Die Ostlichterkette

39. Kerze - Die Trappe

Wilhelm Pauli

Dumm ist sie nicht, die Trappe, sagt Frau Litzbarski von der Naturschutzstation und schaut etwas traurig in die Vitrinen mit den ausgestopften verunfallten Exemplaren. Aber wohl etwas pummelig. Vor allem der Trappenhahn, der, mit bis zu 16 Kilogramm, Rehbockgewicht zwischen die Flügel bringt, hat's nicht leicht, in der Luft abzubremsen oder die Kurve zu kratzen. Und so knallen die schwersten flugfähigen Vögel der Welt vor allem nachts und im Nebel oder wenn sie in Panik geraten immer mal wieder gegen Hochspannungsmasten und -leitungen. Tragische Verluste. Doch ist das bei weitem nicht das größte Problem einer der letzten Großtrappen-Kolonien. In Rußland hat sich die Zahl der Tiere in den 80ern auf etwa 4.000 halbiert. Restpopulationen gibt es noch in Bulgarien, vielleicht in Jugoslawien - vielleicht auch nicht, vielleicht in Rumänien - eher nicht, in Polen gibt es keine mehr, in Westdeutschland seit gut hundert Jahren keine, keine in Frankreich, Spanien hat einen Bestand von etwa 17.000 Tieren, noch, weil nun auch da in den armen Gebieten traditioneller Landwirtschaft, in denen die Trappe sich wohlfühlt, aufgeräumt werden soll, Portugal von knapp 500, Österreich von knapp über 60 Tieren, unter zwanzig in der Slowakei, in Tschechien keine mehr, Ungarn noch 1000. Hier, im Osten Deutschlands, 1940 etwa 4.000, 1960 2.000, 1970 800, 1980 500 - und von da an ständiger Rückgang, so daß in Brandenburg und Mecklenburg vielleicht noch einhundert Tiere übrig sind. Es handelt sich also um einen, wenn auch zeitversetzten Generalangriff auf die vor Jahrhunderten gelegentlich wegen gefräßiger Zusammenrottung als Plagegeist empfundene und bejagte Großtrappe, der in alten Kochbüchern ein profunder Wohlgeschmack bescheinigt wird.

Hier um Buckow (bei Nennhausen), nahe Rathenow, sind die Ursachen des Untergangs gut untersucht und dokumentiert. Im Mittelalter trottelte die Großtrappe mit dicken Waden aus den Steppenräumen dem rodenden Menschen hinterher. Vor zweihundertsechzig Jahren hatte der Holländer das Niedermoor des Havelländischen Luches sanft etwa zwanzig Zentimeter tief entwässert. Auf Buckows Kirchtürmchen kräht kein Hahn, da kiemt ein Fisch. Die Bauern hatten hier im Frühjahr, wenn die Havel und ihre Kanäle anschwollen, das Fischereirecht auf den Wiesen. Das Nebeneinander von Trocken- und Feuchtgebieten, die lichte Bewaldung und die traditionelle Fruchtfolge auf den kleinen Äckern konvenierte den Trappen. Über der vielfältigen Kulturlandschaft standen fette Insekten, 180 Pflanzenarten auf dem Dauergrünland. Mit der Erfindung der LPGs und der Bodenreform ging's dahin. Riesige Einschläge, Felder von bis zu 120 Hektar, industriell bewirtschaftet, dazu notwendige Tiefenentwässerung bis einsvierzig, monokulturelle Bepflanzung, hohe und immer höhere, letztlich doch unprofitable Stickstoffeinträge, in der Folge gänzlich denaturierter Boden, Einsatz von Breitbandpestiziden, ruinierte Insektenwelt. Zwanzig Pflanzenarten überlebten. In der Brutzeit werden die Hennen vom Gelege gezwungen oder mit ihm zerfahren, die Trappenküken, die überleben, müssen verhungern. Sie brauchen in den ersten Lebenstagen, da sie gewaltig an Gewicht zulegen, große Mengen Insekten. Die Nahrung erwachsener Trappen besteht bis zu 95 Prozent aus Pflanzlichem, aber der Blinddarm der Kleinen ist noch unterentwickelt, und sie können das Grünzeug nicht verwerten. Doch auf den Saatgrasflächen lebt nur eine heruntergekommene Population von Einheitsfliegen. Heuschrecken, Libellen, Hummeln fehlen. Nur ein Fünftel der nötigen Insektenmenge ist vorrätig. Und im verfilzten Wuchs der Saatgrasflächen kann die kleine Trappe der Henne nicht folgen. Das allgemeine Elend industriell betriebener Landwirtschaft wurde speziell den Großtrappen zum Verhängnis.

Seit 1978 arbeitet man hier in Buckows Naturschutzstation an der Rettung der Trappen. Bis Ende der achtziger Jahre mußte man sich damit begnügen, die Gelege abzusammeln, auszubrüten, die Kücken aufzuziehen und nach einigen Monaten auszuwildern. Das konnte auf Dauer keine Lösung sein. Der Lebensraum mußte wieder hergestellt werden, sollte die Arbeit eine Perspektive haben. Das Land Brandenburg, ein Förderverein, die Frankfurter Zoologische Gesellschaft begannen Land aufzukaufen, die Naturschützer verpachteten bei trappenfreundlichen Auflagen an die zunehmend interessierten und durch Gelder auch aus EU-Fonds für die Erschwernisse und Mindererträge satisfaktionierten Landwirte. Ökobauern mischten sich darunter. Pestizide sind verboten, Düngung bis auf weiteres. Die großen Flächen werden wieder zerteilt, der Anbau diversifiziert, Trappenfutterstreifen werden zwischen die immer noch zu großen Flächen gelegt, damit es vorangeht; sie dienen den Trappen als Brücken und ziehen Insekten magisch an. Und es zeigen sich erste Erfolge: wieder 80 verschiedene Pflanzenarten, die Insektendichte nimmt zu, und im Schatten der Trappenerhaltung kommen lange vermißte alte Bekannte wieder zurück in das Luch, die einst mit der Trappe für eine einzigartige Bevögelung sorgten: diverse seltene Enten, Kiebitze, Rotschenkel, Uferschnepfe, der große Brachvogel, irgendwo sitzen noch ein paar Steinkäuze, Kraniche schlafen eh hier, Kleinvögel wie die Grauammer, um die sich sonst niemand kümmert, finden zurück, Wachteln, und nun wartet man auf das Birkwild, ein letzter Hahn ward 1978 gesichtet, auf Wiesen- und Kornweihe. Man weiß nun recht genau, wie schnell der Boden zu ruinieren ist, aber wie lange es dauert, wenigstens auf den knapp 6.000 Hektar des Schutzgebietes die alte Pracht wieder herzustellen, das weiß niemand. Immerhin: Man sammelt im April die ersten Gelege ab, so früh im Jahr reichte die Insektenzahl noch nicht aus, aber da die Henne, verliert sie ihr Gelege, nachlegt, wird ihr die zweite Brut (Juni) überlassen, da geht's schon. Die Population der Wildherde hatte man mit vielerlei Anstrengungen bereits verdoppelt. Doch nun neue Einbrüche. Durch Wendewirren, Tollwutimpfung und verändertes Jagdverhalten hat sich die Zahl der Füchse in der Gegend verfünffacht.

In der Aufzuchtstation sandeln zur Zeit elf Küken. Es ist ziemlich aufwendig, sie durchzubringen. Alle zwei Stunden müssen sie in Handarbeit gefüttert und getränkt werden. Anders als die Hühnervögel picken sie nicht selbständig das Zeug in sich hinein. Vorm vollen Napf würden sie verhungern. Man käschert ihnen Insekten, knetet Eiweißreiches in unschuldiges Toastbrot, zerschnetzelt Rindfleisch. Und die Kleinen sind überaus geschmäklerisch, wollen an einem Tag nur dies und am anderen nur jenes und lassen sich kaum überreden. Sieben Festangestellte arbeiten in der Station, vier AFG-Fälle und drei Zivildienstleistende sind genehmigt. Und doch reicht das kaum, wenn die Küken rund um die Uhr und die Woche betreut werden müssen.

Durch ein Loch in einer abschirmenden Hecke sehe ich sie liegen, ganz stattlich schon, wie kleine Straußenvögel im Sand. Anfänglich wurden die Vögelchen zu sehr von Menschen umsorgt und umstaunt, so daß es Probleme beim Auswildern gab. In Ungarn, beispielsweise, hat man versucht, sie in ein großes Gehege zu stecken, und zu warten, bis sie sich verlaufen oder verflogen haben. Gerne fliegt die Trappe nach dem Essen ein bißchen spazieren, hat aber die Angewohnheit, zu Fuß zurückzukehren. Also die Dinger ab über den absichtlich niederen Gehegezaun und wenn sie wieder Hunger hatten, kamen sie zurückgewackelt. Und da standen sie dann am Zaun und heulten und dachten nicht daran, sich nochmal aufzuschwingen. Und dann hat sie der Fuchs weggeschleckt. Wenn sie Glück hatten, wurden sie von den Pflegern rechtzeitig reingeschleppt. Dann begann das Spiel von vorn. Hier hat man Erfolg mit einem Trappenvater, der sich Tag und Nacht auf der Luftmatratze bei den Auszuwildernden aufhält, bis sich die letzten emanzipiert haben. Jedenfalls beinahe.

Es gibt noch einen Zuchtschwarm. In einem Freigehege im Schutzgebiet mit etwa zwanzig Tieren. Und da sind neben Spätschlüpfern, die den Anschluß verpaßt haben, und aufgegriffenen verletzten Tieren, vor allem Auswilderungsunwillige drin. Trappenhähne sind besonders auswilderungsunwillig. Darin ähneln sie sehr dem italienischen Mann, der wiederum mit seinen Haifischkragen und dem ausgestellten Brusthaar der Trappe in Vollbalz verblüffend gleicht. Unterdessen hat man begriffen, daß der Hahn einfach viel länger als die Henne braucht, um erwachsen zu werden. So werden die kleinen und kaum halb so schweren Hennen in zwei bis vier Jahren fortpflanzungsfähig, die Watze brauchen vier bis sechs Jahre. In diesem Zuchtschwarm wurde, was selten genug gelingt, in den letzten Jahren ganz gut gezüchtet. Nachwuchs aus diesem halbwilden Schwarm, läßt sich besser auswildern als handgebrüteter und ist natürlich weniger anfällig. Man weiß nicht, warum die sensiblen Trappen ausgerechnet hier sich fortpflanzten, und deshalb weiß man auch nicht recht, woran es momentan hakt. Ein Grund, vielleicht, für die Erfolge war das Zufüttern von Teilen geschlechtsreifer Mäuse aus der eigenen Kellerzucht. Menschen, Mäuse und Trappen haben ziemlich gleiche Geschlechtshormone. Behauptet jedenfalls Frau Litzbarski. Aber wie gesagt, man kann nur vermuten. So eine Balz ist eben eine hochkomplexe Angelegenheit, und ihre Störung, ein bisserl Streß, führt gleich zu unbefruchteten Eiern. Und bei der relativen Enge des Zuchtgeheges können die Hennen froh sein, wenn sie von hysterischen Balztänzern nicht gnadenlos verprügelt werden. Da die Trappe sehr standorttreu ist und auch zur Balz immer denselben Platz wählt, hilft man den Hennen im Zuchtgehege dadurch, daß man die Tummelstätte mit Pfählen so dicht umstellt, daß die Henne hindurch und sich in Sicherheit bringen kann. Der Macker aber natürlich viel zu gebläht.

Plötzlich hält der Geländewagen an. Die kundige Führerin hat die Lage sofort erkannt. Mir ist von einer Lage nichts bekannt. Ich suche mit dem Fernglas stümperhaft durch die Brache. Und dann sehe ich sie: Faul am Rande eines Rapsfeldes, bestens getarnt in ihrem rebhuhnbraunen Gefieder, liegen sechs wilde Trappen im Gras und picken ein bisserl herum, putzen sich träge und recken sich. Und dann steht ein Hahn auf und trappt langsam in die Wiese hinaus. Und noch langsamer folgt die kleine Gruppe und hinterher humpelt ein prächtiger, etwas älterer Hahn, wie man an der ausgedehnten weißen Färbung der Flügelränder erkennen können soll. Trapp. Trapp.

Mich vom Anblick lösend, sehe ich hinter mir die ersten Vorwälle der ICE-Trasse Berlin-Hannover, die mitten durch das Schutzgebiet gelegt wird. Alle Auflagen werden eingehalten, gewiß. Während der Balz- und Brutzeit ruhen hier die Arbeiten ganz. Ansonsten wird nachts nicht gebuddelt und trassiert. Fünf Meter hoch sollen die Wälle rechts und links der Schienen werden und dann bepflanzt und die Trappe schützen vor den ab 1997 und letztlich mit 250 km/h durchbretternden Zügen. Und es wird einem ein bisserl angst um die heiklen Vögel. Man hat getan, was möglich war. Zweieinhalb Millionen Mark pro Trappe werden investiert, so hat das Haus Dürr am Rande des Wahnsinns errechnet - und, sagt man auf der Station, alles dazugerechnet, was man auch sonst hätte machen müssen, Otternschlupfe, beispielsweise - , 70 Millionen kostet der 5,2 Kilometer lange Schutzwall, und war gleichermaßen erstaunt wie gerührt über sich selbst und wohl auch etwas verkatert. "Natürlich werden wir die Trappen schützen", sagte Dürr und bezeugte unbelehrbare Unkenntnis: "Schade daß unsere Fahrgäste wegen der Wälle die Trappen nicht sehen können!" "Wenn wir die Trappen nicht retten würden", sagte Brandenburgs Umweltminister Platzeck, "bräuchte sich Deutschland auf keiner internationalen Konferenz mehr blicken lassen." Aber niemand weiß, ob das die Trappe überzeugen wird.