Editorial

Michael Ackermann

Diesmal hat die Quarantäne in Camp David also nicht gefruchtet. Die Verhandlungen zwischen Israelis und den Palästinensern wurden in der finalen Phase abgebrochen. Ehud Barak, der in der Jerusalem-Frage Zugeständnisse angedeutet hatte, kehrte ins zunehmende innenpolitische Chaos quasi als "Verlierer" zurück; Jassir Arafat dagegen wurde in der arabischen Welt für seine "Standhaftigkeit" beim Anspruch auf die heiligen Stätten gefeiert. Ist der Friedensprozess also gescheitert? Man kann den Grad der Wahrscheinlichkeit dafür schon deshalb für groß halten, weil diese Situation erst einmal den Hardlinern in beiden Lagern entgegenarbeitet. Wo das Bindemittel rassischer und nationaler Selbsterkennung der Hass auf den anderen ist, scheint es keinen Platz für Kompromisse zu geben. Insbesondere dann, wenn zwei Seiten sich ausschließlich als Opfer begreifen: die Juden aufgrund ihrer jahrtausendelangen Verfolgung, die in der "Endlösung" der Nazis gipfelte; die Palästinenser wegen ihrer Vertreibung aus ihrer Heimat durch die "zionistischen Kolonialisten". Die Realität aber ist aufgrund der letzten vierzig Jahre, also durch wechselseitige Aggression und Täterschaft, längst eine andere. Eine erneute Teilung des Landes, die gegen permanente Gewalt als Mittel plausibel oder unumgänglich erscheint, scheidet als Lösung vermutlich trotzdem aus. Über eine Million Araber leben in Israel und in den besetzten Gebieten hunderttausende jüdische Siedler. Geografisch, erklärt Petra Steinberger in der SZ (26.7.00), besteht schon ein bi-nationaler Staat. "Bi-Nationalismus muss nicht die Einstaat-Lösung bedeuten. Doch auch wenn ein palästinensischer Staat neben Israel entsteht: Beide Gebilde sind inzwischen so untrennbar miteinander verwoben, dass das Ausschließlichkeitsprinzip nicht mehr greifen kann. Es gibt im Grunde nur ein Land und damit die Notwendigkeit einer Koexistenz." Und Amnon Raz-Krakotzkin, einer der "neuen Historiker" in Israel, meinte in diesem Zusammenhang: "Ein solcher Bi-Nationalismus muss das Gefühl von Verantwortung haben, aufbauend auf einem Geschichtsverständnis, dass die Geburt Israels und die palästinensische Tragödie nicht zwei verschiedene Ereignisse sind, sondern ein und dasselbe."

Könnte es sein, dass ein solches Geschichtsverständnis – das so wenig selbstverständlich wie weit verbreitet ist – dem immer wieder sto-ckenden Friedensprozess eingeschrieben ist? Sind die verfeindeten Seiten vielleicht schon so sehr in freudloser Annäherung verwickelt, dass sie nicht mehr einfach in die Historie flüchten können? Bedeutete die Diskussion grundsätzlicher Koordinaten des jüdischen und palästinensischen Denkens – Jerusalem, gemeinsame Grenzen, Flüchtlingsfrage – nicht den Bruch beiderseitiger Tabus? Können also die mageren Kompromisse und die eingeleiteten Prozesse der vergangenen Jahre auf den Feldern Grenzziehung, Siedlungsfrage und Flüchtlingsrückkehr überhaupt noch aufgekündigt werden, oder werden es nun Felder der Auseinandersetzung ineinander Verbissener sein, in denen selbst aufflammende Gewalt ein Fortschreiten nicht verhindern kann? Man kann das nur hoffen.

Fast gewiss dagegen ist, dass die Lösung der Jerusalem-Frage durch die beiden Rivalen alleine kaum gelingen wird. Die "heilige Stadt" dreier Weltreligionen formell aufzuspalten, wäre wohl das Falscheste. Gespaltene Städte zementieren wechselseitige "Bunkermentalität", verstärken Gefühle der Unverstandenheit. Keine der beiden Seiten kann einen Ausschließlichkeitsanspruch auf Jerusalem erheben. Die Vereinten Nationen schlugen 1949 eine Internationalisierung Jerusalems vor. Eine "gesonderte Einheit", verwaltet von den UN, wünschte sich damals die Generalversammlung. Schon wieder eine neue, unhaltbare Aufgabe für die UN – und ein scheinbar vorprogrammiertes Chaos wie auf dem Balkan (siehe die Beiträge dazu auf den Seiten 6 bis 9 und 18 bis 23)?

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Aber das Einlassen auf Friedensprozesse führt alle Beteiligten immer auf Neuland. Der irische Autor John Banville hat anlässlich der Entlassung von neunzig Gefangenen, Loyalisten wie Republikaner, aus dem berüchtigten Maze-Gefängnis auf die Ungeheuerlichkeiten mancher "politischer Killer" hingewiesen und uns dann Angehörige Ermordeter mit ihrem Willen zum Frieden vor Augen geführt (FAZ, 29.7.00). Ein prekärer Frieden schien, so Banville, vor ein paar Jahren noch unmöglich und vor ein paar Monaten auf der Kippe. Und doch geht auch dieser Prozess weiter, trotz Bomben von IRA-Splittergruppen und Loyalistengewalt in Drumcree und anderswo.

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Wie lange hat es gedauert, bis Teile der deutschen Wirtschaft durch Klagedrohungen zu Zahlungen für die Zwangsarbeiter des Faschismus veranlasst werden konnten! Nun wurde ein Gesetz zur Entschädigung verabschiedet und eine Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" gegründet. Noch aber fühlen sich viele Unternehmen nicht angesprochen. Kläglich hat auch die katholische Kirche reagiert. Bedeutet es da, vom Anprangern der institutionell oder moralisch Verantwortlichen abzurücken sowie einen "falschen Frieden" mit der Vergangenheit zu machen, wenn man, wie Günter Grass, Carola Stern und Hartmut von Hentig in einem Aufruf "alle Deutschen" auffordert, sie sollten das Leiden der Zwangsarbeiter durch eine Zahlung von 20 DM anerkennen? Das Gegenteil ist der Fall. Das Band der Einzahlenden wäre ein Beweis für gelebtes Unrechtsbewusstsein, geschichtliche Verantwortung und fortschreitende Erinnerungskultur.

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe August 2000