Zahnlose Zeit und Leben in die Breite

Ein Gespräch mit dem niederländischen Schriftsteller A. F. Th. van der Heijden

Wilfried W. Meyer

Mijnheer van der Heijden, im Jahre 1978 betrat ein gewisser Patrizio Canaponi mit einem Erzählungenband die literarische Bühne der Niederlande, im Jahr darauf folgte ein Roman, zwei preisgekrönte Bücher, die sich mit der Identitätsthematik beschäftigten. Dann, 1983, wurde aus Patrizio Canaponi auf einmal A. F. Th. van der Heijden, der auch anders schrieb, systematischer, methodischer, jemand, der zu einem echten Oeuvre-Schreiber werden sollte. Was waren die Gründe für diese Veränderung?

1978, als der Debütband von Canaponi erschien, war ich noch in dem Glauben, daß man als Schriftsteller nicht nur neue Charaktere, sondern auch Schriftstellergestalten kreieren müsse. Ich wollte bescheiden anfangen und dachte an zwei Schriftstellergestalten, die ich vielleicht auch gegeneinander würde ausspielen können, indem ich zu zwei verschiedenen Verlegern ginge. Die eine Person war also Patrizio Canaponi, ein halber Italiener, der ein wenig mediterranes Licht in seine Bücher brachte, und der zweite sollte Albert Egberts sein, eine Art holländischer Antipode von Canaponi. Albert Egberts ist dann die Hauptfigur der Zahnlosen Zeit [Prolog, Teil I und II] geworden. Doch am Anfang war es eine Schriftstellergestalt, deren Name genau wie Patrizio Canaponi auf den Buchumschlag gekommen wäre, wenn ich nicht Schwierigkeiten mit meiner eigenen Eitelkeit bekommen hätte. Denn zu einem bestimmten Zeitpunkt hatte ich die Möglichkeit, das erste Canaponi-Buch Een gondel in de Herengracht [Eine Gondel in der Herengracht] zu publizieren. Und da wollte ich mich gedruckt sehen. Das aber hieß, daß meine Mystifikation namens Canaponi keine Gegenfigur hatte. Es hätte zur selben Zeit auch Albert Egberts auf der Bühne erscheinen müssen. Dann hätte ich mich selbst wirklich aufgeteilt in den einen und in den anderen. Und nun wurde ich mit Canaponi identifiziert. Es ist also eine Folge der Eitelkeit gewesen, die einen überkommt, wenn man die Chance erhält zu publizieren.

Aber gab es da nicht auch Korrespendenzen zwischen dieser individuellen Entwicklung und einem gewissen Wandel in der niederländischen Literatur zu einem neuen, vielleicht könnte man sagen: postmodernen Realismus seit Beginn der achtziger Jahre?

Ja, aber dann sprechen Sie schon von der Schriftstellergestalt, die danach kam, und das war einfach A. F. Th. van der Heijden. Ende der siebziger Jahre hatten wir in den Niederlanden etwas, was damals nicht gerade populär, aber doch im Aufschwung war, nämlich die "Revisor-Prosa", wie wir sie nach der Zeitschrift Revisor nannten, um die sich eine Reihe von Autoren gruppiert hatte. Ich fühlte mich durchaus ermutigt dadurch, womöglich hätte es Patrizio Canaponi nie gegeben ohne so etwas wie die "Revisor-Prosa". Das war eine sehr stark durchkomponierte, überaus konstruierte Prosa, in der eine Erzählung eher "behandelt" wurde, wie sie das damals nannten, eher behandelt, eher analysiert als einfach nur erzählt. Und von der "Revisor-Zeit" habe ich mich dann auch ein wenig erholen müssen, um ehrlich zu sein. Angesichts der Überkonstruiertheit dessen, was da entstand, weiß ich nicht, ob ich mich darin noch wirklich wiedererfinden kann. Ich bin zwar froh, daß ich das alles gemacht habe damals, aber wir sind allesamt wieder abgekommen von dieser überkonstruierten Prosa, bei der es überhaupt keine Rolle mehr spielte, was man erzählte, sondern nur noch wie man es erzählte.

Seither ist jedenfalls eine Art Erneuerung in der niederländischen Literatur zu beobachten, und das Interesse im Ausland, besonders in Deutschland, ist groß. Während bei Ihnen jedoch auffallend viele historische Erzählungen und Romane geschrieben und auch übersetzt werden, zumal ins Deutsche - P. F. Thomése, Margriet de Moor, Nelleke Noordervliet, Thomas Rosenboom und andere -, haben Sie selbst sich seit 1983 ganz einem Roman-Zyklus mit sehr engem Gegenwartsbezug gewidmet. Dieses Projekt beschäfigt sich vor allem mit den siebziger und achtziger Jahren, und Sie nannten es die "Zahnlose Zeit". Was ist das Faszinierende an einer "zahnlosen Zeit", um sich über so viele Jahre daran festzubeißen.

Ich habe nichts gegen historische Romane, aber ich denke, die Zeit, in der man selbst lebt und gelebt hat, seine eigene Zeit, kennt man eben am besten. Wenn man einen Roman in eine Zeit situiert, die man selbst nicht mitgemacht hat, oder in ein Land, in dem man nie war, ist man auf dokumentarisches Material angewiesen, und dann hat es doch immer was Papiernes. Also ich hoffte, daß es weniger blutleer sein würde, daß es authentischer wirken würde, wenn es in meiner Zeit spielte, das ist der Grund dafür. Manche Gegner wettern zwar manchmal, ich wolle unbedingt ein Chronist meiner Zeit sein. Das aber ist nie meine Absicht gewesen. In erster Linie geht es mir doch um die Psychologie einer Reihe von Figuren, um ihr philosophisches Weltbild.

Vielleicht kann man von Zeitromanen sprechen, Der Anwalt der Hähne etwa vermittelt da ja in besonderem Maße ein panoramatisches Bild.

Nun, dagegen habe ich nichts. Die Tatsache, daß Der Anwalt der Hähne auch als ein Zeitroman gilt, als ein Bild davon, wie es in Amsterdam damals, 1985/86, zuging, das finde ich eine hübsche Zugabe. In erster Linie ging es mir jedoch um die Psychologie des Anwalts, dieser absolut tüchtige Mann, der einmal im Jahr vor der Trunksucht und einer Art Glückssucherei in der Stadt kapituliert. Das war etwas, was ich ausarbeiten wollte. Daß es ein Ereignis aus der Geschichte Amsterdams ist, das ihn schließlich zu Fall bringt, kam für mich erst an zweiter Stelle.

Aber wieso "Zahnlose Zeit" und woher dieses Festbeißen?

Ursprünglich war die "Zahnlose Zeit" für mich eine Periode zu Beginn der siebziger Jahre. Ich studierte damals Philosophie in Nijmegen, und das einzige, was ich dort hörte, war, daß die Revolution gerade um die Ecke verschwunden war. Es gab 1966 Amsterdam und die Provos, 1968 den Mai in Paris, und auf einmal ging jeder wieder brav studieren. Und es gab eine Art braven Marxismus an der Universität von Nijmegen. Aber die wirklich revolutionären Jahre, die lagen schon zurück, und ich hatte in etwa das Gefühl, zu spät gekommen zu sein, alles ist jetzt wieder sehr zahm, sehr lahm. Kurzum es war eine Zeit, die ihre Zähne nicht zeigte. Das also wäre die sehr wortgetreue Wiedergabe dessen, was ich unter "Zahnloser Zeit" verstehe. Aber so einen Titel setzt man natürlich nicht von ungefähr über eine ganze Romanserie, es muß also noch mehr dahinterstecken. Und für mich bedeutet "Zahnlose Zeit" auch "Leben in die Breite", wovon Albert Egberts immer spricht: Wir kennen die Redewendung vom "Zahn der Zeit", der an allem nagt. Und Albert Egberts will in erster Linie eine Art persönliche Philosophie entwerfen, mit der er der Zeit zu Leibe gehen kann, mit der er der Zeit die Zähne aus dem Maul schlagen kann, so daß er dadurch nicht mehr angetastet wird. Und das finde ich eigentlich die wichtigere Erklärung für Zahnlose Zeit.

Geht es in Ihren Büchern, vor allen in den ersten Teilen der Zahnlosen Zeit, nicht ebenso sehr um die schreibende Verarbeitung schmerzlicher Jugenderfahrungen?

Ja, natürlich. Vallende ouders [Fallende Eltern, Teil I der Zahnlosen Zeit] (1983) und De gevarendriehoek [Das Gefahrendreieck, Teil II] (1985), diese Bücher hätten nicht diese Form bekommen, wenn ich nicht das Arbeitermilieu im Süden der Niederlande gründlich gekannt hätte. Und da kommen wir dann doch wieder auf die "Zahnlose Zeit" zu Beginn der siebziger Jahre in Nijmegen zurück. Jeder erwartete von mir, daß ich überzeugter Marxist wäre, weil ich aus dem Arbeitermilieu kam. Aber nein, die Reiche-Leute-Kinder, die da studierten, die aus wohlhabendem katholischem Milieu kamen, das waren die überzeugten Marxisten, und ich gerade nicht. Ich bin in meiner Jugend nur Menschen begegnet, die höher hinauswollten, die mehr Geld verdienen wollten, und das ganz sicher nicht über den Klassenkampf. Das also ist mein großes Dilemma gewesen. Ich ging nach Nijmegen, um Philosophie zu studieren, nicht um etwas über marxistische Ökonomie zu lernen, sondern gerade um Probleme zu betrachten, die tiefer saßen als das Portemonnaie.

Ihr Zyklus der "Zahnlosen Zeit" zeigt unter anderem, wie die Protestbewegungen der früheren Jahren von der Straße in die behördlichen und juristischen Mühlen gedrängt und quasi auf ein totes Gleis geschoben werden, vor allem in Der Anwalt der Hähne. Hat das auch etwas von einer gesellschaftlicher Anklage gegen staatliches Handeln, das mit allen erdenklichen Mitteln versucht, eigene Verantwortlichkeiten unter den Teppich zu kehren?

Sicher. Der Anwalt der Hähne ist dafür ein deutliches Beispiel. Ich habe das Buch zwar nicht in erster Linie als Anklage geschrieben, aber am Schluß lasse ich den Bürgermeister von Amsterdam, den Polizeipräsidenten von Amsterdam und auch den Justizminister zurücktreten. Und damit will ich doch ein wenig andeuten, daß im wirklichen Fall, in dem Fall, den wir 1985 hier tatsächlich erlebt haben, nämlich daß der junge Kraker Hans Kok in einer Polizeizelle krepiert ist, die politisch Verantwortlichen tatsächlich hätten zurücktreten müssen. Der Fall Hans Kok ist ein einziger großer Vertuschungsfall gewesen. Ich habe noch ein bißchen draufgelegt, weil man in einem Roman stets übertreiben darf. Dadurch ist es ein durchaus moralistischer Roman geworden.

Zwischen Ihnen und Ihren Figuren bleibt aber stets ein gewisses Maß an Verständnis spürbar, selbst dann, wenn sie sich unsympathisch verhalten wie zum Beispiel der Anwalt Quispel mit dem Versuch, seine Reputation auch auf Kosten des eigenen Mandanten zu wahren. Woher rührt dieses innige Verhältnis zu Ihren Figuren?

Man kann anhand von so einer Figur wie Quispel, der mitten im Leben steht, der ein engagierter Anwalt ist oder gewesen ist, studieren, was in der Gesellschaft falsch ist. Aber ich versuche, über Romancharaktere auch einer Wahrheit über mich selbst auf die Spur zu kommen, so wie bei Quispel mit seiner irrsinnigen Form von Quartalstrinkerei. Ich selbst bin nie ein Quartalstrinker gewesen, aber ich habe wohl schon mal bei mir selbst festgestellt, daß ich so alle zwei Jahre eine vollkommen irrsinnige, glückselige Periode durchmachte, daß ich absolut nicht zu Hause bleiben konnte, in der Stadt lebte, von Taxistand zu Taxistand, überall gleichzeitig sein wollte. Ich habe damals schon gedacht, das muß ich irgendwann zu Papier bringen, in einer weniger glückseligen Zeit muß ich das studieren, was das denn eigentlich ist im Menschen, und in mir im besonderen, diese Art von irrsinniger Glückssucherei. Das ist auch einer der Gründe dafür, warum ich diesen Quispel ersonnen habe. Ja, ich habe also das Gesellschaftliche, das eher allgemeine Zeitgeschehen gekoppelt an etwas ganz Persönliches, dem ich in mir selbst auf die Spur kommen wollte, was ich in mir selbst studieren wollte. So bin ich selbst mein eigenes und wichtigstes Material, mein Leben ist mein wichtigstes Material, meine wichtigste Hilfsquelle.

Albert Egberts, den deutschen Lesern nur als Nebenfigur aus Der Widerborst und Der Anwalt der Hähne bekannt, und der Quartalstrinker Ernst Quispel, dessen Schicksal sowohl die niederländischen als auch die deutschen Leser und Kritiker mitgerissen hat, ragen aus Ihrem Romanzyklus besonders hervor. Beide sind looser, Egberts ein Drogenabhängiger, der keinen Zugang zur Welt finden kann und sein Leben nicht in den Griff bekommt, Quispel ein Yuppie, der sich nach einer Zeit des sozialen Engagement schließlich doch für den neuen Materialismus entschieden hat und an seinem Privat-Anarchismus zugrundegeht. Könnte man sagen, daß Sie in diesen beiden Figuren gewissermaßen zwei Prototypen der siebziger und achtziger Jahre darstellen wollten?

Ja, sie sind für mich gesellschaftliche Prototypen, aber vielleicht auch so etwas wie Schalen oder - wie soll ich sagen - Ausdrucksformen ein und derselben Person, die ich bin. Wenn es zwei Figuren gibt, in die ich mich in diesem Romanzyklus aufgeteilt habe, dann sind das Ernst Quispel und Albert Egberts. Einerseits liegen sie dicht beieinander, gleichen sie einander wie Zwillingsbrüder oder Doppelgänger, aber in wichtigen Bereichen verkörpern sie auch ihr Gegenteil: Quispel, der 49 Wochen im Jahr ein ordentlicher Anwalt und Ehemann ist und drei Wochen im Jahr in etwas hineingerissen wird, wohin er sich selbst nicht folgen kann. Und Albert Egberts, der 49 Wochen im Jahr draufloslebt und sein Leben verdampfen läßt, es der Länge sich entrollen läßt, und der drei Wochen im Jahr sich einem Ideal annähert, das er "Leben in die Breite" nennt. Darin verkörpern sie ihr Gegenteil. Aber sie sind sich auch sehr ähnlich. Und wenn wir dann Teil III hinzunehmen, wo dem Bildhauer Flix aus den früheren Büchern eine große Rolle zufällt - er ist hier jemand, der den Realismus in der Kunst so auf die Spitze treibt, daß es zum Tode führt -, dann denke ich, da ist auch eine Aufspaltung von mir, das ist auch etwas, was ich in mir selbst studieren wollte: Wie weit will man mit dem Realismus in der Kunst gehen und wie idealistisch, in philosophischem Sinne, ist man selbst? Das Studieren dessen, was ich in mir selbst habe, geht also über mehr Charaktere als nur die zwei, von denen wir zunächst sprachen.

Eine der auffallendsten Konstanten in der "Zahnlosen Zeit" ist die Abhängigkeit der Romanfiguren von Drogen, von Alkohol, oder auch vom Geschwindigkeitsrausch, etwa bei Robby Egberts, der Hauptfigur in Der Widerborst. Wieso diese Vorliebe für Süchte? Gibt es ohne sie keine "Leben in die Breite"?

Das schönste Instrument, das der Mensch bei seiner Geburt mitbekommt, das schönste Instrument, womit Gott ihn bedacht hat, ist sein Geist. Warum dieser Geist dennoch von Zeit zu Zeit quasi auf Sparflamme gesetzt werden muß, warum er betäubt werden muß, warum eine Sonnenbrille darübergestülpt werden muß über die schönen hellen Leuchten, die wir in unserem Kopf haben - das fasziniert mich, warum das so ist. Ich habe keine Lösung, aber es muß damit zu tun haben, daß das Licht nicht immerzu mit gleicher Helligkeit weiterstrahlen kann, weil uns das tödlich ermüden würde, weil es uns nicht nur den Genuß des Denkens schenkt, sondern uns auch Wahrheiten unter die Nase reiben kann, die wir nicht ständig wissen wollen. Menschen waren immer damit beschäftigt, Dinge für sich zu finden, mit denen sie ihren Geist ein wenig betäuben und dämpfen können.

Gegen Ende von Der Anwalt der Hähne kommt es zu einer auffallend gegenläufigen Entwicklung: Anwalt Quispel gibt sich der ganz normalen Trunksucht hin, einem langsamen Selbstmord, aber die Nebenfigur in diesem Buch, der einstige Drogenabhängige Albert Egberts steht auf einmal als gefeierter Bühnenautor im Rampenlicht. Schreiben also als ein neuer Ausweg, als ein Mittel, um ein "Leben in die Breite" leben zu können?

Das Schreiben von Albert Egberts hat doch etwas von einem Kompromiß. Schon in Vallende ouders sagt er: "Wenn ich Gedichte schreiben will, dann stehen da sehr unbeholfene kleine Prosasätze untereinander, und wenn ich Prosa schreiben will, befinde ich mich in kürzester Zeit wieder in der Höhle der Poesie". Er weiß es also nicht, er kann sich zwischen Prosa und Lyrik nicht entscheiden. Erst später, als er wegen seines Anschlags auf einen Neofaschisten im Gefängnis landet, lernt er das Stückeschreiben kennen. Stücke schreiben - das macht einer, der sich nicht entscheiden kann zwischen Lyrik und Prosa. Eigentlich handelt es sich also um einen Kompromiß. Wie sehr er auch als Bühnenautor und Librettist im Rampenlicht steht, er ist dennoch ein gescheiterter Schriftsteller, weil er es nie gewagt hat, sich zwischen Lyrik und Prosa oder für beides zu entscheiden, nein, er hat eine Art praktisches Textgenre gewählt, so sehe ich das wenigstens. Aber ich denke, daß ich in ihm auch die Neugier darauf studiert habe, wie beispielsweise mein Leben hätte aussehen können, wenn ich nicht Schriftsteller geworden wäre.

Es gibt eine Formulierung von Ihnen, die vielleicht recht gut Ihre Auffassung vom Verhältnis zwischen Realität und Literatur wiedergibt. Es heißt dort, "daß man alles, was einem an Erbärmlichkeit und Gemeinheit auf seinem Weg begegnet, [...] im nachhinein umschmieden, umschmelzen können muß in etwas Schönes, das gleichzeitig - verstärkt - die Erinnerung an den Schrecken in sich birgt". Könnte man das, gewissermaßen in einer Nußschale, als Ihr poetologisches Credo betrachten?

Ja, das wird durchaus häufiger in poetologischem Sinn zitiert. Und dann muß ich immer wieder ein bißchen lächeln, wenn ich an die pure Intuition und Spontaneität denke, mit der mir diese Äußerung mal in den Kopf kam. So etwas kommt immer durch die Hintertür, plötzlich, man wirft es aufs Papier, dann steht es da und wird ständig für oder gegen einen verwendet. Aber gut, vielleicht ist das doch die Essenz.

Mijnheer van der Heijden, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

(Aus dem Niederländischen von Wilfried W. Meyer)

Von Adrianus Franciscus Theodorus van der Heijden (Jg. 1951) sind in deutscher Übersetzung (Helga van Beuningen) der Roman Ein Tag, ein Leben (1988), die Erzählung Der Widerborst (1993) und zuletzt der bei uns mehr noch als in den Niederlanden gefeierte Roman Der Anwalt der Hähne (1995) erschienen (alle bei Suhrkamp). Letzterer gehört als Teil IV, Der Widerborst als "Intermezzo" zum inzwischen siebenbändigen Zyklus der "Zahnlosen Zeit", in dem Van der Heijden ein panoramatisches Bild seiner Generation entwirft. In den ersten Bänden, bevor Ernst Quispel als "Anwalt der Hähne" auf seiner wodkaselige und pflichtvergessene Glückssuche durch Amsterdam streift, steht vor allem der Junkie Albert Egberts mit seiner Sehnsucht nach einem "Leben in die Breite" im Mittelpunkt der "Zahnlosen Zeit": Es ist die Sehnsucht nach einem Leben, das nicht nur linear aufeinanderfolgende Momente kennt, sondern sich zu einem einzigen ausgedehnten Moment synchroner Wahrnehmung und intensiver Bewußtwerdung verdichtet. Eine Variante erzählt Der Widerborst: Der junge Geschwindigkeitsmaniak Robby Egberts, Alberts Neffe, ist besessen vom poetischen Mißverständnis der Einsteinschen Relativitätsformel E = mc und fährt sich in dem Bemühen, immer lichter, nämlich dem Licht ähnlicher zu werden, zu Tode. Als märchenhafte Allegorie auf die "Zahnlose Zeit" kann der nicht zum Zyklus gehörende Roman Ein Tag, ein Leben gelesen werden: Van der Heijden schildert darin eine Art Himmel, in dem das Leben der Menschen frei von Wiederholungen und die Lebenszeit auf einen Tag komprimiert sind. Doch "alle Lust will Ewigkeit" (Nietzsche), und die beiden Liebenden in diesem Buch ziehen die irdische Hölle vor, wo - "L'enfer c'est la répétition" (Ionesco) - dann doch nicht mehr bleibt als bloß die Erinnerung an das Glück.

W. M.