"Großalbanien" – eine Chimäre

Die interne und externe "Albanische Frage"

Stefan Troebst

"Die Religion des Albaners", so 1880 der albanische Dichter Pashko Vasa, "ist das Albanertum!", und auch die Mehrzahl der internationalen Beobachter in Politik und Medien scheint pan-albanische Bestrebungen mit dem Ziel eines "Sammelns der albanischen Lande" und deren staatliche Vereinigung in einem "Großalbanien" für ein ebenso reales wie potenziell gefährliches Phänomen zu halten. Allerdings ist die Quellenbasis, auf die sich dergleichen Vermutungen zu stützen pflegen, für gewöhnlich schmal. In aller Regel handelt es sich um vereinzelte Äußerungen extremistischer oder politisch anderweitig marginaler Faktoren auf albanischer Seite, primär aus der ersten Hälfte der Neunzigerjahre, vor allem aber um offizielle wie offiziöse Verlautbarungen verschwörungstheoretischer Observanz aus Belgrad, gelegentlich sogar aus Athen.

Weder von albanischer noch von internationaler Seite gibt es ernsthafte Ansätze dazu, mutmaßliches pan-albanisches Sentiment empirisch-demoskopisch zu überprüfen – eine Unternehmung, die in technischer wie finanzieller Hinsicht mit bescheidenem Aufwand realisierbar erscheint. Zwar hat das British Foreign and Commonwealth Office im September 1999 eine "Kosovar Refugees in Albania Poll" durchgeführt, doch figurierten darin Fragen der genannten Art nicht.  Mit anderen Worten: Es fehlt an aktuellen handfesten Belegen für eine pan-albanische Strategie. Vielmehr spricht sowohl in historischer Perspektive wie gerade auch mit Blick auf die Gegenwart etliches dafür, dass die national-romantische Sichtweise vom Pan-Albanismus als der "Religion des Albaners" im beginnenden 21. Jahrhundert ebenso wenig zutreffend ist, wie sie es im Grunde genommen auch im ausgehenden 19. gewesen war. Entsprechend haben sich die von tiefen religiösen, dialektalen, kulturellen, gesellschaftlichen und regionalen Trennlinien durchschnittenen südosteuropäischen Siedlungsgebiete der Albaner im Zeitalter des Nationalismus lediglich zweimal in ein und demselben Staat befunden. Dieser war in beiden Fällen bezeichnenderweise ein nicht-albanischer – bis 1913 das Osmanische Reich und 1941-1943 das Italien Mussolinis. In der Interimsperiode 1913-1941 sowie im Zeitraum 1944-1991 lebten Albaner daher nicht nur als Titularnation in Albanien, sondern auch als nationale Minderheiten in den Nachbarstaaten Griechenland und Serbien beziehungsweise ab 1918 Jugoslawien. Hinzu kam, dass diese Minderheiten mit der "Mutternation" aufgrund vielfältiger politischer Hemmnisse wenn überhaupt, dann nur lose Verbindung hielten.

Die historische Zersplitterung der albanischen Bevölkerung des Balkans verstärkte sich noch in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts: Zunächst teilte sich 1991 die Südhälfte des Titoschen Jugoslawien zum einen in die Republik Makedonien mit ihrem kompakt albanisch besiedelten Westen und Nordwesten, zum anderen in die Bundesrepublik Jugoslawien mit dem mehrheitlich albanischen Kosovo (Kosova) im Südwesten der Teilrepublik Serbien, mit der neuerdings "Ost-Kosovo" genannten und gleichfalls dicht albanisch besiedelten Region um Preševo (Presheva), Bujanovac (Bujanovc) und Medvedja (Medvegja) im äußersten Süden derselben Teilrepublik sowie schließlich mit der Teilrepublik Montenegro, deren Süden und Osten gleichfalls starke albanische Bevölkerungsanteile aufweisen. Die sodann im Zuge der zweiten Runde des Kosovo-Krieges 1999 erfolgte de facto-Ausgliederung des internationalen Protektoratsgebietes Kosovo aus dem Staatsverband der BR Jugoslawien, die Entmilitarisierung einer fünf Kilometer tiefen Grenzzone auf der serbischen Seite der Grenze zu Kosovo – gemäß dem militärisch-technischen Abkommen zwischen der NATO und der Armee Jugoslawiens (Vojska Jugoslavije) in Kumanovo vom 9. Juni 1999 – sowie die Erosion der jugoslawischen Föderation, bewirkt durch Eigenstaatlichkeitsbestrebungen der montenegrinischen Teilrepublik, haben zu weiterer Diversifizierung beigetragen.

Gegenwärtig stellen die etwa 5,6 Millionen Albaner des Balkans die Bevölkerungsmehrheit beziehungsweise -minderheit in insgesamt sechs Staaten beziehungsweise staatsähnlichen Gebilden wie Teilrepubliken oder Protektoratsgebieten:

- Republik lbanien (ca. 3,1 Millionen beziehungsweise ca. 98%)

- Internationales Protektoratsgebiet Kosovo innerhalb der BR Jugoslawien (ca. 1,9 Millionen beziehungsweise ca. 95%)

- Republik Makedonien (1994: 443000 / 22,9 %)

- Teilrepublik Montenegro innerhalb der BR Jugoslawien (ca. 50000 / ca. 7 %)

- Teilrepublik Serbien innerhalb der BR Jugoslawien (ca. 80000 / ca. 1 %)

- Griechenland (ca. 50000 / ca. 0,5 % authochtone christlich-orthodoxe Arvaniten und muslimische Albaner in der Çamëria-Region – neben ca. 400000 allochthonen Arbeitsmigranten aus Albanien)

Hinzu kommen kleine und kleinste albanische Minderheiten autochthoner Art in Italien (Arboreschen in Kalabrien und Sizilien), Bulgarien (Mandrica), Türkei (Istanbul) und Ukraine (Region Zaporija) sowie die albanische Polit- und Arbeitsemigration in Nordamerika und Westeuropa, hier vor allem in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Schweden, sowie in Osteuropa, dort primär in der Tschechischen Republik und in den jugoslawischen Nachfolgestaaten Kroatien und Slowenien.

Die zwischen Albanern und Nicht-Albanern in den genannten Staaten und Gesellschaften des Balkans vonstatten gehenden interethnischen Spannungen, die stellenweise die Form ethnopolitischer Konflikte bis hin zu Bürgerkriegen, im Falle des Kosovo-Konflikts 1999 gar diejenige eines Staatenkriegs angenommen haben – all diese Friktionen werden von der Mehrzahl der Konfliktakteure wie auch und gerade von außenstehenden Beobachtern häufig unter dem Rubrum "Albanische Frage" subsumiert. Damit wird nicht nur ein synchroner Zusammenhang der genannten Konfliktphänomene postuliert, sondern zugleich in diachroner Linie an die Orientalische Frage des "langen" 19. Jahrhunderts und ihren seit den 1870er Jahren virulenten Unterbereich der historischen Albanischen Frage angeknüpft. Die Albanische Frage nimmt sich in dieser zwar historisierenden, im Kern jedoch unhistorischen Perspektive als ein aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinragendes Konfliktbündel aus, welches entweder durch die Befriedigung der Maximalforderungen albanischer Extremisten mittels "Wiedervereinigung" sämtlicher außerhalb des albanischen Nationalstaats liegender Siedlungsgebiete der Albaner oder aber – so die Vorstellung anti-albanischer Propagandisten – durch "ethnische Säuberung" des überwiegenden Teils, wenn nicht gar aller dieser Siedlungsgebiete zu "lösen" ist.

Eine Albanische Frage dieser Art, also ein ethnopolitischer Territorialkonflikt, in dem die eine Seite das Ziel der Sezession zum Zwecke eines neuen staatlichen Zusammenschlusses verfolgt, existiert derzeit nicht. Dennoch gibt es eine gleichsam "interne" Albanische Frage, deren Kern die Frage nach dem Kohäsionsgrad der albanisch geprägten Gesellschaften des Balkans bildet. Denn es ist eben das heute eindeutig schwache Zusammengehörigkeitsgefühl der Albaner, welches nationalistisch argumentierenden Vordenkern Sorge bereitet. Die seit 1913 anhaltende staatliche Zersplitterung sowie die jeweils unterschiedlichen Prozesse forcierter gesellschaftlicher Modernisierung im Verlaufe des 20. Jahrhunderts haben die albanischen Teilgesellschaften Makedoniens, Kosovos, Montenegros und Albaniens ganz unterschiedliche Entwicklungswege einschlagen lassen. Entsprechend handelt es sich bei den beiden wichtigsten Staatsgrenzen, die das Siedlungsgebiet der Albaner durchschneiden und es in Albanien, Kosovo und Westmakedonien trennen, jeweils um Bündel einer ganzen Reihe von Grenzen politischer, kultureller, religiöser, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und anderer Art, deren trennende Wirkung sich gerade im vergangenen Jahrzehnt weiter verstärkt hat:

– Die 1991 ihre in fünf Jahrzehnten hermetischer Isolation gewachsene Versteinerung aufbrechende Gesellschaft der Republik Albanien ereilte 1997 ein totaler Kollaps staatlicher Strukturen mit der Folge des Schwindens jeglicher innerer Sicherheit. Seitdem ist dieses Dritte-Welt-Land mitten in Europa de facto ein gemeinsames Schutzgebiet von WEU, NATO, OSZE und EU, in dem Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft über erste Ansätze nicht hinausgekommen sind. Stattdessen haben Korruption, Ämterkauf, Waffenschmuggel, Drogenhandel, Menschenhandel, organisierte Kriminalität und illegale Massenflucht eine ungekannte Blüte erreicht. Die politische Elite des Landes zeichnet sich primär durch Machthunger, kaum hingegen durch Professionalität aus. Die Attraktivität des "Modells Albanien" für Albaner außerhalb Albaniens, die seit 1991 erstmals die Möglichkeit persönlicher Inaugenscheinnahme haben, strebt entsprechend gegen Null.

– Die Albaner Westmakedoniens sowie der nordmakedonischen Städte Skopje und Kumanovo, die, anders als die Kosovoalbaner, im Jugoslawien Titos nie Autonomierechte besaßen, haben auf den Zerfall der Föderation anfänglich mit zentrifugalen Tendenzen reagiert, dann aber ein Stillhalteabkommen mit der Titularnation der neuen Republik Makedonien geschlossen. Der sich 1997 radikalisierende Kurs der albanischen Elite im benachbarten Kosovo, der unter Führung der UÇK 1998 in den Krieg führte, bestärkte die makedonischen Albaner in ihrer Politik der Risikovermeidung sowie dem Primat der wirtschaftlichen Prosperität. Die Woge von 335000 kosovoalbanischen Flüchtlingen, die im Frühjahr 1999 nach Makedonien schwappte, bewirkte dann den politischen Bruch zwischen den albanischen Eliten der beiden post-jugoslawischen Regionen. Die albanische Minderheit Makedoniens machte nun ihren Frieden mit dem neuen Staat und begann sich von der politischen und kulturellen Vormundschaft durch die Kosovoelite zu emanzipieren. Der mit der Wiedereröffnung der albanischen Universität Prishtina einsetzende dramatische Bedeutungsverfall der "Universitätsfrage" in Makedonien, d. h. des Konflikts um die "illegale" albanische Universität in Tetovo, belegt dies.

– Der "alten" politischen Elite der Kosovoalbaner, die als einzige über professionell agierende Berufspolitiker verfügt und in den Jahren der Territorialautonomie 1974-1989 sowie des Schattenstaates 1990-1998 erhebliche politische Erfahrung erworben hat, droht derzeit die Marginalisierung durch eine "neue" und radikale Elite aus den Reihen der UÇK. Die bis 1998 im Kosovo intensiv geführte Diskussion über eine Re-Föderalisierung Rest-Jugoslawiens, über ein autonomes kosovoalbanisches "Südtirol" innerhalb Serbiens oder über einen Kosovo und Serbien umfassenden Staatenbund "Balkania" ist abgebrochen; die Alternativen lauten derzeit "Eigenstaatlichkeit" oder "Wiedervereinigung". Die Selbstsuggestion der UÇK, sie habe mit Hilfe der NATO den Krieg gegen Belgrad gewonnen, hat eine Diskussion über die 1997 gewählte Hochrisikostrategie, die in Vertreibung, Vernichtung und Zerstörung resultierte, gar nicht erst aufkommen lassen. Das kosovoalbanische Syndrom eigener Überlegenheit über die Albaner andernorts ist in seiner UÇK-Variante besonders ausgeprägt. Zugleich ist außerhalb Kosovos das albanische Ressentiment gegen die Hybris der Kosovoalbaner im Wachsen begriffen.

Quer zu diesen, die heute von Albanern bewohnten Teile des Balkans durchziehenden Staatsgrenzen mit ihrer starken gesellschaftlichen Prägekraft läuft die inneralbanische Dialekt- und Kulturscheide zwischen Gegen im Norden und Tosken im Süden von Shkumbi-Fluss und Prespa-See. Zwar hält noch das 1972 zwischen der Albanischen Akademie der Wissenschaften in Tirana und der Akademie der Wissenschaften und Künste des Kosovo geschlossene Abkommen über eine einheitliche albanische Standardsprache, die auf dem Toskischen basiert, doch 1999 stellten prominente kosovoalbanische Publizisten die Übereinkunft durch Verwendung eines bislang nicht standardisierten gegischen Kulturdialekts in Frage. Die Trennlinie zwischen Gegen und Tosken weist zudem eine ganze Reihe anderer, partiell gravierenderer Dimensionen auf: Politisch gesehen ist der toskische Süden Albaniens nicht nur die Heimat des langjährigen Diktators Enver Hoxhas und seines Clans, sondern entsprechend auch die Hochburg seiner unfreiwilligen Erben, also der albanischen (Post-)Sozialisten, die derzeit die Regierung stellen. Der gegische Landesteil ist hingegen die Bastion des sich als Demokratische Partei bezeichnenden politischen Clannetzes um den früheren Präsidenten Sali Berisha. Untermauert wird diese Nord-Süd-Dichotomie durch stark unterschiedliche Rechtskulturen: Die Eigentumsstrukturen im Norden sind bis heute stammesgesellschaftlich geprägt, das heißt Vererbung geht ausschließlich patrilinear sowie innerhalb von Großfamilien vonstatten. Der Norden ist zugleich der Geltungsbereich des kanun, der modernen Adaption eines frühneuzeitlichen Gewohnheitsrechtes, dessen Blutrachebestimmungen das öffentliche Leben in einigen Regionen zum Erliegen gebracht haben. Zu diesen inneralbanischen Phänomenen kommt, dass der albanische Norden gleich dem Kosovo und Westmakedonien in religiöser Hinsicht nahezu ausschließlich muslimisch geprägt ist, sieht man von den Katholiken um Shkodër ab – im Unterschied zum multiethnischen und auch religiös gemischten Süden Albaniens, in dem neben albanischen Muslimen auch christlich-orthodoxe Albaner und Griechen leben. Hinzu kommt, dass der Derwischorden der liberalen Bektaschi, diese neben Sunniten, Katholiken und Orthodoxen "vierte Konfession" der Albaner, im Süden stark im Vormarsch ist und etwa ein Viertel aller Muslime zu seinen Anhängern zählt.

In der Sicht der internationalen Gemeinschaft und der internationalen Medien wird die Annahme des Vorhandenseins einer Albanischen Frage nahezu einhellig übernommen, desgleichen die Vorstellung, die Versatzstücke dieser Frage seien gleich kommunizierenden Röhren miteinander verbunden. Ein aus Belgrader Vormundschaft entlassenes Kosovo, so diese Sichtweise, führe gleichsam zwingend zu zentrifugalen Tendenzen der Albaner Makedoniens – mit dem ultimativen Ergebnis staatlicher "Wiedervereinigung" beider Gebiete mit dem "Vaterland" Albanien. In der Regel werden dabei die dieser Annahme beziehungsweise Annahmenkette zugrunde liegenden Prämissen ebenso wenig eigens überprüft, wie dies bei der Übernahme der Pan-Albanismus-Perspektive der Fall ist. Ob es heute eine Albanische Frage auf dem Balkan gibt oder nicht, ist also keine Frage widerstreitender empirischer Befunde, sondern eine des eingenommenen Standpunktes. In historischer Perspektive hat es eine Albanische Frage auf derselben Intensitätsstufe wie es eine Makedonische Frage, ja selbst eine Aromunische, Thrakische, Bessarabische oder Epirotische im "langen" 19. Jahrhundert gab, nicht gegeben: Es waren so gut wie nie albanische Nationalisten, die den Balkan in Bürger- und Staatenkriege getrieben haben, sondern fast immer die rivalisierenden Nationalismen orthodoxer Südslawen. Was es indes zweifelsohne bis heute gibt, ist eine Albanische Frage im Denken albanischer Extremisten in Albanien, Kosovo und Makedonien sowie in der westeuropäischen und nordamerikanischen Emigration. Und unbestritten gibt es einen post-jugoslawischen Konfliktknoten, bestehend aus Serbien, Montenegro, Kosovo und Makedonien, dessen einzelne Regionalkomponenten jeweils auch eine albanische Dimension aufweisen. Entscheidend ist diese Gemeinsamkeit zum gegenwärtigen Zeitpunkt sowie in mittelfristiger Perspektive indes nicht. Wenn überhaupt diesbezüglich eine Wende denkbar ist, dann nur langfristig. Die Voraussetzung hierfür ist, dass Albanien zum Führen einer "nationalen" Außenpolitik fähig wird. Dies wiederum setzt eine umfassende Konsolidierung dieses Staates voraus – eine Entwicklung, die bislang nur zaghaft begonnen hat und mitnichten unumkehrbar erscheint. Sie wird die aktive Lebenszeit einer, wenn nicht gar mehrerer Generationen erfordern. Der Balkan mag zwar nicht "safe for democracy" sein, doch ist er bis auf weiteres gefeit gegen die "Wiederkehr" historischer Fragen, wie es die Albanische ist.

Im Oktober 1999 stellte Veton Surroi, der kosmopolitische Herausgeber der kosovoalbanischen Wochenzeitung Koha Ditore, der die zweite Kriegsrunde im Untergrund in Prishtina durch die Hilfe von Albanern und Serben überlebte, seinen Landsleuten eine düstere Prognose: "Die Europäer und die Amerikaner ... werden mit Fingern auf die Albaner zeigen und die Opfer der größten Verfolgung am Ende des Jahrhunderts beschuldigen, andere im Kosovo zu verfolgen und zuzulassen, dass Faschismus sich wiederholt. Sie werden Recht haben. Und diejenigen, die denken, dass diese Taten aufhören werden, sobald der letzte Serbe Kosovo verlassen hat, werden Unrecht haben. Es werden wieder Albaner sein, die zu Opfern gemacht werden – diesmal allerdings durch die Hand von Albanern. Haben wir dafür gekämpft?" Surrois Prognose deckt sich mittlerweile nicht nur mit der Wirklichkeit, sondern zudem mit einer Erkenntnis der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung: Aufstandsgewalt ethnonationaler Prägung kommt mit "Sieg" oder "Niederlage" in aller Regel nicht zum Stillstand, sondern diffundiert zu krimineller Gewalt. Ebenso wie im Frühjahr 1999 kosovoalbanische Flüchtlinge in Albanien von ortsansässigen Mafiosi überfallen und ausgeraubt wurden, werden etliche der nach Kosovo Zurückgekehrten heute von ihren selbst ernannten "Befreiern", der demobilisierten UÇK, aus politischen Gründen drangsaliert, misshandelt oder gar ermordet. Angesichts solcher Zustände kann mit Begriffen wie dem eines gesamtalbanischen Nationalgefühls, einer pan-albanischen Bewegung, gar dem Projekt eines Großalbaniens nicht mehr operiert werden. Die "Religion des Albaners" ist heute nicht der Nationalismus, auch nicht die Religion, sondern das Streben nach Sicherheit, Wohlstand sowie politischer Partizipation – keine schlechten Maximen für diese im 20. Jahrhundert auf der Schattenseite der Geschichte gelegene Kernregion Europas.

 

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe August 2000