Molekularteilchen oder: Der neue Mensch der Bio-Technologie

Martin Altmeyer

Der gentechnische Machbarkeitswahn ignoriert, dass der Mensch mehr als ein molekulares Subjekt ist. Eine Analyse zu grassierenden biotechnologischen Utopien und apokalyptischen Beschwörungen.

Particules élémentaires, Elementarteilchen – so hat Michel Houellebecq seinen beklemmenden Epocheroman genannt, in dem er die Isolation des zeitgenössischen Individuums auf die Unterwerfung seiner Sexualität unter die Gesetze der Marktkonkurrenz und der Produktpräsentation zurückführt. In einer doppelbödigen Allegorie lässt er einen Humanbiologen auftreten, der dem gleichermaßen persönlichen wie gesellschaftlichen Übel zu entgehen versucht, indem er einer genetisch programmierten besseren Welt ohne Sexualität entgegenforscht, während sein halbbrüderliches Alter Ego, auf seinem Weg durch die Manie vergeblichen Begehrens, liebes- und lebensunfähig in der Psychiatrie landet. Regeln im Menschenpark – so hat Peter Sloterdijk seine provozierende Rede über das Ende des Humanismus genannt, in der er nach dem angeblichen Scheitern von Zähmung, Erziehung und Bildung das Programm einer gentechnologischen Menschenzüchtung entwirft, deren Ziel einer besseren gesellschaftlichen Homöostase durch Merkmalsplanung erreicht werden soll. Eine Arbeitsgemeinschaft der Wissenden aus Genforschern und Philosophen müsse dieser Vision Gestalt geben, bei der unter anderem eine intelligentere und großzügigere Spezies entstehen solle.

Der Vorschlag des postmodernen Denkers aus Karlsruhe, mit einem langen Anlauf von Plato über Nietzsche bis zu Heidegger philosophisch begründet, stützte sich auf die Fortschritte der Bio-Technologie und war von einem bösartigen Angriff auf Habermas und die Kritische Theorie flankiert. Das jakobinische Tugendwächtertum der Frankfurter Schule lähme den Fortschrittsdiskurs und müsse abtreten, damit man der neuen Zeit endlich mit Freiheit entgegendenken könne. Sloterdijk bekam seinen Skandal und musste sich für seine Züchtungsfantasien (die er später generös zum "melancholischen Scherz" erklärt hat) den Faschismusvorwurf gefallen lassen (siehe auch Kommune 11/99). Houellebecq (dessen Melancholie längst zum Markenzeichen geworden ist) wurde im Diskurs der französischen Intelligenz wegen seines Generalangriffs auf die sexuelle Befreiung als reaktionärer Parteigänger einer Gegenmoderne enttarnt und ausgegrenzt, was dem Absatz seines Buches allerdings nicht schlecht bekam. Es wäre einen Gedanken wert, dass die öffentliche Rezeption im jeweiligen Nachbarland sehr viel milder war: Der deutsche Philosoph hat in Frankreich einen seriöseren Ruf als hierzulande, und der französische Schriftsteller wird in Deutschland von der linksliberalen Kritik besser behandelt als in seinem Heimatland – der transnationale Blick erlaubt offenbar einen gelasseneren Umgang mit dem Anstößigen. Aber ich will hier auf etwas anderes hinaus.

Der Thesenroman aus Frankreich und die Skandalrede aus Deutschland haben mit der Gentechnologie beide ein Thema aufgeworfen und Zukunftsvisionen dazu entwickelt, die heute nicht länger als literarische Fantasie oder philosophische Spekulation abgetan werden können. Die mit großer Publicity verkündete Sequenzierung des menschlichen Genoms, in den letzten Jahren mit enormen Geldsummen und großer Beschleunigung in den Labors und Rechenzentren eines internationalen Projekts vorangetrieben, ist von einer naturwissenschaftlichen Utopie des neuen Menschen begleitet, die eine ernsthafte Auseinandersetzung verlangen. Mit dem humangenetischen Wissen über die molekularen Grundlagen des Lebens und den Eingriffsmöglichkeiten einer entfesselten Bio-Technologie versprechen die  Propagandisten der New Science nicht weniger als eine "zweite Schöpfung", die den Menschen von den Übeln der ersten und den Kontingenzen der Evolution befreien soll. Der Abschied vom "Geburtenfatalismus", die Umstellung auf  die "optionale Geburt" mit den Mitteln der pränatalen Selektion – von Sloterdijk kühn gefordert, damit wir nicht bloß  Objekt der zufälligen Auslese bleiben, sondern uns zu ihrem Subjekt aufschwingen -, ist nur ein Teilbereich der grandiosen Machbarkeitsfantasien. Längst geht es um gentechnische Eingriffe am lebenden Menschen unter der Vision der Ausrottung von Krankheiten und der Annäherung an die Unsterblichkeit. Kein Wunder, dass als Folge der wissenschaftlichen eine ökonomische und soziale Revolution ausgerufen wird.

Mit biblischer Überzeugungskraft und religiösem Vokabular wird eine Zukunft ausgemalt, welche die Gattungsgeschichte neu schreiben wird, und wir fühlen uns an die große Utopie unserer Vergangenheit erinnert, wo die Aussicht auf eine Sonne, die einmal "ohne Unterlass" scheinen sollte, zu revolutionären Taten ermunterte. Heute wissen wir, dass das ersehnte Dauerlicht geblendet und dort, wo es real installiert werden sollte, verbrannte Erde hinterlassen hat. Gewiss, seit dem Scheitern der sozialistischen Revolution sind wir gegenüber den großen Entwürfen misstrauisch geworden und haben feststellen müssen, dass auch die paranoiden Säuberungsaktionen unter Stalin einem utopischen Gedanken folgten, der in den großen Gesängen gefeiert wurde. Die revolutionären Taten der RAF hat man als späten Ausdruck dieser Utopie verstehen können, die bei der Verbesserung der Welt gewisse Opfer in Kauf genommen und der klassischen Verbindung von Humanismus und Terror eine neue Gestalt gegeben hat. Wir haben gelernt, dass der Zweck nicht immer die Mittel heiligt. Aber haben wir den hehren Zweck in Frage gestellt und das Ziel selbst angezweifelt? Der allseits beschworene gesellschaftliche Utopieverlust – ist er wirklich eingetreten? Oder war er nur die Signatur einer Übergangszeit, die mit der neuen naturwissenschaftlichen Religion zu Ende geht?

Utopie-Vision-Ziel – so lautet die Hierarchie des Strebens nach Veränderung, wenn man sie bis zu jener pragmatischen Ebene herunterbuchstabiert, auf der Organisationsberater ihre Unternehmensziele, Lehrer ihre Lernziele oder Parteien ihre politischen Ziele formulieren. Es ist der Horizont einer lichten Zukunft, vor dem die Optimierungsstrategien der Gegenwart ihre motivierende Kraft beziehen. Erst die Utopie, die große Hoffnung, adelt unsere Visionen und gibt unseren Zielen eine Perspektive, die aus kleinen Schritten einen langen Weg machen. Auch die Wissenschaft pflegt ihre Forschungsziele in Visionen zu kleiden, an deren Ende häufig eine Utopie steht. Die neueste Utopie zum Beginn des dritten Jahrtausends knüpft sich an die Entdeckung der molekularen Bausteine des Lebens im menschlichen Erbgut, die sich der Zusammenarbeit der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung mit der Computertechnik und anderen angewandten Disziplinen einer New Science verdankt. Robotik und Nanotechnologie, bis vor kurzem der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt, schaffen durch Miniaturisierung und Beschleunigung ungeahnte Möglichkeiten, in Bereiche von Zeit und Raum vorzustoßen, die der Wissenschaft vorher verschlossen schienen. Es geht um nichts weniger als darum, die "Handschrift Gottes" zu entziffern und sein mangelhaftes Werk zu vervollkommnen.

Die biotechnologische Utopie der wunderbaren Möglichkeiten provoziert auf der anderen Seite die apokalyptische Beschwörung furchtbarer Gefahren. Der öffentlichen Erregung gibt es eine besondere Würze, dass der Diskurs von Leuten geführt wird, die auf die Namen Kurzweil, Joy, Venter oder Gelernter hören (Heißen Sie nun wirklich so oder machen Sie sich einen Spaß mit uns?). Sie ergreifen nicht nur als Wissenschaftler euphorisch oder mahnend das Wort oder nehmen im Beratungsstab des amerikanischen Präsidenten Einfluss auf wissenschaftspolitische Entscheidungen und die Verteilung von Forschungsmitteln, sondern arbeiten als interessierte Unternehmer zugleich Gewinn bringend in den Feldern der New Science und profitieren von ihren Patenten. Sie personifizieren eine Verschmelzung, die für die New Science kennzeichnend ist und alte Trennungen auflöst: die von Grundlagenwissenschaft und Anwendung, die von Forschung und Herstellung, die von Naturwissenschaft und Computertechnik – und schließlich die von Entdeckung und Erfindung. Wo die Entdeckung unser Wissen erweitert, erhöht die Erfindung unser Können, so dachten wir bisher. Aber in den Bio-Wissenschaften verschwimmen die Kriterien für die Abgrenzung von  frei zugänglicher Information und lukrativen Patentierungen, von Know-what and Know-how.

Wo die naturwissenschaftliche Hysterie bereits die Übernahme der Evolution verkündet, sollten wir unter dem dämpfenden Motto "Cool the gene-fever!" fragen, worin das neue Wissen und Können tatsächlich besteht. Erstens kann von einer wirklichen Entschlüsselung des menschlichen Genoms nicht die Rede sein. Wir kennen die Sequenzen im Erbgut, das heißt die Abfolge seiner Bausteine in der DNS, die im Kern jeder Körperzelle als Anweisungen enthalten sind – aber wir kennen weder ihre Bedeutung, noch die Wechselwirkungen der Gene innerhalb des Genoms, noch die Interaktion zwischen Genom, Zelle und organismischer Umgebung. Wir wissen, dass der genetische Bauplan des Menschen drei Milliarden Zeichen enthält – aber wir wissen auch, dass nur ein Bruchteil davon relevante Erbinformationen enthält, und wir vermuten, dass der Rest aus biologischem Müll besteht, den die Evolution aus unerfindlichen Gründen mitschleppt. Zweitens: Selbst wenn wir die Zeichen alle lesen könnten – und es wird Jahre und Jahrzehnte dauern, bis wir den Text und seine Grammatik verstehen können –, selbst dann wissen wir, dass der Mensch nicht das Produkt seiner genetischen Programmierung ist, sondern sich in einer Umgebung entwickelt, zu der andere Menschen gehören, die soziale ebenso wie die physikalische Welt. Drittens: Die Evolution ist ein selbst steuerndes, unüberschaubar komplexes System, an dem wir als Mitspieler teilhaben. Aber gerade deshalb sind wir nicht in der Lage, die Entwicklung dieses Systems vorauszusagen, geschweige denn gezielt zu steuern; wir bräuchten dazu ein Metawissen, das uns aus der Evolution heraushebt. Das ist aber nicht möglich, wie uns die Systemtheorie gezeigt hat. Aus dem gleichen Grund können wir evolutionäre Veränderungen auf ihren verschachtelten Wegen nur ex post rekonstruieren, auch wenn wir sie beeinflussen können. Sie folgen keinen Wenn-dann-Abläufen, wie uns der gentechnologische Interventionswahn weismachen will.

Es gibt weder ein Gen für die Intelligenz noch ein Ethik-Gen; das Kriminalitäts-Gen wird nicht gefunden werden, wie auch die Suche nach dem Schizokokkus eine Episode der psychiatrisch-neurologischen Forschung bleiben wird. Komplexe Merkmale wie bestimmte Charaktereigenschaften oder Moralvorstellungen sind in individuell ausgeprägten neuronalen Strukturen im Gehirn repräsentiert, die sich in lebensgeschichtlichen Interaktionen mit der natürlichen und sozialen Umwelt herausbilden und verändern. Die beklemmende Vision einer Züchtung solcher Eigenschaften durch gentechnologische Eingriffe ist wissenschaftlich ohne Grundlage. Der Mensch entsteht nicht wie der Apfel aus dem Kern. Genau dieses lineare Modell der Entwicklung scheint aber durch die grandiosen Allmachtsfantasien der humangenetischen Apostel hindurch, die uns die neue Welt der unbegrenzten Machbarkeit und ewigen Jugend versprechen. Um es unterkomplex auszudrücken: Wir sind Teil eines hoch interaktiven Netzwerks, in dem wir unser genetisches Potenzial nutzen und unsere individuelle Persönlichkeit ebenso ausbilden wie die sozialen und kulturellen Formen des Zusammenlebens. Die Hoffnung auf Verbesserung gehört dabei zur Conditio humana, aber auch die Erkenntnis über die Unvollkommenheit der Gattung. Mit beidem müssen wir einstweilen leben, mit der überhitzten Hoffnung und mit der unvermeidlichen Kränkung. Wir sind eben doch mehr als ein molekulares Substrat.

 

COPYRIGHT:

Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe August 2000