wird auf Anfrage kostenlos zugeschickt.

3 Zitiert nach: Barbara Huber-Rudolf, Vom Gottesstaat in die Religionsfreiheit. Beobachtungen zur Reformfähigkeit der Muslime in Europa, Bonn 1995, S. 102.

4 Einen Überblick über die islamischen Lebensweisen in Deutschland gibt: Peter Heine, Halbmond über deutschen Dächern, München (List Verlag) 1997 (352 S., 39,80 DM)