Editorial

Joscha Schmierer

Nach jüngsten Meldungen aus Kambodscha sollen in dem Guerillastützpunkt Amlong Veng jetzt "Tausende Menschen" Pol Pot - vor der Weltöffentlichkeit schon lange als Massenmörder angeklagt - wegen seiner "schweren rebellischen Taten" gegen "Volk und Patrioten" zu lebenslanger Haft verurteilt haben. "Rebellisch" muß mit "Verrat" konnotiert werden. Über den bisherigen Sender der Roten Khmer soll ein General Khan Nun verkündet haben: "Es gibt nun keine Bewegung der Roten Khmer mehr, nicht nur in Amlong Ven, sondern im ganzen Land." So steht Pol Pot, dessen Politik entscheidend durch ein Verratssyndrom geprägt war, zuletzt selbst als Verräter da.

Furcht vor Verrat, prophylaktische Beseitigung von Verrätern, das Liebäugeln mit Verrat unter dem Eindruck, ohnehin unter Verdacht zu stehen, all das ist typisch für feudale Regime. Doch wo immer die Kommunisten an die Macht kamen, geschah dies über die Massenmobilisierung, in der imperiale Rekonstruktion und kommunistische Utopie in Wille und Vorstellung direkt und unauflösbar zusammenwirkten.

Mit dem Sieg im Inneren, bleibt der äußere Feind immer noch mächtiger als das revolutionäre Reich. Und haben jene, die mit dem äußeren Feind zusammenarbeiteten und nun in der Emigration leben, nicht immer noch Freunde und Einfluß im Inneren? Werden die, die am Kampf gegen den äußeren Feind teilnahmen, sich nicht mit ihm verbünden, sobald ihr innerer Einfluß geschwächt wird? Sowieso genießen die alten Herren, die auf der Seite des Volkes standen, bei diesem vielleicht größeren und besser verankerten Einfluß als die Kommunisten, die ihr Ansehen allein aus den jüngsten Kämpfen und der leuchtenden Zukunft ziehen. Es gibt Gründe genug, rundum Verrat zu wittern. Zudem gibt es in der Geschichte des Kommunismus zwar Beispiele erbarmungslosen Kampfes gegen den Sumpf von Verrat, doch ebenso deutlich ist, daß letzterer als Revisionismus doch immer die Oberhand gewonnen hat. So werden die Vorgänger und einstigen Verbündeten zu einer weiteren Quelle des Verrats, die über alte Verbindungen und Kampfgenossenschaften erst recht unkontrolliert im Inneren sprudeln kann.

So ungefähr muß sich für Pol Pot und die Roten Khmer nach 1975 die Welt dargestellt haben. Wer aber die Macht hat, wäre verrückt, wenn er sie nicht nutzte, um umfassende Vorkehrungen gegen den allseits drohenden Verrat zu treffen. Die systematische Vernichtung von potentiellen Verrätern - und deren Zahl ist nicht einzugrenzen - gilt bei den Verantwortlichen nicht mehr als Verbrechen, sondern pflichtgemäße Vorsichtsmaßnahme. Sie werden zu Massenmördern durch politisches Kalkül.

Wenn Pol Pot noch Gelegenheit zur Selbstkritik haben sollte, dann hat er zwei Möglichkeiten zurückzublicken:

Pol Pot kann sich sagen, daß die Vorsicht noch lange nicht ausreichend war. Hun Sen zum Beispiel und seine Anhänger hätten unschädlich gemacht werden müssen, bevor sie zu den vietnamesischen Invasoren überwechselten. Ist er durch mangelnde revolutionäre Wachsamkeit nicht tatsächlich zum Verräter an der großen Sache geworden? Wenn man Pol Pot die besten Absichten, Rekonstruktion des KhmerReiches als kommunistische Utopie, unterstellt, ließe sich solchen Überlegungen nicht jede Logik absprechen.

Die andere Möglichkeit, zurückzublicken, wäre für Pol Pot:

Der Segen Sihanouks für den Widerstandskrieg war mitentscheidend für den Sieg. Nach der vietnamesischen Invasion war die Hilfe Sihanouks erneut unerläßlich. Wäre es also nicht viel sinnvoller gewesen, den Krieg - statt ihn als Chance für eine ohne ihn unabsehbare Machteroberung der Kommunisten zu ergreifen - als brutale Unterbrechung jeder gedeihlichen Entwicklung des Landes zu verstehen, statt also an den Sieg an der Wiederherstellung des Friedens anzuknüpfen? Das Programm wäre gewesen: die Monarchie auf eine neue konstitutionelle Basis stellen, den Kommunisten die offene Betätigungsmöglichkeit sichern, Wahlen ermöglichen, an denen alle im Land - und Rückkehrer, die sich keiner rechtskräftig abgeurteilten Verbrechen schuldig gemacht haben - passiv und aktiv teilnehmen können, Bodenreform und Ermutigung bäuerlicher Märkte etc. All das hätte nach dem verheerenden Krieg eine Normalisierung und Besserung der Lebensverhältnisse erleichtert. Freilich wäre offen geblieben, ob sich für diese Rückkehr zum Frieden der Sieg gelohnt hätte.

Nach Maßstäben einer pragmatischen Vernunft wäre sicher nur diese Selbstkritik angemessen. Eine entsprechende Praxis war aber für die Roten Khmer 1975 wohl nicht einmal denkbar. So begannen sie, mit allen potentiellen Feinden des Khmer-Reiches und der roten Utopie aufzuräumen. Wegen des doppelten Maßstabs standen ethnische Minderheiten und Angehörige der höheren Schichten gleichermaßen unter Verdacht. Zu trauen war nur den eigenen Leuten und denen auch nur begrenzt, weil sie ja von jeher oder neuerdings Agenten der vietnamesischen Kommunisten sein konnten. Zuletzt gab es nur noch Verräter und eine Schlußabrechnung im engsten Familienkreis. Feudalismus pur. Doch 1979, kurz vor der vietnamesischen Invasion, hatten die Roten Khmer und ihre Führung einen eher heiteren und zuversichtlichen Eindruck gemacht. Darin haben sich die wenigen damaligen Besucher, darunter auch ich, wohl nicht getäuscht. Die roten Khmer scheinen gedacht zu haben, sie hätten alles Menschenmögliche getan, um das Land und ihre Utopie zu schützen.