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Der Geist von 1914

Joscha Schmierer

Jeffrey Verhey macht in Der Geist von 1914 und die Erfindung der Volksgemeinschaft darauf aufmerksam, wie ein politischer Mythos den ursprünglichen Eindruck von einem Ereignis verändern kann: "Der nationalliberale Anwalt und Abgeordnete Eugen Schiffer, der sich im Juni und August 1914 in Berlin aufhielt, beschrieb in seinem privaten Tagebuch die Bevölkerung der Stadt als deprimiert. Vierzig Jahre später, nachdem er während der Weimarer Republik Finanzminister und Vizekanzler und nach dem Zweiten Weltkrieg Chef der Justizverwaltung in der sowjetischen Besatzungszone gewesen war, schrieb er in seinen – dann veröffentlichten –  Memoiren, ,Deutschland‘ sei zu Beginn des Krieges voller Begeisterung gewesen." Aber auch zeitgenössische Darstellungen einer kriegsbegeisterten öffentlichen Meinung im Deutschland des Jahres 1914 kann man nicht unbesehen für wahr nehmen. Nach einer Reihe von Studien zur Meinungsbildung in einzelnen Städten versucht Jeffrey Verhey nun einen Überblick zu verschaffen, der regional wie klassen- und schichtspezifisch, aber auch in der Zeitenfolge differenziert. Danach kann von einer allgemeinen und von Anfang an vorherrschenden Kriegsbegeisterung keine Rede mehr sein.

Doch brachte es Theodor Wolff ein Publikationsverbot ein durch den General von Kessel, der als Oberbefehlshaber in Berlin und Brandenburg auch Oberzensor war, das er im Juli 1916 gegen die seiner Ansicht nach verleumderische Berichterstattung über die Ausrufung des Kriegszustandes in Deutschland in einem Teil der ausländischen Presse polemisierte. Er hatte geschrieben: "Wir wissen, eine wie vollendete Unwahrheit es ist, wenn der ,Temps‘ und ähnliche Blätter unablässig versichern, das deutsche Volk habe den Krieg wie ein frohes Ereignis begrüßt. Das Volk emfing ihn mit gepreßtem Herzen, empfand ihn in schlaflosen Nächten wie ein umklammerndes Riesengespenst, und die Entschlossenheit, mit der es dann hinaustrat, entsprang nicht der Freude, sondern dem tiefen Pflichtgefühl. Es waren doch nur wenige, die vom ,frisch fröhlichen Krieg‘ geredet hatten, es waren auch, in einer großen Volksmasse, nur wenige, die sofort nach dem österreichischen Ultimatum mit plötzlich hervorgeholten Fahnen durch die Straßen marschierten und vor den Fenstern der befreundeten Botschaften – auch der italienischen – und vor dem Reichskanzlerpalais sich heiser schrien." Der General beschied der "Schriftleitung des Berliner Tageblatts", dass sie offensichtlich nicht gewillt sei, "zur Erhebung des Geistes der Hingabe und Geschlossenheit in Deutschland, der die Voraussetzung für eine siegreiche Beendigung des Krieges bildet, mitzuwirken. Ich verbiete deshalb das Erscheinen des Berliner Tageblatts bis auf weiteres." Mit dem Mythos des "Geistes von 1914" wurde der Zerrissenheit und Spaltung entgegengewirkt, die die deutsche Gesellschaft gerade auch im August 1914 gezeigt hatte.

Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung sah am 6. August rückblickend auf die vergangene Woche "eine Offenbarung des starken nationalen Empfindens, das in unserem Volke lebt" und berichtete: "Man war brüderlich; der Arbeiter, der in der Bluse barhäuptig die Fahne trug, der Akademiker, der neben ihm schritt, Kaufleute, Wandervogelscharen, Studenten mit dem Verbindungsband auf der Brust, Soldaten, die, zum Teil schon in der grauen Felduniform, sich singend in die Reihen eingegliedert hatten. Oft ging man Arm in Arm, in Reihen zu 30 und 40 Menschen." Der Arbeiter in der Bluse, der barhäuptig die Fahne trug, war wohl einem Wunschbild entsprungen. Besagter Eugen Schiffer vermerkte in seinem Tagebuch: "Ich gehe mit den Jungen ins Innere der Stadt. Unter den Linden wogen Menschenmassen. Aber sie bieten keinen sehr erfreulichen Anblick. Meist sind es junge Burschen mit ihren Mädchen, die johlend und grölend den Mittelweg entlangziehen. Sobald man aber in die Seitenstraßen kommt, merkt man wieder den dumpfen Ernst, der über dem Volke wacht." Ein Geistlicher aus dem Berliner Arbeiterviertel Moabit machte sich nichts vor: "Die eigentliche Begeisterung, wie sie sich der Gebildete leisten kann, der nicht unmittelbare Nahrungssorgen hat, scheint mir doch zu fehlen. Das Volk denkt doch sehr real, und die Not liegt schwer auf den Menschen." Ein Pastor aus einem Arbeitervorort von Stuttgart schreibt über die Stimmung in seiner Gemeinde: "Die Kriegserklärung wurde zunächst mit einem Gefühl des Betäubtseins durch das Furchtbare aufgenommen." Am 16. August, als sich in der Presse die Siegesmeldungen überschlugen, hält ein junger Hamburger Sozialdemokrat in seinem Tagebuch fest: "Wegen Einberufung der Genossen mußte ich Parteibeiträge kassieren – Wohnungselend, Kummer verlassener Frauen, Arbeitslosigkeit, Mutlosigkeit, vereinzelt gefaßte Menschen." Schon Anfang Oktober 1914 schreibt eine Hamburger Kolonialwarenhändlerin ihrem Mann ins Feld: "Die Stimmung ist so gedrückt, keine Fahne, kein Extrablatt – man weiß nicht, was noch werden soll." Die beiden letzten Zitate finden sich bei Volker Ullrich, Vom Augusterlebnis zur Novemberrevolution.

Das "Augusterlebnis", wie Marianne Weber, Max Webers Frau, es sich 1916 ins Gedächtnis rief, war klassengebunden: "Jeder fühlte sich über sich selbst hinauswachsen im Einswerden mit einem größeren Ganzen. Die Erschütterung der Seele durchbrach die Schranken unseres Einzelseins, und das begrenzte bedürftige Ich flutete hinüber in den großen Strom der Gemeinsamkeit." Ähnliches glaubte Gertrud Bäumer im August 1914 verspürt zu haben. 1918 erinnerte sie sich: "Die Schranken unseres Ich durchbrachen, unser Blut flutete zu dem Blut der anderen, wir fühlten uns eines Leibes werden in mystischer Vereinigung." An die Stelle der Wirklichkeit war ein Stereotyp getreten.

Peter Fritzsche, der an der Universität von Illinois lehrt, zeigt, wie es über das "Augusterlebnis" gelang, die Volksgemeinschaft an die Stelle der Wahrnehmung von Klassen zu setzen. Dabei neigt er dazu, die Augusttage zum Ausgangspunkt einer wachsenden Selbsttätigkeit der Massen und damit von Demokratie zu deklarieren. Danach hätte die Novemberrevolution das "Augusterlebnis", das "starre soziale Zwänge und lange bestehende Klassenunterschiede überwand" und wie "durch einen Zauber die nationale Einheit ,von unten‘ zu bewirken" schien, gewissermaßen neu belebt. Hitler hätte also einfach am erfolgreichsten an den Hoffnungen der mobilisierten und zur Selbsttätigkeit motivierten Massen angeknüpft und sein Regime hätte Hoffnungen und Aussichten auf ein erneuertes gesellschaftliches Gefüge geweckt, die bis zum Schluss eine beträchtliche Anziehungskraft bewahrten. "Inmitten des vertrauten Umkreises fester Bindungen an Familie, Region und Sozialmilieu konstruierten die Nazis eine ,zweite Welt‘ aus einem ,Netzwerk von Organisationen‘, in dem die traditionellen Kriterien von sozialem Ansehen und sozialer Stellung keine Gültigkeit besaßen‘." Der ",nationalsozialistische‘ Konsens" sei mehr als nur zufällig gewesen. "Er hatte tiefere ideologische Wurzeln, welche die Machthaber mit den Wünschen der Bürger in Verbindung brachten und der Politik des Regimes ein gewisses Maß an Vertrautheit und Zweckmäßigkeit verliehen." Fragwürdig an Fritzsches Gedanken ist vor allem ihre Ableitung aus der fast gleichgerichtet dargestellten Ereigniskette vom August 1914 über den November 1918 zum 30. Januar 1933. So wird das "Augusterlebnis" ihm selbst zum Ursprungsmythos gesellschaftlicher Selbsttätigkeit in Deutschland, die sich (deshalb?) durch die Nazis ausbeuten ließ. "Viele nahmen 1933 als Neuschöpfung von 1914 an, nicht als Erklärung für die Vergangenheit, sondern als Beschreibung der Hoffnungen für die Zukunft", schreibt Jeffrey Verhey. Ist es frivol oder eröffnet es eine weiterführende Fragestellung, wenn Fritzsche die Novemberrevolution dabei in der Rolle des Bindeglieds sieht?

Das Augustdenken

So umstritten das "Augusterlebnis", die deutsche "Kriegsbegeisterung" Anfang August 1914, der Verbreitung, Tiefe und dem Charakter nach ist (siehe die Spalten des "Bücherfensters" nebenan), so sicher ist, dass ein großer Teil der deutschen akademischen Intelligenz es von Anfang an mit Nachdruck pries und seine Wirkung erhalten und verstärken wollte. Georg Simmel, ein Außenseiter der akademischen Welt und erst spät als ordentlicher Professor nach Straßburg berufen, hält dort im November 1914 eine Rede über Deutschlands innere Wandlung. Die Zeit der raschen Siege im Westen ist schon vorbei. Simmel sieht voraus: "Deutschland wird, auch bei glücklichem Ausgang des Krieges, vergleichsweise arm zurückbleiben." Simmel zeigt sich überzeugt, dass die Zerstörungen durch diesen Krieg "jedes Maßstabes spotten, den man heute etwa anlegen möchte". Leichtsinn trieb den Philosophen und Soziologen also nicht, wenn er von einer "Wende der Zeiten" sprach: "Darum fühlen wir alle so stark, daß wir jetzt Geschichte erleben, das heißt, ein Einmaliges; alle Vergleiche davon mit Vergangenheiten haben etwas Schiefes. Denn was an einem Erlebnis, so bedeutsam oder so gering es sein mag, wirklich Geschichte ist, ist die Geburt eines noch nicht Dagewesenen, ist die Wendung des Weltgeistes zu einem Gedanken, den er nicht auf dem Wege der Assoziationspsychologie fassen konnte. Plötzlich wird einem klar, wie sehr man vorher im Nicht-Geschichtlichen gelebt hat ..." Deutschland sei wieder "schwanger" mit einer großen Möglichkeit, werde erneut zum "Schmelztiegel". "Es kann nicht wohl ein Zufall sein, daß das vom ersten Tage dieses Krieges an uns beherrschende Gefühl: Deutschland wird nicht sein oder es wird ein anderes Deutschland sein –, es kann kein Zufall sein, daß dies auf jene inneren Vorbereitungen trifft, verhangen und widerspruchsvoll, wie sie sein mögen, aber gerade mit ihrer Vielheit und Dunkelheit einen Reichtum verbürgend, indem Einheit und Mannigfaltigkeit sich nicht widersprechen." Die "Absolutheit unserer Lage" sei von außen schwer verständlich. Und dieses Gefühl der "Absolutheit" bleibt auch dem historischen Verstehen kaum zugänglich.

Kurt Flasch legt in Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg vielleicht zu wenig Anstrengung darauf, jene "inneren Vorbereitungen", "verhangen und widerspruchsvoll", zu analysieren, die den Geisteszuständen vorausgehen, die ihm fremder erscheinen als das philosophische Denken des Mittelalters, über das er geforscht und geschrieben hat. Diese "inneren Vorbereitungen" äußern sich als großer Frust an der Moderne, deren stärkster Ausdruck für Simmel der "Mammonismus" ist: "Die Anbetung des Geldes und des Geldwertes der Dinge, ganz gelöst von dem eigentlich Praktischen und dem persönlich Begehrlichen. Man muß solche Erscheinungen, weil sie sich ja nie in reiner Isolierung darbieten, mit paradoxer Zugespitztheit aussprechen, um sie innerhalb der seelischen Chaotik überhaupt einmal sichtbar zu machen."

Das ist Simmels Art, vom Fetischcharakter des Geldes und vom Geldkapital zu sprechen. Flasch erkennt in solchen Wendungen das "feierliche Finale der tragizistischen Kulturphilosophie, die den Krieg als menschenfreundlicher schildert denn die moderne Kultur." Warum aber ließen die mehr als vierzig Jahre Frieden in West- und Mitteleuropa vor 1914 den Krieg schließlich für einen großen Teil der deutschen Intelligenz als Herausforderung, ja Befreiung erscheinen?

Kurt Flasch bemüht sich redlich, das gruselige Augustdenken fair darzustellen und zu kritisieren. Seine Fallbeispiele für die Augustredseligkeit sind Rudolf Eucken, Ernst Troeltsch und Friedrich Meinecke, die für die Kriegsreflexion Max Scheler, Ernst Troeltsch, Rudolf Borchardt und Hugo Ball. Er widmet ihnen jeweils eigene Kapitel. Wenige haben sich so grundsätzlich vom Mainstream des deutschen Kriegsdenkens abgesetzt wie Hugo Ball in seinem Schweizer Exil. Für ihn zeigt Flasch Sympathie. Ball ist in der deutschen Intelligenz, zu deren Kritik er ein eigenwilliges Buch schrieb, eine Randerscheinung. Er entzieht sich dem Zeitgeist unter dessen beiden Aspekten, der Kriegsbegeisterung und dem Gefühlspazifismus.

Schaut man genau hin, erweist sich der Utopismus als intellektuelle Signatur der Zeit. Es ist nicht schwer einen Zusammenhang zwischen Simmels "Schwelle des anderen Deutschland" und Blochs "Noch nicht" herzustellen. Doch wenn sich die vaterländische Ordinarienphilosophie 1914 in den Dienst der herrschenden deutschen Politik stellte, sah auch sie ins Jenseits des politischen Alltags. Alle waren von der Gelegenheit fasziniert, sich dem ganz Anderen zu nähern. Welches Vehikel war brauchbar? Der Krieg? Die Revolution? Oder kam es auf den Umstieg an? Auf allen Seiten schien das Nirgendwo näher zu liegen als jedes Irgendwo vor dem großen Bruch, als welcher der Krieg von Anfang an verstanden wurde. Die Vorstellungen von Frieden und würdigem Leben waren schon vor 1914 auseinander gefallen und in Gegensatz geraten. Es tut sich was! Das ist das "Augusterlebnis" der deutschen Intelligenz. Mutatis mutandis: So etwas muss man auch unter völlig veränderten Umständen immer noch fürchten.
 
 

Georg Simmel, Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, in: Gesamtausgabe Bd. 16, Frankfurt am Main (Suhrkamp Verlag) 1999 (517 S., 32,80 DM)<R>Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin (Alexander Fest Verlag) 2000 (448 S., 68,00 DM)

Jeffrey Verhey, Der "Geist von 1914" und die Erfindung der Volksgemeinschaft. Aus dem Englischen von Jürgen Bauer und Edith Nerke, Hamburg (Hamburger Edition) 2000 (416 S., 48,00 DM)<R>Volker Ullrich, Vom Augusterlebnis zur Novemberrevolution. Beiträge zur Sozialgeschichte Hamburgs und Norddeutschlands im Ersten Weltkrieg, Bremen (Donat Verlag) 1999 (214 S., 36,00 DM)<R>Peter Fritzsche, Wie aus Deutschen Nazis wurden. Aus dem Amerikanischen von Hans J. Schütz, Zürich (Pendo Verlag) 1999 (276 S., 48,00 DM)
 
 

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe August 2000