Die Grenzen des Diskurses
Anmerkungen zu Jürgen Habermas
Harry Kunz
Das Politische im Sinne Hannah Arendts,
wo Menschen diskursiv eine gemeinsame Interpretation ihrer Ziele
und Perspektiven entwickeln, entkoppelt sich zunehmend vom formellen
staatlichen Sektor der Politik, der als - in diesem Sinne - entpolitisierte
Struktur mit symbolischen und regulativen Funktionen gleichwohl
weiterbesteht.(1) Soziale Kommunikation erhält eine neuartige
Bedeutung in einer Situation, wo in dem Verhältnis von Öffentlichkeit
und Politik ersterer nicht mehr nur eine Zuträgerfunktion
gesellschaftlicher Anliegen zukommt, sondern der Richtungsstreit
innerhalb der gesellschaftlichen Funktionssysteme, die symbolischen
Debatten der medienvermittelten politischen Öffentlichkeit
und das lebenspraktische Auseinandersetzen und Umgehen-Lernen
mit den aus funktionalen Zwängen resultierenden Bedingungen
unseres Lebens mehr und mehr das von der Politik freigesetzte
Politische bilden. Politische Debatten in ihren Möglichkeiten
und Grenzen einzuschätzen, soll nachfolgend in Auseinandersetzung
mit der Diskurstheorie von Jürgen Habermas versucht werden.
Ob es sich etwa um Fragen der Technikentwicklung, der Zukunft
der demokratischen und sozialen Ordnung oder um ökologische
Probleme handelt, allzuoft werden öffentliche Debatten von
der Hoffnung getrieben, ein konsensuelles Einvernehmen in der
Sache oder jedenfalls in Verfahren zur Problemlösung herstellen
zu können. Ist die Hoffnung noch realistisch, daß eine
individualisierte und hochkomplexe Gesellschaft sich kommunikativ
in solchen Fragen noch auf eine eindeutige Wahrnehmung und eine
einzige Problemlösungsstrategie zu einigen vermag, oder liegen
die Chancen gesellschaftlicher Kommunikation gerade in der Entfachung
des Streits zwischen verschiedenen Interpretationen und unterschiedlichen
lebenspraktischen Bewältigungsstrategien der uns bestimmenden
sozialen und ökologischen Zwänge?
Diskurs und Wahrheit
Die Diskurstheorie versucht, Vernunft konsequent als Kommunikation zu bestimmen. Habermas will zeigen, daß sich jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt auf normativ gehaltvolle Voraussetzungen einlassen muß, um in einer auf konsensuelles Einverständnis zielenden Argumentation einen Geltungsanspruch überprüfen zu können. Die Intention auf universale Verständigung und Anerkennung ist demnach mit der Struktur der Sprache selbst gegeben. Alle von diesem Ideal abweichenden Diskurse werden als durch Macht und Herrschaft verzerrte Kommunikationen begriffen. Auch bei moralischen Fragestellungen verlangt der Universalisierungsgrundsatz die Fähigkeit, die Perspektiven aller anderen Betroffenen einzubeziehen, und bestimmt damit den diskursethischen Grundsatz, wonach nur solche Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden könnten. Eine Norm ist nur gültig, wenn sie von der zwanglosen Akzeptanz der voraussichtlichen Ergebnisse und Nebenfolgen getragen wird, die mit einer allgemeinen Befolgung dieser Norm sich ergeben würden.
Solchermaßen zielt die Diskursethik
auf einen Standpunkt, von dem aus moralische Fragen unparteilich
im Hinblick auf eine konsensuelle Beilegung von Handlungskonflikten
beurteilt werden können. Zugunsten dieses Ziels will Habermas
die Diskursethik von allen Fragen des "guten Lebens",
den in seiner Terminologie spezifisch ethischen Fragestellungen,
freihalten, weil Antworten auf diese Fragen immer vom Kontext
einer spezifischen kulturellen Tradition und einer konkreten Weltdeutung
abhängig und damit kontingent seien.
Der unfehlbare Mensch der Diskurstheorie
Habermas vertritt eine radikale Auffassung von Autonomie als absoluter Transparenz und Selbstsetzung, die er in Abwendung vom Kantischen Personenbegriff allerdings als Folge des entschieden als Vergesellschaftung begriffenen Prozesses menschlicher lndividuierung begreift. Identität und Selbstbewußtsein stellen demnach keine dem Subjekt zur Disposition stehenden Phänomene dar, sondern sind an die sprachliche Verständigung mit anderen und die lebensgeschichtlich-intrasubjektive Verständigung mit sich selbst gebunden. Das Selbst, das im Selbstbewußtsein fraglos gegeben scheint, gehört diesem nicht, sondern entsteht und erhält sich nur im Raum der Intersubjektivität. Andererseits begreift Habermas den Kern eines jeden Selbstverständnisses als eine Selbstsetzung aus dem Wunsch, im Leben mit sich identisch zu sein. Wir sind also vorgängig durch die Kontexte bestimmt, in die wir eingewoben sind und eignen uns im individuellen Bildungsprozeß diese Bestimmungen in einem Akt der Selbstwahl an. Die Heteronomie bisherigen Lebens soll durch Reflexion zur Autonomie werden. In diesem Verständnis bedeutet Selbstbestimmung, das Moment der vorgängigen Bestimmung unseres Daseins mehr und mehr aufzuheben.
Selbstbewußtsein wird als eine innerpsychisch verortete Verständigung zwischen verschiedenen Teilen des Selbst begriffen. Dies setzt die vollkommene Sprachlichkeit des Menschen und seiner, die Beziehungen zu anderen Menschen und zu sich selbst leitenden Motive, Begehren und Meinungen voraus. Verzerrte Kommunikation ist demnach inter- und intrasubjektiv ein Ausdruck kontingenter Macht- und Herrschaftsverhältnisse und nicht unhintergehbare Folge menschlicher Endlichkeit. Wird Kommunikation aber nicht schon wegen der prinzipiellen Endlichkeit jedes Gesprächs und dem Zwang, zu handeln, verzerrt? Die Annahme einer idealen, unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft begreift Habermas nicht als eine durch eine unüberwindliche Differenz von jeder realen Kommunikation getrennte, sondern als eine tatsächliche Möglichkeit, deren Realisierung nur geschichtliche Ausformungen von Macht und Herrschaft entgegenstehen. Doch die idealen Diskursbedingungen sind - angesichts der Endlichkeit aller faktischen Argumentationen und der sie prägenden Elemente des Irrtums, des Dissens, des Nichtverstehens und des Konflikts - real unmöglich und können Wahrheit nicht garantieren. Die Diskurstheorie artikuliert das uneinlösbare Versprechen eines völligen intersubjektiven Verständigtseins, einer endgültigen Wahrheit und einer völlig transparenten Vernunft, die sich von ihrer Sprachlichkeit emanzipiert hätte. Ein solcher Wunschgedanke führt zu widersinnigen Konsequenzen. Habermas ist gezwungen, die Sterblichkeit des Menschen und die Unverfügbarkeit des Geborenwerdens zu verleugnen. Wie sollen die genetische Bestimmung unseres Denkens und Fühlens und unser Charakter als jener Horizont, innerhalb dessen überhaupt Erleben und Selbsterfahrung ermöglicht wird, reflexiv angeeignet werden? Bilden die sich jeder willentlichen Aneignung entziehende genetische Disposition und unser Charakter nicht Grenzen jedes Wunsches nach individueller Selbstbestimmung und nach einem kollektiven Verständigtsein? Würde Habermas das so umrissene Phänomen menschlicher Endlichkeit systematisch berücksichtigen, müßte er die Konsequenz ziehen, daß Kommunikationen notwendig gebrochen sind und Herrschaft eine funktionale und unumgängliche Folge endlicher Kommunikation darstellt - auch jenseits der durch knappe Güter vorgegebenen Restriktionen.
Aus dem Konzept einer Individuierung durch Vergesellschaftung folgt für Habermas ferner die Gleichursprünglichkeit der Achtung gegenüber anderen und der Selbstachtung. Ich kann mir demnach selbst keine Wertschätzung als kompetentes Subjekt entgegenbringen, ohne dem anderen das gleiche Vermögen zuzubilligen, sich selbst als ein fähiges Subjekt zu achten. Mit dieser Annahme negiert Habermas aber die in der intersubjektiven Struktur wechselseitiger Anerkennung unhintergehbar begründete Zerbrechlichkeit und Mißstimmigkeit des menschlichen Selbstbildes, das beständig in der Gefahr steht, verkannt und angezweifelt zu werden, weil es auf die Anerkennung durch andere angewiesen ist.(2) Die von Habermas avisierte zwanglose, wechselseitige Anerkennung bildet nur ein seltenes Moment des Glücks. Oft aber wird der andere zu einem bloßen Abarbeitungsgegenstand der eigenen imaginären Projektionen.
Habermas verkennt diese Problematik auch deshalb, weil seine Interpretation der Psycho-Analyse Bedürfnisse und Wünsche als immer schon sprachlich interpretierte versteht. Damit bleibt ihm die grundlegende und unaufhebbare Dimension des Konflikts verschlossen, wo im Übergang vom Primär- zum Sekundärvorgang, in der Differenz von Lust- und Realitätsprinzip, das vorsprachliche Begehren der vorgegebenen Realität und dem ebenfalls begehrenden anderen begegnet. Habermas negiert diesen Konflikt, indem er ihn auf die nur abgeleitete und in der Tat geschichtlich variierende Form der Differenz zwischen sprachlich interpretiertem Bedürfnis und sozialem Verbot reduziert, zu dessen reflexiver "Überwindung" die Diskursethik beitragen soll. Er verleugnet die Einsicht, daß jedes Gespräch und überhaupt alle sozialen Verhältnisse auch durch gegenseitige imaginäre Projektionen und Einbildungen geprägt werden. Mit Jacques Lacan läßt sich ein Diskurs als eine unsichtbare, immaterielle Beziehungsstruktur in und hinter dem Sprechen verstehen, die den Sprechenden ihren Platz zuweist.(3) Demnach geht es in Kommunikationen nie um die bloße Mitteilung von Worten, sondern es erfolgt immer eine Verschiebung verschiedener Beziehungen und Machtverhältnisse zwischen den Diskursteilnehmern. Kommunikation im Sinne einer Interaktion, bei der die Beteiligten ihre Handlungspläne einvernehmlich koordinieren, ist somit jener Spezialfall, wo das Verhältnis der Diskursteilnehmer durch die Orientierung an einem gemeinsamen Gut bestimmt wird. Doch dieser Diskurs bildet nicht die auszeichnende Form kommunikativen Handelns. Er ist - als Grenzfall - eines seiner Modi, der beständig durch die imaginären Ansprüche der beteiligten Subjekte gefährdet ist.
Die Verkennung des Subjekts und der konfliktiven
Struktur der Intersubjektivität prägt auch das Verständnis
der Normgenese. Habermas sieht die Bildung von Normen in Verhaltenserwartungen
von Interaktionspartnern begründet, welche sich im Laufe
des individuellen Sozialisationsprozesses stabilisieren. Wird
das Über-Ich aber allein als Ausdruck der Differenz zwischen
Bedürfnissen und den Restriktionen ihrer Zulassung verstanden,
geht die sprachliche Interpretation eines Bedürfnisses im
Sinne eines zwanghaften Vermittlung mit dem uns immer schon vorgegebenen
und uns prägenden System der Sprache verloren. Habermas übersieht
die hierdurch vor aller Begegnung mit elterlichen oder sozialen
Normen stattfindende charakterprägende, konfliktive Bestimmung
des Kleinkindes, die durch Selbstreflexion nicht aufgelöst
werden kann. Die diese Auseinandersetzung prägenden Konflikte
können lebenslang nicht versöhnt, sondern allenfalls
als uns bestimmende Konflikte anerkannt und gelebt werden.
Die Ohnmacht des Sollens
Ohne den allgemeinen Geltungsanspruch seiner Diskursethik in Frage zu stellen, erkennt Habermas die weitgehende Ohnmacht des moralischen Standpunktes in theoretischen und vor allem in praktischen Fragen an, wo das Handeln nach diskursiv ermittelten Pflichten an spezifische Realisierungsbedingungen geknüpft bleibt: "Soviel ist richtig: jede universalistische Moral ist auf entgegenkommende Lebensformen angewiesen. Sie bedarf einer gewissen Übereinstimmung mit Sozialisations- und Erziehungspraktiken, welche in den Heranwachsenden stark internalisierte Gewissenskontrollen anlegen und verhältnismäßig abstrakte Ich-Identitäten fördern. Eine universalistische Moral bedarf auch einer gewissen Übereinstimmung mit solchen politischen und gesellschaftlichen Institutionen, in denen postkonventionelle Rechts- und Moralvorstellungen bereits verkörpert sind."(4)
Aus der diskursiven Begründung von
Normen und "Wahrheiten" folgt also nicht zwangsläufig
die Verwirklichung dieser Einsichten. In allen bestehenden Gesellschaften
sind die Bedingungen für ein moralisch-rationales Handeln
nicht gegeben, diskursiv gewonnene moralische Einsichten und praktisches
Handeln klaffen auseinander. Handlungskonflikte werden meist nicht
konsensuell, sondern macht- und gewaltförmig beigelegt. Zugleich
muß sich ein an moralischen Imperativen orientiertes Handeln
stets mit konkreten Sachzwängen auseinandersetzen.
Der unpolitische Mensch der Diskurstheorie
Trotzdem hält Habermas an der Idee weltweit ,entgegenkommender` Institutionen fest. Er macht die Tendenz einer zunehmenden Verwirklichung jener Bedingungen, die ein Leben gemäß diskursiv gewonnenen moralischen Einsichten erlauben, an den durch demokratische Rechtsstaaten geprägten, westlichen Kulturen fest. Sein Glaube basiert auf der Annahme, daß einerseits der Kernbereich rechtsstaatlicher, demokratischer Ordnungen durch moralische Normen und allgemein akzeptierte Grundwerte gebildet wird, die Rechtskraft erlangt haben und daß andererseits die Rechtsform jene Defizite ausgleicht, die in komplexen Gesellschaften durch den Zerfall traditioneller Bindungen und festumrissener Vorstellungen von Sittlichkeit entstehen.(5) Die durch das Diskursprinzip zu ermittelnden moralischen Prinzipien bedürfen dabei zu ihrer Transformierung in staatliches Recht des Demokratieprinzips: Durch demokratische und institutionelle Garantien ist sicherzustellen, daß geltendes Recht in einer diskursiven Meinungs- und Willensbildung von allen dem Recht Unterworfenen rational akzeptiert werden könnte. Nur das auf einer gemeinsamen Interpretation basierende Recht dürfe legitim genannt werden.
Diese Argumentation macht indes nicht plausibel, weshalb ein durch die kommunikative Macht einer gemeinsamen Interpretation erzeugtes, legitimes Recht mit universalen Moralprinzipien notwendig in Einklang steht. Denn es sind sehr wohl auch im Sinne des Machtbegriffs von Hannah Arendt, auf die Habermas sich beruft, konsensuelle Interpretationen innerhalb einer Lebensform denkbar, die für Außenstehende existentielle Bedrohungen darstellen und daher von diesen keinesfalls akzeptiert werden können. Denn das Konzept der kommunikativen Macht einer gemeinsamen Interpretation und eines daraus abgeleiteten Handelns setzt die Abgrenzung von anderen Interpretationen und der durch sie begründeten Gemeinschaften voraus. Politisches Handeln ist ja gerade dadurch charakterisiert, daß die handelnden Akteure immer auf andere Handelnde treffen und die Ergebnisse somit immer anders sind, als das, was die Handelnden gewollt oder getan haben.(6) Den inhärenten Zusammenhang zwischen kommunikativer Macht und der Pluralität je gemeinsamer Interpretationen verleugnet Habermas. Er glaubt, daß eine durch das diskurstheoretische Universalisierungsprinzip geprägte kommunikative Macht einerseits jene kontextübergreifende allgemeine moralische Idee erzeuge, die sich in jeder besonderen Lebensweise innerhalb einer Rechtsgemeinsschaft durchhalte und diese als Sozialität trotz und wegen der Pluralität von Lebensweisen und Weltdeutungen zusammenhalte, andererseits diese rechtlichen Grundprinzipien aber jede konkrete Sozialität und Gesellschaft transzendieren, indem sie universale Geltung beanspruchen. Hilfreicher dürfte in diesem Zusammenhang ein Verständnis der europäisch-abendländischen Kultur sein, die deren zentrale Wertorientierungen durch das Paradox eines beispielhaften Allgemeingültigkeitsanspruches geprägt sieht.(7) Demgemäß würde sich etwa unser modernes europäisch-westliches Verständnis der Grundrechte als eine auf die Tradition dieser Kultur bezogene Wertorientierung präsentieren, zu deren Inhalt gerade die Forderung gehört, als allgemeingültiges, moralisches Prinzip aufzutreten.
Sowohl die Fehlbarkeit und Endlichkeit des einzelnen wie die jedes intersubjektiven Diskurses begreift Habermas nach dem Modell verzerrter Kommunikation, denen er sein ideales Modell völliger Transparenz als einer regulativen Idee entgegenhält. Im demokratischen Rechtsstaat verkörpern die Institutionen des Rechts diese regulative Idee. Insbesondere die Verfassung artikuliert demnach in einer pluralistischen Gesellschaft einen Konsens über Verfahren zur Beilegung von Handlungs- und Zielkonflikten. Gemessen am Ideal einer durch Autoreflexion individuell und kollektiv erreichbaren völligen Transparenz und Selbstgewißheit, stellt faktische Politik damit immer nur eine deviante Abart des Ideals dar. Die Annahme einer neben funktionalen Sachzwängen und administrativer Macht letztlich entscheidend normativ erfolgenden Sozialintegration moderner Gegenwartsgesellschaften durch eine diskursive Orientierung auf ein gemeinsames Ziel hin, ist nicht nur apolitisch, weil sie den das Medium politischen Handelns bildenden Streit der Interpretationen verleugnet, sondern steht auch in Widerspruch zu empirischen Befunden und wichtigen sozialtheoretischen Erklärungsansätzen moderner Gegenwartsgesellschaften. So kontrastiert Niklas Luhmann diese Idee mit den Konzepten der Interpenetration von Personen und sozialen Systemen, die sich wechselseitig durchdringen und doch zugleich einander fremd sind, sowie der Inklusion der Individuen in die verschiedenen sozialen Systeme.(8) Demnach ist das Individuum in funktional differenzierten Gesellschaften außerhalb der sozialen Funktionssysteme positioniert, zu denen es jedoch mannigfaltige, das Phänomen der Inklusion umfassende Zugangsmöglichkeiten besitzt. War der Mensch in der ständischen Gesellschaft einer Schicht zugewiesen, so ist der moderne Mensch einerseits aus den sozialen Funktionssystemen von Politik, Recht, Wirtschaft et cetera ausgeschlossen, andererseits als Staatsbürger, Rechtssubjekt oder Verbraucher in diese Systeme eingegliedert. Aus der Sicht der Individuen vergrößert sich damit der optionale Bereich ihres Handelns bis hin zu einem beständigen Zwang zur Wahl ihrer Rollen und zur Verpflichtung, sich situationsabhängig immer neu zu entwerfen. Die funktionalen Sozialsysteme fördern so gleichzeitig Individualisierung, indem sie an individuelles Entscheidungshandeln gebunden sind und Standardisierung, weil sie nur Optionalität innerhalb eines eng umgrenzten Rahmens zulassen.
Habermas hofft demgegenüber, daß
mit einer weiteren Rationalisierung der Lebenswelt die
Chance einer idealen - unter den Bedingungen der technologischen
Zivilisation und eines endlichen Menschen aber real unmöglichen
- Individuierung durch Vergesellschaftung eröffnet wird,
die auf Basis neuer herrschaftsfreier Kommunikationsformen Individuierung
nicht auf eine Freisetzung aus traditionalen Bindungen reduziert.
Dieser letztlich paradoxe Gedanke meint, daß das Wissen,
wonach es keine gesicherten Grundlagen möglicher moralischer
Geltung gibt, einerseits vermehrt gesellschaftlich wirksam wird
und daß andererseits doch ein Netz tragender Gemeinsamkeiten
mit den Mitteln einer kommunikativen Praxis gesichert werden kann.
Der Ausschluß der anderen
Zu der Annahme eines kommunikativ immer
wieder zu erneuernden, gemeinsamen normativen Kerns auch moderner
Gesellschaften macht Habermas allerdings eine wichtige Einschränkung.
Denn er insistiert auf den Ausschluß bestimmter, nämlich
allen totale Geltung beanspruchenden Weltentwürfen aus der
Kommunikationsgemeinschaft. Nur solche Weltauslegungen haben einen
gemeinsamen Kern, für die das Wissen um die Pluralität
von Weltdeutungen konstitutiv ist. Die Anwendung des Diskursprinzips
setzt Argumentationsteilnehmer voraus, die eine Beobachterposition
gegenüber der eigenen Lebensweise und Weltdeutung einnehmen
und diese zu anderen Deutungen in Beziehung setzen können.
Totalitäre, fundamentalistische Weltentwürfe, die einen
alleinigen Wahrheitsanspruch proklamieren und diesen gegen alle
anderen durchsetzen wollen, sind mit seinem Gerechtigkeitskonzept
nicht vereinbar. Diese Fixierung auf nur ein Gültigkeit beanspruchendes
Welt- und Selbstbild des Menschen durch Habermas steht aber selbst
in der von ihm als Fundamentalismus bezeichneten Gefahr der Verabsolutierung
einer Interpretation, die eine Allgemeingültigkeit beanspruchende
,Wahrheit` zu entwerfen versucht. Wer sich dieser widersetzt,
muß "als dement oder als kriminell - oder als beides
angesehen werden (...) und folglich auch so behandelt werden."
(E. Vollrath) Die Überzogenheit der Hoffnung auf den Diskurs
zwingt somit da, wo die schonungslose Diskussion am erforderlichsten
wäre, zum Abbruch des Diskurses und steht solchermaßen
mit dem absolut gesetzten Anspruch seiner Gültigkeit in der
Gefahr der Selbstzerstörung des eigenen Anliegens. Welchen
Sinn hätten in einer Welt ohne "Fundamentalisten",
wo alle Menschen letztlich einer liberalen Meinung wären,
beispielsweise noch die liberalen Anliegen von Meinungsvielfalt
und Redefreiheit?
Recht und Moral
Indem Habermas staatliches Recht diskurstheoretisch zu begründen sucht, fundiert er das Recht in bestimmten, nämlich den liberalen Werten. Gleichzeitig hält er mit der These, daß modernes Recht vorrangig das Ziel habe, eine Materie im gleichmäßigen Interessen aller zu regeln, an der Annahme fest, daß auch die Rechtsordnungen moderner Gesellschaften auf allgemeine Güter bezogen bleiben. Der in alle konkreten Rechtsfragen gesuchte kleinste gemeinsame Nenner zwischen unterschiedlichen Wertpräferenzen ergibt sich für Habermas aus den diskursethischen Kommunikationsvoraussetzungen und damit aus außerrechtlichen Wertpräferenzen und nicht aus einer weitgehenden Autonomie des Rechtssystems, welches durch Anwendung situationsspezifischer Abwägungen sich um "Anschlußrationalität" (N. Luhmann) an die Vielfalt der Wertpräferenzen bemüht, die innerhalb einer Gesellschaft bestehen.(9)
Ein Verständnis der Fundierung der staatlichen Ordnung und des Rechts in außerrechtlichen Werten, wozu eben auch die diskursethische Orientierung an einem gemeinsamem Gut zählt, kann aber Minderheiten, die von den herrschenden Moralvorstellungen abweichen, nicht mehr wirksam schützen. Eine Fundierung des Rechts in einer als Wert begriffenen liberalen Idee zerstört einerseits den liberalen Grundgedanken, wonach ein pluralistisch verfaßter Staat auf die gewaltförmige Durchsetzung seiner religiösen und weltanschaulichen Voraussetzungen verzichten muß. Entsprechend muß ein so fundiertes Recht von Angehörigen abweichender Weltanschauungen als Instrument der Unterdrückung wahrgenommen werden. Andererseits gefährdet diese Position gerade den in seinem formalen Charakter beruhenden Vorteil des Rechts als eines abstrakten, dekontextualisierten und starren Verfahrens für die Schwächeren und Machtlosen. Werden Konflikte durch ein unmittelbar wertgebundenes oder ein aus dem diskursethischem Procedere hervorgehendes Recht geregelt, so würde das Recht zum Spielball der je herrschenden öffentlichen Meinung degradiert und könnten alternative Interpretationen nicht mehr durch das Recht geschützt werden.
Zielt das Recht hingegen auf eine bloße Legitimation durch Verfahren, geht es ihm vorrangig darum, Konfliktthemen zu abstrahieren, sie ihrer lebensweltlichen Relevanz zu entkleiden und sie in prozedurale Mechanismen einzubetten, um sie zu entschärfen. Die Verbindlichkeit des Rechts kann in dieser Perspektive auch aus einer diskursiv ermittelten Übereinstimmung resultieren, sie basiert aber eben nicht notwendig auf einer allgemein nachvollziehbaren Begründung.
Rechtsnormen sind nicht zwangsläufig an rational motivierte Verständigungsprozesse gebunden.
Ein derartiges Modell macht plausibel, daß
die soziale Integration moderner Gesellschaften kein letztes Einverständnis
voraussetzen und selbst jene nicht ausgrenzen muß, die sich
erklärtermaßen als Feinde der Gesellschaft begreifen.
Ein normativer Begriff des Politischen oder der öffentlichen
Auseinandersetzung ist daher nicht am real unmöglichen Ziel
des Konsenses, sondern an der Suche nach Formen einer minimalen
Verständigung zu orientieren, die eine Unterschiedlichkeit
der Positionen und das Zur-Sprache-Kommen dieser Unterschiedlichkeit
zulassen sowie unterschiedliche Wege der Bewältigung jener
Herausforderungen eröffnen, die uns alle betreffen.
1
Vgl. zum Verhältnis von Politik und dem Politischen: E. Vollrath, Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen, Würzburg (1987), 29-72; Th. Meyer, Die Transformation des Politischen, Frankfurt/Main (1994).
2
Vgl. hierzu P. Ricoeur: "(...) eine auf Glaubhaftigkeit beruhende Hochschätzung kann sich mehr als alles andere irren: weil er geglaubt wird, kann der Wert des Ich geheuchelt, vorgetäuscht, aufgeredet sein; er kann auch verkannt, angefochten und angefeindet sein; und auch mißachtet, erniedrigt, herabgewürdigt, gedemütigt; und wenn er, mit Recht oder Unrecht, verkannt wird, kann der Mangel an Hochschätzung durch Selbstüberschätzung oder durch Mißachtung des andern und seiner Werte kompensiert werden; Aggressivität, Vergeltung, Groll, Rache sind ebenfalls Antworten auf die Verkennung, die ich selbst nur durch das Heischen nach Anerkennung verstehe." (P. Ricoeur, Die Fehlbarkeit des Menschen, Freiburg/München (1989), 163.
3
Vgl. zum Diskursbegriff bei Lacan: A. Lipowatz, Diskurs und Macht. Jacques Lacans Begriff des Diskurses, Marburg (1982), 123 ff.
4
J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, a. a. 0., 25.
5
ebda., 98; ders., Faktizität und Geltung, a. a. O., 145.
6
"Die Grenze der Macht liegt nicht in ihr selbst, sondern in der gleichzeitigen Existenz anderer Machtgruppen, also in dem Vorhandensein von Anderen, die außerhalb des eigenen Machtbereichs stehen und selber Macht entwickeln. Diese Begrenztheit von Macht durch Pluralität ist nicht zufällig, weil ihre Grundvoraussetzung ja von vorneherein eben diese Pluralität ist." (H. Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München, Zürich (1987), 195.
7
Vgl. hierzu: J. Derrida, Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, Frankfurt/Main (1992).
8
N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main (1988), 286-325; J. Habermas, Individuierung durch Vergesellschhaftung, a. a. 0., 234 ff.
9
"Eine an Prinzipien orientierte Rechtssprechung
hat darüber zu befinden, welcher Anspruch und welche Handlung
in einem gegebenen Konflikt rechtens ist - und nicht über
die Ausbalanzierung von Gütern und über die Relationierung
von Werten." (J. Habermas, Faktizität und Geltung, a.
a. 0., 317.)
Literatur:
Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. (Suhrkamp Verlag) 19889
ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. (Suhrkamp Verlag) 19831
ders., lndividuierung durch Vergesellschaftung, in: ders., Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. (Suhrkamp Verlag) 1988
ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/M. (Suhrkamp Verlag) 1991
ders., Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des deutschen Rechtsstaates, Frankfurt/M. (Suhrkamp Verlag) 19944
Alfred Kessler, Identität und Kritik. Zu Habermas' Interpretation des psychoanalytischen Prozesses, Würzburg (Verlag Königshausen & Neumann) 1983
Paul Ricoeur, Die Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld 1., Freiburg/München (Verlag K. Alber) 19892
Ernst Vollrath, Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen, Würzburg (Verlag Königshausen & Neumann) 1987