Harry Kunz

Die Zukunft sozialer Hilfen

Grundsicherung oder Fitmachen für die Leistungsgesellschaft?

"Die der Sozialhilfe vorgelagerten Sicherungssysteme, die jeweils eines der großen sozialen Risiken absichern, müssen ,armutsfest‘ gemacht werden, d.h. selbst ein sozio-kulturelles Existenzminimum gewährleisten", schrieb die Caritas-Armutsuntersuchung 1993 den Politikern ins Stammbuch.11 Rotgrün wollte diese Ermahnung mit einer Grundrente in der aktuellen Rentenreform berücksichtigen – und rannte sich prompt im Dickicht einer durch die Ausschlussregelungen des Rentensystems produzierten Gerechtigkeitslücke fest: Solange die vorgelagerten Sozialsysteme eine beträchtliche Zahl von Bürgern nicht erfassen, impliziert eine durch sie eröffnete Grundsicherung eine schwerlich begründbare Privilegierung. Warum sollen nur die gesetzlich Rentenversicherten einen Anspruch auf eine Grundrente besitzen? Zudem stellt eine Mindestrente innerhalb der gesetzlichen Rente deren Prinzip beitragsäquivalenter Leistungen infrage.

Fraglos ist ein Abschied vom Sozialstaat bismarckscher Prägung überfällig: Die Bindung sozialer Sicherung (allein) an ein Lohnarbeitsverhältnis bietet für viele der heute typischen Lebensrisiken keinen zureichenden Schutz. Bei jenen Personengruppen, die nicht in das lohnarbeitszentrierte Sicherungssystem eingebunden sind und in den häufigen Fällen langer Wartezeiten auf Rentenbescheide oder Arbeitslosengeld, tritt der Sozialstaat sogar als Ursache von Verarmungsprozessen auf. Hier muss die Sozialhilfe einspringen. In anderen Fällen erfüllt sie die Aufgabe einer Mindestsicherungskonzeption, Abstürze aufzufangen und eine Teilhabe am sozialen Leben zu ermöglichen. Die politische Sinnhaftigkeit der Forderung nach einer zusätzlichen Grund- oder Mindestsicherung ist deshalb zweifelhaft. Bei einer völligen Bedarfsorientierung einer steuerfinanzierten Grundsicherung würde deren Niveau der Budgetkonkurrenz mit anderen öffentlichen Aufgaben unterliegen und – wie auch bei der Sozialhilfe zu beobachten – wahrscheinlich langfristig reduziert. Im Unterschied zur Einführung der Sozialhilfe würde das Absicherungsniveau einer Grundsicherung heute zudem nicht wissenschaftlich-fachlich definiert, sondern wäre Ergebnis politischer Auseinandersetzungen. Mit dem wahrscheinlichen Ergebnis, dass eine Grundsicherung manche Personengruppen schlechter stellen würde. Während heute im Rahmen der Sozialhilfe neben der Hilfe zum Lebensunterhalt weitere Beihilfen und insbesondere eine Mietübernahme erfolgt, beschränken sich gängige Mindestsicherungskonzepte auf ein Grundeinkommen. Selbst wenn dieses deutlich über dem heutigen Sozialhilfesatz läge, würden diese Einkommen bei hohem Mietaufwand rasch unter das heutige Existenzminimum rutschen.

Alternativ zu einer zusätzlichen Grundsicherung böte sich daher an, die Sozialhilfe zumindest bei jenen Gruppen zu entbürokratisieren, wo die Chance zur Selbsthilfe zeitweilig oder gänzlich gering ist: Bei Rentenaufstockungen oder Unterstützungen für allein Erziehende (zumindest in der ersten Lebensjahren der Kinder) sollte auf soziale Kontrollen und Regressansprüche verzichtet werden. Während ein an das heutige Erziehungsgeld anknüpfendes Erziehungsgehalt institutionell von der Sozialhilfe entkoppelt wäre, wirft die jetzt von Rotgrün avisierte Mindestrente innerhalb der Sozialhilfe allerdings auch neue Probleme auf. Einerseits will man das Verfahren entbürokratisieren und insbesondere erwachsene Kinder von einer Unterstützung ihrer verarmten Eltern entpflichten. Auf der anderen Seite ist die Reform aber mit der Idee aktivierender Sozialpolitik schwerlich zu vereinbaren: Statt Armut im Sinne von Sozialhilfeabhängigkeit zu vermeiden, etwa indem auf Rentenniveauabsenkungen bei Niedrigrenten verzichtet und eine obligatorische Privatvorsorge eingeführt wird, sollen nach dem Willen von Rotgrün nach 2010 wieder vermehrt Senioren die Flure der Sozialämter bevölkern. Die geforderte Spezial-Sozialhilfe leitet zudem dann eine bedrohliche Entwicklung ein, wenn Armut "wegdefiniert" wird. "Außerdem schafft das Konzept (der Rentenreform, H. K.) durch den Wegfall der Unterhaltspflicht von Kindern die Vermeidung von Armut im Alter", erklärt die Bundestagsfraktion der Grünen.12 Wie die frühere Familienministerin Nolte (unter großer grüner Empörung) ehedem Kinderarmut durch eigenwillige Neudefinitionen aus der Welt schaffen wollte, so mutiert im Verständnis der Bündnisgrünen heute Sozialhilfeabhängigkeit vom Armutsindikator zum Indiz für Armutsvermeidung. Mit der Diskussion um "differenzierte" Mindestlebensstandards und Armutsverständnisse bei Senioren ist eine besondere Gefahr verbunden: Häufig wird unterschlagen, dass neben der laufenden Hilfe zum Lebensunterhalt die Altersarmen der Zukunft auch deutlich steigende Kosten für Gesundheits-, Rehabilitations- und Pflegemaßnahmen verursachen werden. Dies wird in der Öffentlichkeit die Frage provozieren, ob sich für Hochbetagte und Pflegebedürftige ein hoher Sozialhilfeaufwand überhaupt "lohnt". Setzt sich in einem solchen Klima dann eine Reduzierung der Sozialhilfe für bestimmte Seniorengruppen durch, wäre die Abkehr von den Werten des Sozialstaats besiegelt.

Mehr Sozialarbeiter, mehr Solidarität?

Die Unentschiedenheit von Politik und Gesellschaft zwischen dem Anspruch auf Armutsüberwindung und praktizierter Ausgrenzung prägt auch den Umgang des sozialen Hilfesystems. Armutsüberwindung und "Exklusionsverwaltung"? Hält man am Ziel sozialer Integration jedes Bürgers fest oder akzeptiert man Armut und versucht ihre destruktiven Folgen zu mildern? Ist das Hilfesystem nur ein verlängerter Arm jeweiliger Sozialpolitik oder bestehen eigenständige Handlungsspielräume?

Von der polizeilichen Armenfürsorge hat man sich grundlegend in Richtung auf freiwillige Hilfen umorientiert. Doch die Spezialisierung und Ausdifferenzierung der Hilfen und ihr Dienstleistungscharakter haben auch ein normatives Vakuum in der Zielbestimmung sozialer Arbeit erzeugt. Häufig tritt an die Stelle der Reintegration das Management von Ausschlussprozessen – rhetorisch versüßt mit dem Hinweis auf die Vielfalt der Lebensformen und das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen. Beispielhaft ist die Fachdiskussion um Straßenkinder. "In dem Karrierebegriff erscheinen die Betroffenen nicht mehr als wehrlose Opfer ihrer biografischen Perspektive, sondern es wird auf die völlig unterschiedlichen lebensgeschichtlichen Verlaufsprozesse verwiesen, die auch einen Blick in die Zukunft öffnen", heißt es etwa bei dem Erfurter Hochschullehrer Ronald Lutz über bundesdeutsche "Straßenkinder". Der Begriff "Armut" sei für ihre "Risikolagen" nicht angemessen.13 So wichtig es für praktische Sozialarbeit ist, die Betroffenen nicht mitleidsvoll-herablassend ihre Armut spüren zu lassen, so problematisch ist die Leugnung der Armut derart umfassend benachteiligter Jugendlicher in einem  wissenschaftlichen und politischen Kontext. Einen empirischen Beleg sucht man vergebens, wonach "Straßenkinder" mehrheitlich nicht in einer Teufelsspirale der Verarmung enden. Stattdessen ordnet sich die Fachlichkeit unmittelbar sozialpolitischen Vorgaben unter: Weil für die Betreuung dieser Jugendlichen ohnehin nur befristete Projekte oder ABM-Maßnahmen finanziert werden, postulieren Sozialpädagogik und Sozialarbeitswissenschaft in vorauseilendem Gehorsam, dass die zeitweilige Abfederung von krisenhaften Zuspitzungen ausreiche. Begleitung, statt Treue implizierender und zielorientierter Betreuung – eine solche Sozialarbeit immunisiert sich gegen jede methodische oder inhaltliche Kritik: Wo kein Ziel vorhanden ist, kann Sozialarbeit auch nicht scheitern.

Die neue Scham von Fachlichkeit und sozialer Arbeit, Armut beim Namen zu nennen, ist auch politisch problematisch: Der Begriff "Armut" enthält einen normativen Appell, der auf Veränderung drängt. "Risikolagen" hingegen sind in der Risikogesellschaft allgegenwärtig. Die besondere Dramatik und Verengung der Wahlfreiheit der Betroffenen verschwindet aus dem Blick. Die normative Dimension des Armutsbegriffs steht demgegenüber einer Bagatellisierung und einer individualisierenden Schuldzuschreibung entgegen. Beide Tendenzen werden den künftigen gesellschaftlichen Armutsdiskurs prägen. Evidente absolute Armut ist hierzulande weitgehend überwunden – wenn auch die Verbannung der Unterernährung eher eine Folge des Preiskampfes von Aldi, Lidl und Norma als das Ergebnis sozialpolitischer Anstrengungen ist. Armut im Reichtum hingegen ist offen für Umdefinitionen, Verniedlichungen und Ausblendungen.

11 Siehe: R. Hauser/W. Hübinger, Arme unter uns. Teil 1, Freiburg 1993, 418.

12 Pressemitteilung Nr. 408/2000 vom 3.7.00 – Die Bedeutung des Wegfalls der Unterhaltspflicht zur Bekämpfung "verschämter Armut" wird zudem überschätzt. Allenfalls bei Renten in der Nähe der Sozialhilfegrenze dürfte häufiger ein Sozialhilfeantrag unterbleiben, etwa weil man sich von direkten Unterstützungen der Kinder mehr verspricht. (Vgl. W. Schmähl (Hrsg.) Mindestsicherung im Alter. Frankfurt/Main 1993).

13 In: Ch. Butterwegge (Hg.), a.a.O., 184, 192 f.

 

Exkurs: Arbeit statt Armut

Neben besonderen Arbeitszeitanforderungen (z.B. von allein Erziehenden) sind vor allem der Abbau gering qualifizierter (Fabrik-)Arbeitsplätze für die Schwierigkeiten der von Armut bedrohten Personengruppen auf dem Arbeitsmarkt verantwortlich. Bietet die Ausbreitung eines Niedriglohnsektors für Einfacharbeiten eine Alternative? Gewinner des Übergangs zur Dienstleistungsgesellschaft sind vorwiegend Personen mit guter schulischer und beruflicher Ausbildung. Doch die Crew der Internet-Firma will keine Hausmeistertätigkeiten verrichten, das Team der Event-Agentur ist sich für Handlangerdienste zu schade. Als Dienstleister für die Dienstleister und bei personen- und haushaltsbezogenen Dienstleistungen ist ein begrenzter Bedarf vorhanden, lästige Eigenarbeit durch niedrig bezahlte Fremdarbeit zu ersetzen.

Scheinbar steht einem kleinen Jobwunder nur die "Arbeitslosigkeits- und Sozialhilfefalle" entgegen: Aufgrund der weit gehenden Einkommensanrechnung bewirken Niedriglohntätigkeiten keine relevante materielle Besserstellung für die Bezieher dieser Transferleistungen. Als Gegenmaßnahmen werden vor allem drei Konzepte diskutiert:

Ist der Konflikt zwischen der auf einem Bedarfsdeckungsprinzip aufbauenden Sozialhilfe und Niedriglöhnen, die das Existenzminimum nicht sichern, nur durch eine weitere Auflösung der Absicherung des Existenzminimums zu beseitigen? Eine Teilalternative böte die Aufstockung des Kindergeldes und die Einführung eines Erziehungsgehaltes: Tarifliche Niedriglöhne unterschreiten heute meistens dann das Existenzminimum, wo mehrere Kinder zu versorgen sind, hohe Mietbelastungen anfallen oder nur eine Teilzeitarbeit möglich ist. Kindbezogene Transferleistungen kämen gleichermaßen Sozialhilfeempfängern und "working poor"-Familien zugute. Das Abstandsgebot bliebe berücksichtigt.

Dessen ungeachtet wird (schon aufgrund des höheren Renteneintrittsalters) auch die Gruppe älterer, kranker oder gering qualifizierter Langzeitarbeitsloser anwachsen. Ohne neue Kombinationen von Beschäftigung und aufstockender Sozialhilfe droht für diese Klientel Armut als Lebensschicksal.

 

 

Literaturempfehlungen:

Harald Ansen. Armut – Anforderungen an die Soziale Arbeit, Peter Lang Verlag, Frankfurt/Main 1998. – Ohne den die Literatur dominierenden soziologischen Blick werden die Anforderungen vermehrter Armut für Sozialarbeit und Pädagogik diskutiert, die konzeptionellen Leerstellen und manche Fehlentwicklungen sozialer Arbeit beleuchtet.

Karl-Jürgen Bieback, Helga Milz (Hg.), Neue Armut, Campus Verlag, Frankfurt/Main 1995. – Trotz einer auf den Anfang der Neunzigerjahre begrenzten Datenbasis ein weiterhin aufschlussreicher Versuch, die Verwobenheit von ökonomischer und sozialer Marginalisierung mit kulturellen Kompetenzen zu reflektieren und am Beispiel von Kinderarmut, allein erziehenden Frauen und der Wohnungsnot zu illustrieren.

Jens Dangschat (Hg.), Modernisierte Stadt – gespaltene Gesellschaft, Verlag Leske und Budrich, Opladen 1999. – Für theoretisch interessierte Leser sind die Ausführungen zur Underclass-Debatte oder zur Bedeutung von Lebensstil, Milieuzugehörigkeit und sozialer Klassenlage als Armutsursachen lesenswert. Leider auch viele Beiträge mit fruchtlosem "Seminar-Marxismus".

Johann Huinink, Warum noch Familie?, Campus Verlag, Frankfurt/Main 1995. – Umfassende, auch empirisch belegte Darstellung eines Szenarios künftiger Familienentwicklung. Besonders hervorgehoben werden die Gefahren einer Polarisierung zwischen Familien und nichtfamiliären Lebensformen.

Charlotte Köttgen (Hg.), Wenn alle Stricke reißen, Psychiatrie Verlag, Bonn 1998. – Am Beispiel entwurzelter Kinder und Jugendlicher, die in das Labyrinth der Spezialisten aus Jugendhilfe, Psychiatrie und Heimerziehung geraten, werden die Probleme wachsender Arbeitsteilung, Dienstleistungsorientierung und Bürokratisierung des Hilfesystems diskutiert. "Als untherapierbar, unbeschulbar, unerziehbar stigmatisiert, durchlaufen manche Kinder und Jugendliche das ganze Netz von Institutionen eines ausgefeilten Spezialistensystems, ohne dass ihnen dabei geholfen wird." – Ein derartig selbstkritischer Blick auf die Strategien von Medizin, Jugendhilfe und Pädagogik ist ebenso wagemutig wie selten.

Stephan Leibfried, Lutz Leisering u.a., Zeit der Armut, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1995. – Gleichsam eine programmatische Darstellung der These verzeitlichter und individualisierter Armut. Nebenbei eine profunde historische Skizzierung der Armutsentwicklung und der gesellschaftlichen Armutsbilder in Deutschland.

Jürgen Mansel/Georg Neubauer (Hg.), Armut und soziale Ungleichheit bei Kindern, Verlag Leske und Budrich, Opladen 1998. – Weit gefächerte und fundierte Darstellung der Empirie bundesdeutscher Kinderarmut. Anders als in der Vielzahl ähnlicher (Fach-)Veröffentlichungen der letzten Jahre wird der Zahlenvergleich aber um eine intensive Diskussion sozialpolitischer Folgerungen ergänzt, die vorrangig um eine Emanzipation von Kindern und Jugendlichen aus ihrer ökonomischen und rechtlichen Abhängigkeit kreisen.

Ulrich Otto, Aufwachsen in Armut, Verlag Leske und Budrich, Opladen 1997. – Erfahrungswelten und Lebenslagen von Kinder verarmter Familien werden untersucht. Die Auswirkungen auf Wohnverhältnisse, Gesundheit oder schulischen Erfolg stehen im Mittelpunkt. Bedingt durch die empirisch-soziologische Perspektive bleibt die subjektive Verarbeitung von Erfahrungen des Benachteiligtwerdens unberücksichtigt, die vielleicht die eigentliche Tragödie der Kinderarmut ausmachen.

Horst Petri, Das Drama der Vaterentbehrung, Verlag Herder, Freiburg 1999. – Ohne die vielfach üblichen Schuldzuweisungen und Vereinfachungen werden die psychischen Folgen der "vaterlosen Gesellschaft" für Kinder und Jugendliche beschrieben. Obwohl Aspekte der Einkommensarmut nur am Rande auftauchen, trägt die Lektüre zu einem tieferen Verständnis der aktuellen Kinderarmut bei.

Michael M. Zwick (Hg.), Einmal arm, immer arm?, Campus Verlag, Frankfurt/Main 1994. – Am Beispiel einzelner Sphären neuer Armut (Langzeitsozialhilfe, Ein-Eltern-Familien) wird die These einer Verzeitlichung und Individualisierung von Armutslagen illustriert. Weil manche Autoren diese These vor allem als Einwand gegen die Zweidrittelgesellschaft in Feld führen, bleiben die Anlässe und Ursachen einer Verfestigung von Armutskarrieren allerdings unterbelichtet.

 

 

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe August 2000