Ereignisse & Meinungen

Zwei Jahre Schröder

Redaktion: Michael Blum

Mit seiner vorgezogenen "selbstbewussten Halbzeitbilanz" (Neue Zürcher Zeitung, 26.7.00) hat der  "Bundeskanzler ein rosarotes Bild der Koalition" (FR, 26.7.00) gezeichnet, "von einer deutschen Krankheit, so Schröder, spreche niemand mehr, der ‚Reformstau‘ sei aufgelöst" (NZZ).

Die Bilanz zweier Amtsjahre konnte unterschiedlicher nicht sein, kommentiert Wolfram Werner in der Welt (26.7.00): "Im ersten herrschte Chaos, im zweiten geordnete Pragmatik; im ersten gab es grün-linke Destruktion, im zweiten Realpolitik bürgerlicher Räson ..." Schien Werner zufolge im ersten Jahr die "Degradierung des Landes zur politischen Nachbesserungsanstalt" das Credo der Regierung Schröder-Fischer zu sein, hat für Gunter Hofmann (DIE ZEIT, Nr. 30/00) "Schröder nun gezeigt, was Politik kann. Jetzt muss er die Zukunft anpacken. Bis zum Jahresende will die Bundesregierung die wichtigsten Reformen abhaken. Der Beweis wäre dann endgültig erbracht, dass die Konsensdemokratie zu Selbstkorrekturen fähig ist ... Die Politik schließt in einigen Fragen zur Realität auf. Das gilt für den Inhalt, es gilt aber ebenso für die Methode. Seine Regierung hat, spät genug, erkannt, wozu sie nach sechzehn Kohl-Jahren gewählt worden ist: für eine Erneuerungspolitik nämlich ... Starke Kanzler folgen nicht nur Moden, sie sind auch Modemacher."

Keine Frage: Schröder ist im demoskopischen Aufwind. Ist er deshalb auch glaubwürdig? Über "den Wert der Glaubwürdigkeit in der Politik" hat Jost Kaiser in der SZ (3.5.00) einen zitierwürdigen Beitrag veröffentlicht: "Würde irgendwer von Wolfgang Clement einen Gebrauchtwagen kaufen? Womöglich von Jürgen Möllemann? Falls die Antwort ‚nein‘ heißt: Sind die Genannten dann schlechtere Politiker? Die Gebrauchtwagen-Frage, die auf das abzielt, was man auch die ‚Glaubwürdigkeit‘ des Politikers nennt, stammt von dem amerikanischen Journalisten Hunter S. Thompson. Er hat sie 1960 gestellt, und der Mann, dem Thompson noch nicht einmal ein gebrauchtes Ersatzteil abgekauft hätte, hieß Richard Nixon ... Was von der Kategorie ‚Glaubwürdigkeit‘ heute zu halten sei, hat Hunter S. Thompson während des ersten Präsidentschaftswahlkampfs von Bill Clinton klargestellt. Thompson hielt Clinton für total ‚unglaubwürdig‘, für einen Lügner und Politikdarsteller. Und trotzdem war es richtig, den Mann zu unterstützen – schon weil er das kleinere Übel war.

In Deutschland aber, diesen Schluss legt jedenfalls die veröffentlichte Meinung nahe, in Deutschland verspürt man noch immer den tiefen Wunsch, Leuten wie Angela Merkel oder Guido Westerwelle wirklich, und zwar am liebsten blind, einen Gebrauchtwagen abzukaufen und dem Bundeskanzler zumindest einen Neuwagen aus Niedersachsen.

Max Weber hat in seiner Herrschaftssoziologie die rationale und die traditionale Herrschaft von der charismatischen unterschieden, welche auf der ‚außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen‘ beruhe. Das ist es also, worauf das Kriterium der Glaubwürdigkeit zielt: auf eine emotionale Bindung zwischen dem Wahlvolk und dem politischem Personal, welche über das rationale Zweckverhältnis zwischen Delegierten und Delegierenden hinausgeht.

Seltsamerweise misstrauen aber gerade die Glaubwürdigkeitsprediger der Inszenierung und den Symbolen in der Politik, Fahne und Hymne, genauso wie der Ausrichtung der Politik nach den Bedürfnissen der Medien. Wie sollte sich aber das Charisma anders entfalten als in seiner unerlässlichen Inszenierung?

Wer über Glaubwürdigkeit räsoniert, gebärdet sich aufklärerisch und kritisch – und betreibt doch das Gegenteil. Er will nicht die Veränderung der Politik; er will nur eine andere Vermittlung. Er will das Private, das in der Massendemokratie nur vorgetäuscht werden kann. Er will die Intimisierung von Politik. Und da das Verhältnis zwischen Delegierendem und Delegiertem in der Massengesellschaft nur so funktionieren kann, dass es sich jenseits von ‚Vertrauen‘ und ‚Glaubwürdigkeit‘ bewegt, schon weil sich beides nur in der persönlichen Beziehung entfalten kann: Deshalb ist mit ‚Glaubwürdigkeit‘ nur deren Vortäuschung gemeint.

Glaubwürdigkeit ist keine politische Kategorie – und das Publikum weiß das auch oder spürt dies zumindest unterschwellig. Roland Koch hat dies erkannt, als er, nachdem er offensichtlich gelogen und damit seine Glaubwürdigkeit verspielt hatte, dann aber umso glaubwürdiger unendliche Zerknirschung vortäuschte. Und so scheinen es die Glaubwürdigkeitsprediger wohl auch zu meinen: Der revolutionäre Mob jedenfalls, der die Wiesbadener Staatskanzlei belagert und den Lügner Roland Koch in Schimpf und Schande verjagt hätte, ist nicht gesichtet worden.

Das Bedürfnis nach ‚Glaubwürdigkeit‘ ist offenbar mit einfachstem politischem Marketing zu befriedigen. Die Tatsache, dass Koch sich für einen Moment den politischen Konsumbedürfnissen der Wähler beugen und Zerknirschung simulieren musste, ist für jene bloß ein kurzer Moment des Triumphs; der Augenblick, da sie, ohne große Folgen, sich ihrer selbst bewusst werden. Die Herrschenden existieren immer schon, die Beherrschten nur, wenn sie sich mobilisieren, hat Pierre Bourdieu geschrieben.

In Deutschland hat es selten einen maßgeblichen Politiker gegeben, der glaubwürdig war, in dem Sinne, dass er etwa getan hätte, was er sagte ...  Das deutsche Glaubwürdigkeitsgerede entspringt dem grün-alternativen Milieu, wo man seit langem dazu neigte, das Öffentliche mit dem Privaten zu verwechseln ... Trotz allem Glaubwürdigkeitsgerede wollen die Deutschen regiert werden; mit demonstrativer Tatkraft und mit einem Pragmatismus, dem im Zweifelsfall egal ist, ob er das vollzieht, was er vorher angekündigt hat ...  "

Die Gründungsdirektorin des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Renate Mayntz, gab schon 1993 zu bedenken, dass politische Entscheidungen zunehmend in "Politiknetzwerken" und "Verhandlungssystemen" getroffen werden und die politischen Eliten einen zentralen Teil ihrer Entscheidungsfunktion mit der Transformation moderner Demokratien zu "Verhandlungsdemokratien" eingebüßt haben. "Diese schleichende Entmachtung politischer Eliten kontrastiert auffällig mit der zunehmenden Personalisierung der Politik", schreibt der Politologe Edgar Grande in Leviathan (1/2000). Fast zwangsläufig sei dabei "der ‚publizistische Wahlbetrug‘, er scheint inzwischen zu den Strukturmerkmalen moderner Demokratien zu gehören", urteilt Grande. Die "Hochkonjunktur rechter Populisten (Le Pen, Berlusconi, Haider) zeuge hiervon ebenso wie der Wahlerfolg einer neuen Generation von linken Opportunisten (Blair, Clinton, Schröder) in den westlichen Demokratien, die eine wie auch immer definierte ‚neue Mitte‘ für sich zu gewinnen versuchen. Die grassierende Frustration über die ‚herrschenden‘ Politiker scheint zu einer paradoxen Reaktion zu führen: Die Erwartungen an die Politiker werden nicht gesenkt, sondern – ganz im Gegenteil – sogar noch gesteigert. Je komplexer das politische Problem, desto einfacher müssen die Parolen sein, mit denen man Stimmen und Folgebereitschaft finden kann."

Nach herkömmlichem Verständnis hatte Politik, wie Joachim Hirsch in der neuen hanauer zeitung/nhz (Sommer 2000) zuspitzte, "etwas mit der Gestaltung sozialer Verhältnisse zu tun, mit Kämpfen um Interessen, gesellschaftliche Ziele und Ordnungsvorstellungen. Als demokratisch galt sie, wenn die Betroffenen in gewisser Weise daran mitwirken konnten." Dies sagt aber noch nichts über die Qualität der Mitwirkung aus. "In Abwandlung eines bekannten Marx-Zitats reicht es nicht aus, kritisch zu kritisieren, sondern es kommt darauf an, die Welt praktisch zu verändern" (Hirsch). Eine wichtige Rolle spielten dabei dereinst die Parteien: "Es ist noch nicht so lange her, da hatten politische Parteien eine Position, Anschauung, Charakter. Heute haben sie einen Platz. Platz nimmt man, wo man ihn findet, Position wird bewusst gewählt, um etwas zu bekunden, festzustellen und festzuhalten. Sie ist nicht verwechselbar, der Platz hingegen jedermanns Gemeinplatz. Was ist das für ein Platz, auf dem sich die Parteien zusammenfinden? Parteipolitiker nennen ihn gern Mitte, seit neuestem ‚neue‘ Mitte, um von vornherein deutlich zu machen, dass man nichts anstrebt, ja nicht einmal an etwas denkt, was einseitig, abschüssig oder abgründig wäre. Nichts eckt an. Mitte ist der Ort, wo sich heute, bis auf Ausnahmen, alle Parteien befinden. Sie sitzen eng aufeinander, wie in einem Hochhaus. Man kann in jeder Etage klingeln, und immer öffnet eine Partei ... Die neue Mitte, der Hauptgemeinplatz, hat keine Tiefe, es sei denn die Tiefe der Leere. Es kann sein, dass die Parteien damit eine Zeitlang auskommen. Es kann aber auch sein, dass sie dem Bürger gleichgültig werden", gibt Herbert Kremp in der Welt (4.7.00) zu bedenken.

"Fragt man nach dem wesentlichen Merkmal Schröder’scher Politik, so fällt der Begriff ‚Konsens‘", notiert Dieter Rulff in der Woche (28.7.00). Und weiter: "Konsensenergie sei es, was die Regierung antreibe – so wirbt die Regierung. Kaum ein gesellschaftliches Problem, zu dessen Beilegung nicht ein Bündnis geschlossen wird, kein Reformvorhaben, zu dem nicht eine parteiübergreifende Expertenrunde installiert wird. So regiert Schröder in Abwandlung der wilhelminischen Maxime: ‚Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Aufgaben.‘

Im Herbst 1997 hatte Wilhelm Hennis der Regierung Kohl die Missachtung der verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Entscheidungsverfahren vorgeworfen. Im System Kohl werde die Richtlinienkompetenz des Kanzlers und die Schlichtungsfunktion des Kabinetts zugunsten der wöchentlich tagenden Koalitionsrunden aufgegeben – diese seien der krasseste Ausdruck des zugleich ängstlichen wie machtversessenen Parteienstaates und der Grund für den allseits beklagten Reformstau. Bekanntlich gewann Schröder die Bundestagswahl mit dem Kontinuitätsversprechen: ‚Wir wollen nicht alles ändern, aber vieles besser machen.‘ Das trifft auch auf den von Hennis beklagten Zustand zu. Das ‚verfassungswidrige‘ Zentrum der Machtausübung hat sich unter Schröder völlig gewandelt. Diente die Kohl’sche Konsenspolitik noch der Stabilisierung der machtversessenen Parteiendemokratie, so trägt die Schröder’sche ihrem Versagen und ihrem Schwinden Rechnung. Die Parteien haben als Organe der politischen Willensbildung einen rasanten Bedeutungsverlust erlitten, den Kohl durch sein Patronage-System kompensierte und dem Schröder durch die Verlagerung von Entscheidungsprozessen in die Gesellschaft entspricht. Doch dass sich die Politik damit ‚mehr Legitimation verschafft‘, wie der Kanzler behauptet, stimmt nicht in jedem Fall", heißt es in der Woche.

Schröders "zivile Bürgergesellschaft", so wie er sie in einem Essay niedergeschrieben hat, zielt auf neue politische Umgangs- und Verhandlungsformen, die Jutta Roitsch in der FR (10.7.00) so ausmacht: "Des Kanzlers Gesellschaftssystem aber bietet den organisierten Interessenvertretungen eine ungeahnte Renaissance, die sie bisher zur Selbstdarstellung nutzen. Die politischen Folgen sind schwerwiegend: Die neue Teilhabe in Schröders System geht zu Lasten der Parlamente und des gegenwärtigen Systems der repräsentativen Demokratie. Im neuen und scheinbar glänzenden Gewand der zivilen Bürgergesellschaft wird zu Berlin antiparlamentarisches Denken gepflegt. Die Zivilität nämlich beweist sich nach diesem Muster nicht im geordneten, mühevollen Verfahren des föderalen Parlamentarismus, sondern in ‚Konsensen‘ in konzertierten Aktionen, in überparteilichen Kommissionen oder Bündnissen. Die Parlamente, die Regierungsfraktionen nicken nach diesem politischen System die ‚zivil’ ausgehandelten Regeln der Interessengruppen ab.

So steckt hinter dem System Schröder ... der Wunsch nach einem anderen System von Führung und Entscheidung, der bisher widerspruchslos hingenommen wird. Hat der Parlamentarismus schon so abgewirtschaftet, dass sich niemand mehr zu seiner Verteidigung aufrafft?"

 

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe August 2000