Was nützen Gewerkschaften heute und morgen?

Entwickelte Gesellschaften und traditionelle Gewerkschaften

Anton Mlynczak

Die IG Metall hat im Mai beschlossen, eine breit angelegte Debatte über ihre zukünftige Politik zu führen. Höchste Zeit, naiv-marxistischen Ballast abzuwerfen, Veränderungsprozesse sind überfällig. Unter anderem bei "Rente mit 60".

Was passiert, wenn nichts passiert, zeigt Großbritannien. Der Gewerkschaftsführer Arthur Scargill hat 1979 dazu beigetragen, dass Labour-Premierminister James Callaghan ab- und Margret Thatcher gewählt wurde. Nach einer Reihe von radikalen Kämpfen zur Erhaltung von alten Industrien – von der Linken in Deutschland damals hoch bewundert – hat die konservative Regierung von Margret Thatcher dann kaum Mühe gehabt, die britischen Gewerkschaften in zumindest politische Bedeutungslosigkeit versinken zu lassen. So wie die britischen Gewerkschaften die moderne Industriegesellschaft nicht mitgestaltet haben ("Verteidigung des Heizers auf der E-Lok"), konnten sie schon gar nicht die nachindustrielle Gesellschaft mitgestalten.

Einerseits hat die britische Gesellschaft neuen Bewegungsspielraum gewonnen, die Arbeitslosenrate sinkt, die alte Schicht der Kolonialrentner verschwindet aus der Öffentlichkeit, Städte wie Birmingham präsentieren sich in Teilen modern, Europa- und weltoffen, die britische Gesellschaft befindet sich seit einigen Jahren im Aufbruch und Aufschwung. Sie schleppt aber alte Verfallserscheinungen weiter mit sich. Der Verfall der Familie ohne Ersatzkultur schreitet fort, sichtbar zum Beispiel an einer hohen Rate von Schwangerschaften von minderjährigen Frauen. Die alten Wohnviertel verfallen weiter. In den zur Restrukturierung freigegebenen und privatisierten Bereichen wie öffentlicher Verkehr und Gesundheitswesen hat sich Großbritannien neue Defizite wie überbelegte Krankenhäuser oder ein unfallträchtiges Bahnsystem eingehandelt.

Die Gewerkschaften spielen bei all dem keine, weder eine positive noch negative Rolle. Und die britische Gesellschaft scheint es nicht zu stören.

Die deutschen Gewerkschaften haben die Modernisierung der Industrie (schlussendlich) mitgetragen. Aber was ist jetzt?

Die deutschen Gewerkschaften standen in den Achtzigerjahren besser da als ihre britischen Kollegen – vielleicht. Die CDU-Regierung unter Kohl hat keine Politik zur Zerschlagung der Gewerkschaften gemacht oder machen können. Die Gewerkschaften haben sich relativ gut durch die Tarifauseinandersetzungen der letzten Jahre manövriert, in der gesellschaftspolitischen Debatte spielen sie insbesondere um das "Bündnis für Arbeit" herum eine nicht unbedeutende Rolle. Mit ihrer Kampagne "Rente mit 60" hat die IG Metall ein großes, wenn auch eher kritisches Medieninteresse hervorgerufen. Das ist einigermaßen verwunderlich, wenn man die Anti-Kohl-Rhetorik der eher wortreich wie auch die der eher praktisch orientierten Gewerkschafter Revue passieren lässt. Der rapide Sinkflug der Mitgliederzahlen seit Anfang der Neunzigerjahre zeigt aber, dass sich Dramatisches tut.

Weltweit befinden sich die entwickelten Gesellschaften in großen Umbrüchen (siehe Entwicklung des gewerkschaftlichen Organisationsgrades in den Tabellen 1 und 2 sowie Schaubild und Schaubild 2). Die deutschen Gewerkschaften laufen jetzt oder seit zehn Jahren Gefahr, diese Umbrüche – anders als die Umbrüche der Siebziger- und der beginnenden Achtzigerjahre – nicht mitgestalten zu können und damit von der Gesellschaft als störend und überflüssig betrachtet zu werden.

In den modernen Wirtschaftssektoren Dienstleistungen (personenbezogene Leistungen, Industriedienstleistungen, Informationsdienste), Informations- und Kommunikationsindustrie können sie nicht Fuß fassen. Angestellte, Frauen und Jugendliche sehen in den Gewerkschaften keine Heimat. 14- bis 25-Jährige kennen die Gewerkschaften kaum.

Der IG-Metall-Gewerkschaftskongress 1999 wollte in die Zukunft aufbrechen, bot aber nur eine traurige Vorstellung. Wäre der Auftritt von Gerhard Schröder ("Rot-Kohl") ausgefallen, so wäre dem Gewerkschaftstag durch fehlenden Gegnerbezug die letzte Spannung verloren gegangen. Gegner in Regierung, Parlamente und bei den Unternehmern, mangelnde Einheit, Verrat und rechte Abweichungen, mangelnder Kampfeswillen und schlaffes Engagement und Kapitulation vor dem Neoliberalismus werden immer mal wieder ins Feld geführt, wenn es um Gründe für den Mitgliederschwund geht. Unattraktivität in den neuen Branchen, geringer Einfluss bei den Angestellten und Jugendlichen wird von einigen Funktionären auf  falsches Bewusstsein bei diesen Schichten zurückgeführt.

Mit der Debatte um die Gestaltung der Zukunft kann die IG Metall sich öffnen, sich "erfrischen" und sich den gesellschaftlichen Umbrüchen stellen. Allerdings liegen vor der IG Metall drei bis vier Jahre des Machtkampfes um die Nachfolge von Klaus Zwickel als Vorsitzendem. Die bisherigen Rituale des Machtwechsels – über Altersabgang, Senioritätsansprüche und verstecktem Machtkampf im Apparat – machen einen inhaltlich und getragenen offenen Erneuerungsprozess kompliziert. Mit dem an Klaus Zwickel gerichteten Vorwurf der "Teledemokratie" wollten kürzlich einige eher traditionell links angesiedelte Funktionäre sich an die Spitze der Kritik im mittleren Funktionärskörper am letzten Tarifergebnis stellen. "Funktionärsklüngel statt Teledemokratie", das wäre der geeignete Weg, die Gewerkschaften in der Gesellschaft  und die Funktionsträger in der Mitgliedschaft zu isolieren.

Braucht die Gesellschaft noch Gewerkschaften?

Die Gewerkschaften nennen sich selbst die Organisation der "lohnabhängig Beschäftigten", deren Interessen sie zu vertreten haben. Die zusätzliche gesellschaftliche Antwort, die insbesondere die IG Metall über den DGB zu den Bundestagswahlen gab, ist: Für Arbeit und soziale Gerechtigkeit.

Für Arbeit: Bei einer Gesellschaft, der die bäuerliche Arbeit längst ausgegangen ist und der die industrielle Arbeit ausgeht,  kann das die Hoffnung auf eine Renaissance oder Stabilisierung der Industrie bedeuten oder aber den Wunsch ausdrücken, neue Arbeitsformen zu gestalten und der zunehmenden Durchlässigkeit von Arbeit und Leben, Erwerb und Nichterwerb Rechnung zu tragen.

Zudem wälzt sich die Sphäre der Arbeit permanent um, zwischen den Branchen und Unternehmen, zwischen den Regionen und zwischen den Berufen. Für eine Organisation, deren Entscheidungen eher demokratisch oder konsensual als elitär getroffen werden, die eher träge als schnell operiert, bedeutet das den immer währenden Entzug der Basis. Wie soll sie darauf reagieren: bremsen oder mitmachen und sich reformieren und effizienter werden?

Für soziale Gerechtigkeit: Was ist eigentlich soziale Gerechtigkeit in einer entwickelten Gesellschaft? Ist es die Zunahme des Lebensstandards mit zunehmendem Alter oder die Förderung von Personen, die Erwerb und Kinderziehung in Einklang bringen wollen? Wird lange Betriebszugehörigkeit honoriert oder die Bereitschaft zum Wechsel? Was ist eigentlich Reichtum und was Armut? Wie reagieren wir auf die durch Wohlstand und Medizin hervorgerufene, erfreuliche Verlängerung der Lebenserwartung? Sind die vielfältigen unterschiedlichen Lebensformen überhaupt gerecht und vergleichbar zu behandeln? Und was ist mit Reichtum, der durch gesellschaftlichen Erfolg und Zufall und weniger durch "harte" Arbeit erzielt wurde (work smart, not hard)?

Organisation der lohnabhängig Beschäftigten: 87 Prozent der deutschen Gesellschaft sind "lohnabhängig" (in den 50er-Jahren lag der Anteil der Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen in vH der Erwerbstätigen insgesamt noch bei über 30 Prozent; heute liegt er bei knapp 12 Prozent!). Die auf generationenübergreifendem Familieneigentum beruhende Selbstständigkeit (Bauern, Handwerker, Fabrikanten) ist eher der "Scheinselbstständigkeit" gewichen. Der Übergang zwischen Arm und Reich ist durchlässig geworden und nicht unbedingt an Selbstständigkeit und "Privateigentum an Produktionsmitteln" gebunden. Die großen Kapitale beruhen weniger auf persönlichem Eigentum als auf Übertragung von Entscheidungsgewalt und Macht an Einzelne durch ein Geflecht zunehmend international operierender ökonomischer Eliten oder Netzwerke von Mächtigen. Natürlich leuchtet nicht nur in jeder Tarifauseinandersetzung der Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital auf (bei den Gewerkschaften verschämt "Interessengegensatz" genannt). Aber die Menge der zu lösenden Fragen verlangt ebenso die Moderation von unterschiedlichen Interessen und Wünschen zwischen den vielfältigen Milieus "Lohnabhängiger" wie ab und zu den "entschiedenen Kampf" gegen das Kapital. Nicht nur die bipolare Welt hat sich aufgelöst, auch die Gesellschaft ist nur noch in Vielfalt und Multipolarität zu verstehen.

Für Arbeit und soziale Gerechtigkeit: Ist es konservativer Schlachtruf zur Bewahrung  oder Rückgewinnung von Arbeitsformen und Lebenswelten, die sich mit der Industriegesellschaft herausgebildet haben oder können die Begriffe ein Rahmen sein, unter dem sich ein modernes individuelles und gesellschaftliches Selbstwertgefühl bilden und eine zukunftsträchtige Aufbruchsstimmung in einer nachindustriellen, weltoffenen Gesellschaft entstehen kann?  Eine Gesellschaft, die den "Terror der Ökonomie" bändigen und eine freiheitliche "Sozio-Ökonomie" stärken kann. Eine Gesellschaft, in der Individualität und Kooperation, Selbstständigkeit  und Geborgenheit eine neues Verhältnis eingingen. Wären dazu Gewerkschaften in der Lage und erwünscht?

Alternative Zukunftspfade der Industriegewerkschaften

Angesichts der wirtschaftlichen Umbrüche (siehe Schaubild 3: Entwicklung der Beschäftigung in Deutschland) haben die Industrie-Gewerkschaften die Wahl:

– Sie können sich entscheiden für die reine, auf Bewahrung gerichtete Interessenvertretung der Industriearbeiterschaft – durchaus nicht zahnlos oder erfolglos wie es beispielsweise die amerikanischen Automobilarbeiter zeigen –, aber auf dem absteigenden Ast. Wenn die Wirtschaft brummt – wie in den USA –, schließt das Zwischenhochs nicht aus, ändert aber an der Tendenz nichts. Gleichzeitig laufen sie Gefahr, dass die Gesellschaft ihnen besondere demokratische Rechte nicht länger zubilligt  (Streikrecht, Rechte der Betriebsräte, Rechte der gewerkschaftlichen Betätigung in den Betrieben, Selbstverwaltungsrechte in den Sozialversicherungen, besondere Rechte in der Arbeitsgerichtsbarkeit). Natürlich würden sie dann auch ihr ideologisches Gewand "fortschrittliche Kraft" ablegen, könnten aber in bekannten Gefilden, mit in Jahrzehnten trainierter Rhetorik und mit weitgehend gleichem Funktionärskörper agieren.

– Sie können sich (erneut) als gesellschaftspolitische Reformkraft profilieren, die eine sich rasant entwickelnde Welt-Wirtschaft und Welt-Gesellschaft mit gestalten und mit prägen und dafür den Spagat zwischen den heutigen und zukünftigen Interessen ihrer Mitglieder oder potenziellen Mitglieder wagen. Dazu müssen sie erhebliche Veränderungsprozesse durchlaufen. Diese beziehen sich auf Rollen, die ihre Funktionärskörper bisher eingenommen haben. Sie beziehen sich auf die Rituale von Einheit, die zunehmend der Moderation unterschiedlicher Wünsche weichen müssten. Machtentfaltung durch einheitliche Aktion würde dringend ergänzt werden müssen durch Erringen von Macht über die Köpfe der Individuen durch Informations-, Organisations- und Beratungsdienstleistung sowie Wissensvermittlung. (Neue) Zielgruppen wie die Jugend, Angestellte, Selbstständige in alten und neuen Branchen könnten willkommen sein, wie sie nun mal sind, und ihre Konfliktformen, ihre Art zu arbeiten und zu leben sollten eher als Bereicherung aufgefasst werden denn als übergangsweise hinzunehmendes Übel, das sich irgendwann den bekannten Formen und Strukturen anpassen sollte. Kürzlich hat sich Jürgen Peters zur Expansion der IG Metall in die neuen Branchen so geäußert: "Wir brauchen Jahre, bis wir in den neuen Branchen die Strukturen haben, die wir wollen." Vierzig Jahre sind mit dem Ansatz, die neuen Schichten, insbesondere die Angestellten, nach eigenem Bild einheitlich zu formen, wenig erfolgreich ins Land gegangen.  "Entscheidend" war 1960, dass "von Seiten der Arbeiter Einsicht in die wachsende Bedeutung ... der Angestellten, von Seiten der Angestellten ... die Ablegung der Reste ... ständischen Sozialbewusstseins, das die Erkenntnis ihres wirklichen Standortes ... verhindert" erfolgte.

Ansätze einer modernen Aufgabenbestimmung der Gewerkschaften in den entwickelten Ländern

Gesellschaften wie die der untergegangenen DDR, die auf Erhalt des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Status quo ausgerichtet war, sind wenig emanzipativ. Die moderne Gesellschaft zeichnet sich vielmehr durch hohe Dynamik, große Vielfalt und eine Fülle von immer neuen, die nationalen Schranken übersteigenden Aushandlungsprozessen aus:

– Aushandlungsprozesse zu neuen Unternehmenskonstellationen oder Börsenzusammenschlüssen;

– Aushandlungsprozesse zur Neuorganisation der Arbeit in den Betrieben (mit und ohne Gewerkschaft);

– Aushandlungsprozesse zwischen Staat und Bürgerinitiativen;

– Aushandlungsprozesse in den Familien, zwischen Eltern und Kindern

– und vielen gesellschaftlichen Bereichen mehr.

Darin liegen erhebliche Unsicherheiten und die Möglichkeit für einige, sich in ihrer gesellschaftlichen Position zu verschlechtern. Natürlich sind diese Restrukturierungsprozesse auch sehr aufwändig, Menschen werden in Turbulenzen gerissen, die sie nicht beherrschen und auch nicht so beherrschen wollen. Die Chancen liegen aber gerade darin, nationale Schranken und Nationalismen zu überwinden, gesellschaftliche Abhängigkeiten und Unterdrückungsverhältnisse aufzubrechen, neuen Schichten Aufstiegsmöglichkeiten einzuräumen.

Aufgabe der Gewerkschaften wäre es, bei den Aushandlungsprozessen auf dem Arbeitsmarkt und sicherlich auch auf dem Markt für Dienstleistungen von Selbstständigen  für das nötige Gewicht derjenigen zu sorgen, die Arbeitskraft, individuelle Arbeitsergebnisse oder individuelle Dienstleistungen anbieten. Oder besser: den Agierenden den nötigen Raum, Rahmen und Rückhalt auf diesem Markt zu geben. Kaum zu halten sein wird ein weitgehend statisches Regelwerk, das alles und jedes für alle und jeden einmalig festschreibt.

Die Gewerkschaften können aufgrund ihrer Größe und ihres Einflusses emanzipativen Bestrebungen Nachdruck geben:

– Bestrebungen auf Emanzipation oder Selbstständigkeit des Einzelnen,

– Bestrebungen auf Entwicklung der zwischenmenschlichen Beziehungen,

– Bestrebungen, die die Grundlagen des Lebens nachhaltig entwickeln und schonen wollen,

– Bestrebungen, die in einer sich beschleunigenden und grenzenloseren Welt Ankerpunkte und Heimatorte schaffen wollen.

Ich will hier den verschiedenen gewerkschaftlichen Optionen nachgehen:

– Vulgär-marxistischen Ballast abwerfen, mit allen Verkrustungen, Plattheiten und den zugehörigen, die Handlungsfähigkeit hemmenden Attitüden.

– Sich auf die guten Erfahrungen der pragmatischen Tarifpolitiker und Betriebspraktiker stützen.

– Gesellschaftspolitische Kompetenz erhöhen, sich  nicht nur fordernd, sondern auch moderierend und gestaltend in die Umbruchprozesse einmischen.

– Die Effizienz der Gewerkschaften durch Nutzung und Bejahung von innerer Vielfalt und äußeren Veränderungsprozessen und einem europaweiten Wettbewerb fördern.

Abwurf von naiv-marxistischem Ballast

Alte Ideologien leben länger als die Verhältnisse, die sie hervorgebracht haben. Insbesondere was dann im Laufe der Zeit alles an Rezepten entstand und zum Prinzip "gewerkschaftlicher Politik" ernannt wurde. Man kann es vielleicht unter dem Begriff Anti-Kapitalismus zusammenbinden.

Antikapitalistische Ideologie hat den betrieblichen und tariflichen Auseinandersetzungen der IG Metall als moralische Rechtfertigung gedient, war Synonym für Macht im Aushandeln oder Auskämpfen der Nutzungsbedingung von Arbeitskraft und ihres Preises.

In den betrieblichen Auseinandersetzungen hat der Adressat von Forderungen – die Geschäftsleitung – einen verallgemeinerten Namen (Kapitalist, Unternehmer, Arbeitgeber) erhalten. In einer im Wesentlichen auf Kommando beruhenden Produktion ist es ganz nützlich, sich dem Kommando mindestens mental zu entziehen und das Interesse des Arbeiters dem Profitinteresse des Unternehmers diametral entgegenzuhalten, wenn etwas zu regeln oder durchzusetzen ist.

In den Tarifauseinandersetzungen war das Waffenarsenal an Parolen und Argumenten immer gut gefüllt. Den immer wieder vorgetragenen Argumenten, dass es der Gesellschaft gut geht, wenn es den Kapitalisten gut geht, stellt sich die antikapitalistische Kritik entgegen, und wenn auch nur in der Form: "Schuld an der Arbeitslosigkeit, an den Krankheiten, an der Rationalisierung, der Betriebsschließung ..." sind die Kapitalisten oder ist die kapitalistische Wirtschaftsordnung. Wenigstens macht das den Kampf der Gewerkschaften zum Kampf der Guten gegen die Bösen, die Andersdenkenden in den eigenen Reihen zu Abweichlern oder Verrätern, mit falschem (herrschendem) Bewusstsein ausgestattete Verirrte. Dumm nur, dass man mit den Bösen in ein und derselben Gesellschaft leben muss.

– Verstaatlichungsdrohungen und Forderung nach Staatsintervention schlossen die wirtschaftspolitisch offenen Flanken, wenn die Kapitalisten den Markt als Problem in den Mittelpunkt stellen konnten. Insbesondere der Niedergang der Stahlindustrie ist immer wieder von Verstaatlichungsforderungen begleitet worden. Gott und Marx sei Dank, dass diese Forderungen nie durchsetzungsfähig waren. Antikapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik aus den Gewerkschaften war und ist eher wortreicher Flankenschutz als politische Gestaltung gewesen.

Diese Art Anti-Kapitalismus liefert die Rechtfertigung dafür, nicht gestaltend in die Gesellschaft eingreifen zu müssen und setzt keine Energien zur weiteren Emanzipation von Personen und Gesellschaft frei. Er liefert eher Vorwand und Rituale für Bärenhäutigkeit und Absicherung interner, unproduktiver Macht.

Pragmatiker der Tarif- und Betriebspolitik

Die verballinke Ideologie traf auf Praktiker und Pragmatiker in der Tarifpolitik und in den Betrieben. Letztere mussten oder wollten mitgestalten – nicht immer zur Zufriedenheit der Belegschaften. Der Anti-Kapitalismus nutzt nur zur Eröffnung oder Entwicklung der Auseinandersetzung. Will man den Konflikt lösen, so braucht man die Weiterexistenz des "Kapitals" – es sei denn ..., aber das will ja auch keiner mehr. Insofern wurden unter dem Strich Betriebspolitik und Tarifpolitik immer von den Pragmatikern und Praktikern beherrscht. Selbst im Fall von Betriebsstilllegungen kam es nicht zu den aufopferungsvollen, aber verlustreichen Aktionen der britischen Gewerkschaften, sondern eher zu (durchaus häufig problematischen) sozialverträglichen Abfindungslösungen.

Ein Vergleich mit den britischen Gewerkschaften zeigt: Praktiker und Pragmatiker haben den deutschen Gewerkschaften zumindest einen frühen Knock-out erspart, wie ihn die britischen Gewerkschaften unter Thatcher hinnehmen mussten. Die britischen Gewerkschaften sind an der Modernisierung der Industrie in den Siebzigerjahren gescheitert, die deutschen Gewerkschaften haben im Großen und Ganzen die Modernisierung der Industrie mit getragen, sich dabei "über Wasser gehalten", könnten aber am Übergang von der Industriegesellschaft in die Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft in den Neunzigerjahren scheitern.

In einzelnen Betrieben sind individuelle Lösungen entstanden, wie Gruppenarbeit, Arbeitszeitkonten oder, wie kürzlich, ihre Umwandlung in Rücklagen für die Rente (VW), die 28-Stundenwoche (VW), schadstoffarme und häufig ergonomisch gestaltete Arbeitsplätze, manchmal geschickte Standortsicherungsvereinbarungen. Die Fabriken als Innovationswerkstatt. Und so sind die Fabriken der Siebziger- und Achtzigerjahre nicht zu vergleichen mit denen der Fünfziger- und Sechzigerjahre, wenigstens nicht in den "alten" Bundesländern. (In der ehemaligen DDR dagegen sind die Fabriken weder modernisiert worden, noch sind die Arbeitsplätze ergonomischer geworden.) Die Praktiker haben die Modernisierung der Industrie mit getragen, trotz der Phobie vor dem Jobkiller Mikrochip. Wenn auch weniger im Angestelltenbereich und in den modernen Wirtschaftszweigen, so doch im Maschinenbau und in der Automobilindustrie.

Wo früher der Arbeitstakt des Fließbandes und das immer wiederkehrende Stückwerk herrschte, gibt es heute häufig ein gewisses Maß an selbstbestimmter und selbstverantwortlicher Tätigkeit in Teams. Personen, die Gruppenarbeit verrichten, erscheinen sozial kompetenter als jene, die in eher fordistisch organisierten Arbeitszusammenhängen arbeiten. Das ist sicher ein Element, das der Demokratie in Deutschland gut tut. Und es ist nicht selbstverständlich, dass solche Elemente fortbestehen. In der Automobilindustrie gibt es Bestrebungen, den Arbeitstakt wieder stärker zur Geltung zu bringen. Auch bei manchem Gewerkschafter und in manchen Gewerkschaftsdokumenten sind auch heute auf Selbstständigkeit der Mitarbeit zielende Managementmethoden nur Instrumente verschärfter Arbeitsfron.

Sicher sind solche innerbetrieblichen Erfolge nur möglich gewesen, weil im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Raum parallele Vorstellungen Platz gegriffen haben, zum Beispiel: die von der SPD in den Siebzigerjahren getragene Politik zur Humanisierung der Arbeit, Willy Brandt und seine Kampagne zur Demokratisierung der Wirtschaft, Arbeitswissenschaftler, Ingenieure und Soziologen aus der 68er-Bewegung, arbeitswissenschaftliche und personalpolitische Erkenntnisse aus den USA und Japan und möglicherweise auch die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes 1972.

Nicht zuletzt wegen der pragmatischen Politik in den Betrieben und einer Tarifpolitik mit Augenmaß (was Lohn und Arbeitszeit angeht) haben die deutschen Gewerkschaften sich durch die Achtzigerjahre gerettet. Mit der Arbeitszeitverkürzung haben sie gerade mal genügend auf die Änderung des Erwerbsverhaltens, insbesondere der Frauen, reagiert. Sie haben die Modernisierung der Industrie mit getragen, das war ihr Glück.

Das "Dumme" für die "Betriebspolitiker" (natürlich auch die auf Branchen bezogene Tarifpolitik) ist nur, dass Methoden der Humanisierung der Arbeitswelt, der Entwicklung vielfältigerer und selbstständigerer Arbeit einhergehen mit zunehmender Arbeitsproduktivität. Handelt es sich um Branchen, deren Märkte sich sättigen (vermutlich die Automobilindustrie und alles, was daran hängt) oder deren Produktivität schneller steigt, als die Märkte sich ausdehnen (Computerhardware, elektronische Netze und Telekommunikation), so ist zwar im Einzelfall Beschäftigungssicherung möglich und nötig. In der Tendenz muss man aber feststellen: Nützt die Verbesserung  zunächst dem eigenen Unternehmen, so untergräbt sie die Beschäftigung in der eigenen Branche, weil die Produktivität steigt. Für die herkömmliche gewerkschaftliche Betriebspolitik kommt hinzu, dass die neuen Tätigkeiten in den nichtindustriellen Bereichen den Betrieb als Arbeitsort nicht kennen, sondern allenfalls als virtuelles Geflecht von Arbeitsbeziehungen.

Mangel an Politik für den Umbruch kann die Gewerkschaften ihren Einfluss kosten

So sehr die Gewerkschaften den Umbruch in der Industrie mit gestaltet haben, so sehr stehen sie vor dem Umbruch von der Industrie- in die Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft wie der Ochs vorm Berg.

Die Industriearbeiterschaft ist keine aufbrechende, zukünftige "Klasse" wie im 19. Jahrhundert, ihre zahlenmäßige Stärke sinkt. Umbrüche finden nicht mehr wie Anfang des zwanzigsten oder später in der ausgehenden Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zwischen Bauern, Handwerkern und Industrie- und Büroarbeit und innerhalb der Industrie statt. Sie finden jetzt zwischen Industrie und Informationsdienstleistungen statt. Wo der industrielle Arbeitsplatz in der Tendenz vernichtet wird, wird Bewahren des Arbeitsplatzes oder der eigenen Identität statt Veränderung von der Mitgliedschaft der IG Metall gewünscht. Das alles fördert eine durchgehend statische Sicht der Dinge: Arbeitsplätze gibt es, sie müssen nur verteilt werden, Reichtum gibt es, er muss nur verteilt werden. Und das ist auch der Boden, auf dem sich eine verbale Linke mit traditionellen Konzepten zu halten versucht.

Wie oben erwähnt waren Status-quo-Gesellschaften nicht gerade attraktiv oder emanzipativ. Die letzten zehn Jahre in den USA, aber auch in Europa, haben die Möglichkeit eines Aufbruchs zu neuen – eventuell sehr risikoreichen – Ufern gezeigt. Meine These ist, dass gesellschaftspolitisches Eingreifen den Einfluss der Gewerkschaften in Zeiten des Umbruchs halten oder stärken kann, während gesellschaftspolitische Abstinenz  schadet. Gesellschaftliches Ansehen und Gespür für Veränderungen in der Gesellschaft kann ihnen auch helfen, in den neuen Wirtschaftszweigen Fuß zu fassen und auch Nichterwerbstätige anzusprechen.

Übergänge zu gestalten ist betriebspolitisch und tarifpolitisch immer nur begrenzt möglich, weil das Bestehende sich ja gerade ändert oder überflüssig ist. Auch deshalb ist gesellschaftspolitisches Eingreifen der Gewerkschaften praktisch nötig. Die Pragmatiker in der IG Metall sehen dieses Eingreifen eher als mühsam und wegen fehlender Instrumente als ineffizient an. Tatsächlich sind sie mit solchen Fragen aber immer wieder konfrontiert. Ich will einige anführen – und sie in einen etwas weiteren gesellschaftlichen Kontext stellen.

Arbeitszeit  Im Rahmen flexibler Arbeitszeitgestaltung sind aus den Betrieben heraus Langzeitkonten entstanden. Einerseits haben die Gewerkschaften innerbetrieblich und tarifpolitisch genug damit zu tun, sie auch zu einem Instrument der individuellen Zeitplanung zu machen anstatt zu einem Instrument der Kapazitätsplanung der Unternehmen. Andererseits regelt sich erst mühsam, inwieweit man sie auch für seine Nichterwerbszeiten nutzen kann, insbesondere wenn man den Arbeitgeber wechselt. Sich neu gestaltende Erwerbsbiografien  haben sehr viel zu tun mit der Steuer- und Sozialpolitik, persönlicher Vorsorge und Familienlastenausgleich, sich ändernder gesellschaftlicher Kultur, des Umgangs mit Zeit, zu leben, sich gegenseitig zu helfen und zu arbeiten. Arbeitszeitpolitik muss die sich ändernden gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen Jung und Alt, Mann und Frau in Rechnung stellen oder als Motivation zu Umgestaltung begrüßen.

Senkung von sich verfestigender Arbeitslosigkeit  Arbeitsplatzsicherung durch Standortsicherung ist ein kräftezehrendes, notwendiges, aber häufig wenig ergebnisreiches Geschäft.  Regeln und Kulturen, die bestehende Arbeitsverhältnisse sichern und einen gewissen Schutz davor bieten, dass Lohn und Arbeitsbedingungen in einem Betrieb in Zeiten von Arbeitslosigkeit verschlechtert werden, sind häufig auch hohe Hürden für Wiedereinsteiger, Neuanfänger und Berufswechsler. Zunehmend käme es darauf an, den Übergang von einem Erwerb in den anderen oder von Nichterwerbsarbeit in Erwerbsarbeit zu erleichtern und seitens der Gewerkschaften mit zu gestalten. Wird der Einstieg zu akzeptablen Bedingungen leichter,  so werden auch Verlust oder bewusste Aufgabe eines Arbeitsplatzes eher eine Chance als eine Bedrohung. Der Übergangsprozess  kann durch Einbeziehung von Steuer- und Sozialpolitik, eine geschickte Regionalpolitik, Förderung neuer Erwerbszweige (zum Beispiel durch Steigerung der Wertschätzung und Erleichterung des Erwerbs mit personenbezogenen Dienstleistungen), Berufsberatung im gesellschaftlichen Raum eher unterstützt werden als innerhalb eines Betriebes.

Arbeits- und Gesundheitsschutz  Schadstoffe, gefährliche Maschinen, zu wenig Ruhezeiten bleiben als Probleme, werden aber zunehmend durch das Thema "Umgang mit und Bedeutung von Stress" – was auch immer das ist – verdrängt. Hier spielen sowohl die betrieblichen wie auch die persönlichen Verhältnisse und Lebensbedingungen eine sich verschränkende Rolle. Die Gewerkschaften greifen das Thema zunehmend auf, mal sehen, wie sie mit dieser Wechselbeziehung "privat – beruflich" klar kommen.

Qualifikation  Lebenslanges Lernen – auch im Vertrag der Koalitionäre dieser Bundesregierung gefordert – ist Bedingung der Informationsgesellschaft. Zudem hat die Fach- und Hochschulausbildung neben der klassischen Berufsausbildung deutlich an Gewicht und Umfang gewonnen. Die IG Metall greift selten  in die Bildungspolitik ein, beschränkt sich eher auf betriebliche und duale Ausbildung. Ihre bescheidene Beschränkung auf Berufsbildung, die Vernachlässigung der öffentlichen Bildung an Schulen und Hochschulen und auch der Ausbildung von Eliten ist ganz unverständlich.

Den Ansprüchen der Gewerkschaften auf betriebliche Ausbildung steht nachlassende betriebliche Ausbildung von Jugendlichen und Erwachsenen gegenüber. Wo es um das Lernen von betriebsspezifischen praktischen Fertigkeiten und um das Erlernen von betrieblichen Abläufen geht, gibt es sie ja noch, die betriebliche Ausbildung (wenn auch vielleicht zu wenig – siehe Stress).  Das Problem ist das Erwerben von Fertigkeiten, Wissen, Kompetenzen für eine schnell wechselnde Berufswelt. Bildung auf Vorrat und einmalig in der Jugend ist ganz sicher unmöglich. Es geht nur berufsbegleitend oder lebenslang. Allerdings, der Betrieb, in dem ich arbeite, wird nicht einsehen, dass er mich für Tätigkeiten in einem möglicherweise neuen Betrieb ausbildet. Das Individuum selbst muss sich also um seine Weiterbildung kümmern und kümmern können. (Aus-)Bildung und Können kann es dann als sein vermarktbares Pfund ansehen. Damit das auch in einer Zeit möglich ist, in der zum Beispiel Kinder großgezogen und Kranke gepflegt werden oder der Kredit für den Hausbau abzuzahlen ist, sind Lösungen mit betrieblichem, gesellschaftlich solidarischem und individuellem Beitrag zu suchen und zu finden.

Betriebsverfassungs- und Tarifvertragsrecht  Völlig klar ist, dass wichtige Rahmenbedingungen der gewerkschaftlichen Arbeit – Koalitionsfreiheit im Grundgesetz, Tarifvertragsgesetz und Betriebsverfassungsgesetz – nur im politischen Raum zu verteidigen oder zu entwickeln sind. Die neue Bundestagsmehrheit hat eine Reform des Betriebsverfassungsgesetzes vereinbart. Was auch immer einen Betrieb ausmacht – der Arbeitsort (immer weniger), die realen Arbeitsbeziehungen (Zusammenarbeit, Kommandostrukturen, persönliche Freiheiten und Beschränkungen), die formalen Arbeitsbeziehungen (Lohnarbeitsvertrag oder selbstständiger Dienstleistungsvertrag) –, einer freiheitlichen und zivilen Gesellschaft, die auf Erwerbsarbeit beruht, können die betrieblichen Zustände nicht gleichgültig sein, natürlich auch den Individuen nicht. Natürlich kann der Bürger einer Demokratie nicht plötzlich unfrei und kommandiert werden, nur weil er mit anderen zusammenarbeitet. Fragt sich nur, ob es den Gewerkschaften gelingt, diese Frage so zu behandeln, dass die Leute darin auch direkte Vorteile sehen und haben und nicht fürchten, nur die Macht von Funktionsträgern ohne Nutzen für sich selbst zu stärken.

Die IG Metall etwa braucht also gesellschaftspolitische Kompetenz. Der Vorsitzende der IG Metall macht auch eine solche Politik (Bündnis für Arbeit, Ausstieg mit 60). Mein Eindruck ist nur, dass die Art, wie gesellschaftspolitische Themen aufgegriffen werden, vielleicht in demoskopischen Umfragen eine Mehrheit erhält ("mit 60 aus der Tretmühle" wäre schön), aber keine Energien zur Umgestaltung freisetzt (wie auch, wenn man demografischen Wandel nicht ernst nimmt). Der gesellschaftspolitische Klärungsprozess in den Gewerkschaften zeichnet sich leider durch Abstinenz der Pragmatiker – die dann die Altersteilzeitlösung durchgesetzt haben – und Prinzipienfestigkeit der verbalen Linken aus (Probleme des demografischen Wandels seien vorgeschoben, das Thema sei eigentlich die Verteilung zwischen Kapital und Arbeit). Insofern ist die Ausdehnung der Altersteilzeit auf den Tarifvertrag ein glückliches Ende der Tarifauseinandersetzung. Insbesondere hat das Individuum jetzt (eingeschränkt) das Recht, sie in Anspruch zu nehmen ohne betriebliche "Notwendigkeit".

Prozesse, Handlungsfähigkeit, Vielfalt, Europäisierung sind wichtiger als Forderungen und Einheit

Man stelle sich vor, Klaus Zwickel würde angemessene Beschäftigung für Menschen zwischen 55 und 70 Jahren verlangen. Wahrscheinlich würde er nicht nur von Horst Schmitthenner angegriffen, sondern er würde vom ganzen Funktionärskörper und Wahlkörper der IG Metall verspeist. Mehr Geld, mehr Urlaub, kürzere Arbeitszeit, früher in Rente: Das ist das gewerkschaftliche Programm der Sechziger- und Siebzigerjahre. Die 16 Jahre Helmut Kohl hat das überdauert.

Dieses eher wertkonservative, in der Facharbeitertradition stehende Element braucht und hat einen personellen Ausdruck im Vorstand der IG Metall. Dass aber die sich vor unseren Augen vollziehenden nachindustriellen Veränderungen ebenfalls öffentlichen Ausdruck in einer Person erhalten, dazu müssten neben Klaus Zwickel (dessen Rolle zwischen konservativ und Erneuerung anschiebend schwankt) weitere Personen das Instrument "Teledemokratie" zusätzlich zum Funktionärskonsens ergreifen und in der 2,5 Millionen umfassenden Mitgliedschaft einen Bezugspunkt für Erneuerung und für die neuen Branchen bilden. Es muss ja nicht gleich zu Zerwürfnissen führen, wenn man sich verständigt, eine strittige Sache öffentlich kontrovers oder eben situationsgemäß und offen darzustellen.

Die in der Gesellschaft vorhandene Vielfalt an Lebens- und Arbeitsweisen sowie Qualifikationen braucht sichtbare Repräsentanz in einer Gewerkschaft. In den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen findet aber auch (vermeintlicher) Auf- und Abstieg statt. Kraft kann die Gewerkschaft nur entfalten, wenn die Gewerkschaft auch für Aufsteiger, Spezialisten und Führungskräfte attraktiv wird und den Absteigern und Benachteiligten einen Boden für einen neuen Anlauf ermöglicht. Auf- und Absteiger eint, dass das Auf und Ab der modernen Gesellschaft Grundsicherheit, Zugehörigkeit und gegenseitige Unterstützung verlangt.

Was das Verhältnis der aufsteigenden zu den stagnierenden oder absteigenden Branchen angeht: Hier wäre ein wohl dosiertes Maß an Konkurrenz zwischen den Einzelgewerkschaften unter einem einheitlichen europäischen Dach in den neuen Branchen ganz produktiv. Nicht wer jammert, dass Mannesmann von Vodafone übernommen wird, gewinnt, sondern wer die Beschäftigten von Vodafone europaweit an sich binden kann, ist der "Mitgliedschafts"-Führer im Telekommunikationsbereich. Das würde mehr dazu beitragen die Gewerkschaftslandschaft in Europa den tatsächlichen Aufgaben anzupassen als nationale Kartellabsprachen (wie zwischen Ver.di AO und der IG Metall), bevor überhaupt der "Markt" erobert ist. Vernünftig wäre dem Verhältnis von Einheit und Besonderheit dadurch Rechnung zu tragen, dass alle Gewerkschaftsmitglieder in Europa persönlich Mitglied im Europäischen Gewerkschaftsbund sind, ebenso wie in einer Branchengewerkschaft oder Richtungsgewerkschaft ihrer Wahl.

Dieser Spagat verlangt erhebliche Fähigkeiten, Unterschiedliches zu moderieren und so daraus Gewinn zu ziehen für möglichst alle Seiten, Konkurrenz und Kooperation ins richtige Verhältnis zu setzen. Der große und einheitliche Wurf für alle wird da eher die Ausnahme sein. Aber was macht das? Die Fähigkeit, die hinter konkreten Lösungen stehenden Motive zur Geltung zu bringen, Lösungsprozesse auf den Weg zu bringen und zu begleiten, Einzelne und Gruppen entsprechend zu beraten, ihnen Aufmerksamkeit zu verschaffen oder sie durch Regelungen zu stärken, kann neben dem Aufstellen einer einheitlichen Forderung und der großen Tarifauseinandersetzung Erfolg versprechen.

Fazit

Drei Fragen scheinen zentral für die Weiterentwicklung der Gewerkschaften als gesellschaftspolitische Kraft:

– Wie können Gewerkschaften die Stärkung des Individuums und seiner Position im Arbeitsverhältnis oder Dienstleistungsverhältnis fördern? Werden die Gewerkschaften in der Lage sein, dafür ihren Anspruch auf Ausüben von Schutzfunktionen, auf allumfassende Regulierung der Arbeitssphäre zugunsten der Stärkung von Selbstverantwortung  und Selbstbestimmung der Individuen zurückzuschrauben? Dazu gehört natürlich auch, alle Formen des Gängelns von Individuen, die als Ausfluss des "Direktionsrechtes der Arbeitgeber" oder des Ordnungswahns der Kooperation im Arbeitsverhältnis vorkommen, auf den Prüfstand zu stellen. Finden sich dafür Tarif-, Arbeits- und Leistungs-Vertragsformen, die sowohl genügend klar wie flexibel sind?

– Sind die Gewerkschaften in der Lage, Übergangsmechanismen zwischen Erwerbsarbeit und Nichterwerbsarbeit (zum Beispiel Familie, Ausbildung), den Übergang zwischen Tätigkeiten mit zu gestalten, die neue oder unterschiedliche Qualifikationen sowie körperliche, geistige oder lebensaltersbedingte Fähigkeiten voraussetzen? Können sie sich durchringen, dafür den besonderen Schutz eines einmal besetzten Arbeitsverhältnisses neu zu überdenken und eine entsprechende Umgestaltung des Sozialstaates mitzutragen – hinsichtlich der Förderung von Selbstverantwortung und Wechsel ebenso wie hinsichtlich einer  für alle Bürger (nicht nur die lohnabhängigen Erwerbsbürger) mindestens minimalen Sicherheit in den Wechselfällen des Lebens.

– Heute – anders als früher – treten die deutschen Gewerkschaften im gesellschaftspolitischen Raum meist mit Forderungen an den Staat und für die Ausdehnung der Staatstätigkeit auf.  Wie aber  treten sie neben ihrer Rolle als Tarifvertragspartei als eine Gruppe auf, die gesellschaftliche Selbstorganisation betreibt. Man braucht nicht unbesehen amerikanische oder schweizerische Pensionsfonds oder belgische Auszahlung von Arbeitslosengeld abzukupfern, aber Dienstleistung (Organisationsrahmen für sich selbst organisierende Gruppen, Publikation, Beratung, Kompetenz, Sicherheit  rund um Arbeit) wäre doch eine "Bürgeraufgabe" mit weiten Gestaltungsräumen für eine große Mitgliederorganisation. In einer Gesellschaft, in der Information, Meinung und Wissen zunehmend wichtiger werden als der Besitz an Maschinerie und Grund und Boden, stünde das den Gewerkschaften nicht nur gut, sondern wäre mit einem neuen Verständnis des Zusammenspiels von Ehrenamt und  Professionalität auch möglich.

 

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe August 2000