Wenn Konformität in Destruktion umschlägt

Jugendliche Gewalt in Japan

Siegfried Knittel

Die Terroranschläge der Aum-Sekte in der Tokyoter U-Bahn hatten die Bevölkerung Japans im Frühjahr 1995 nicht nur in Angst und Schrecken versetzt, sondern ihr zugleich das Gefühl vermittelt, nicht mehr in jener friedlichen Welt zu leben, die Japan war und die sie von den Ländern des Westens unterschieden. Nun hat vor einigen Wochen der Mord an dem Schüler Jun Hase, dessen abgeschnittenen Kopf samt Botschaft im Mund sein Mörder publizitätswirksam am Eingangstor einer Schule deponiert hatte, das Land in ähnlicher Weise erschüttert. Mittlerweile hat ein 15jähriger Mittelschüler den Mord gestanden, dazu noch zwei weitere Angriffe auf Schülerinnen, bei denen ein Mädchen durch Schläge mit einem Hammer auf den Kopf ebenfalls getötet wurde. Drei weitere Mädchen waren verletzt worden.

Aber solche Morde eines Halbwüchsigen sind in Japan gar nicht so einzigartig. So berichtete der japanische Bewährungshelfer Nobuto Aoki auf einer Tagung zur Jugendkriminalität in Deutschland und Japan, die 1995 in Halle stattfand, von mehreren äußerst brutalen Morden von Jugendlichen in den achtziger Jahren (siehe Gewalt unter Jugendlichen in Deutschland und Japan - Ursachen und Bekämpfung). In zweien dieser Fälle ermordeten Schüler ihre Eltern unter dem Druck der von den Eltern geforderten schulischen Leistungen. In anderen Fällen wurden von jeweils mehreren Heranwachsenden Liebespaare oder Obdachlose ermordet. 1988 wurde eine Oberschülerin von einer Gruppe Jugendlicher 40 Tage gefangengehalten und vergewaltigt, dann ermordet und in ein Faß einbetoniert, das in der Bucht von Tokyo versenkt wurde.

Diese Verbrechen mit ihrer völlig entgrenzten Grausamkeit, die im totalen Gegensatz zur gewaltfreien Alltagsnormalität in Japan steht, in der ja Gewalt sehr viel mehr als in Deutschland tabuisiert ist, haben das Selbstverständnis der japanischen Gesellschaft jedesmal erschüttert. Aber gerade angesichts des Gegensatzes einer in ihrem Alltag so friedfertigen Gesellschaft und dieser Form der Gewalt, mit der Japan seit etwa zwei Jahrzehnten immer wieder konfrontiert ist, drängt sich die Frage auf, ob es nicht vielleicht einen Zusammenhang zwischen den entgegengesetzten Verhaltensweisen gibt.

Nun wird in der hiesigen Presse, nicht frei von insgeheimer Häme, seit Jahren über die Formen psychischer und physischer Gewalt an den japanischen Schulen, in Japan ijime genannt, geschrieben. Sie wird zumeist von einer Gruppe gegen einzelne Klassenmitglieder ausgeübt und hat zwischen 1990 und 1994 zum Selbstmord von zehn Jugendlichen geführt. Als deren Ursache wird zumeist der ungeheure Leistungsdruck genannt, dem sich kein Schüler entziehen kann, weil elterliche und gesellschaftliche Ansprüche zumindest die Absolvierung einer guten Oberschule verlangen. Die Kritik zielt vor allem auf das Pauken bloß abfragbaren Wissens für die Prüfungen von Schulen und Universität ab, das die Herausbildung von Eigenständigkeit und Kreativität verhindere. Aber diese Forderungen nach der Änderung des Lernsystems greifen zu kurz. Der Konformitätszwang der japanischen Gesellschaft ist auf diese Weise nicht aufzuheben.

Der erste Grund dafür, daß praktisch die gesamte Gesellschaft bis in ihre hintersten Winkel diesem Zwang unterliegt, dürfte in ihrer Vereinheitlichung als Folge des Modernisierungsprozesses der letzten einhundertfünfzig Jahre liegen. Japan ist heute eine in hohem Maß egalitäre Massengesellschaft, die kaum soziale Nischen kennt. Die Familien sind weitgehend auf die Kernfamilie geschrumpft und als solche sind sie viel widerstandsloser den durch die gesellschaftlichen Institutionen und die Massenmedien verbreiteten Normen dessen, was ein richtiges Leben sei, ausgeliefert. Die Möglichkeit, sich diesem Zwang zu entziehen, ist kaum gegeben, weil es in Japan keine Tradition der Privatheit gibt und die Idee der Lebensfindung nach eigenem Willen bis heute negativ konnotiert ist.

Der zweite Grund für diesen Konformitätszwang liegt wohl in der spezifischen Beziehung japanischer Mütter zu ihren Kindern. Zumeist sind es heute Einzelkinder, die damit zum alleinigen Träger aller elterlichen Hoffnungen werden, wobei die Väter durch ihre tägliche lange Abwesenheit keine wirklich aktive Rolle bei der Erziehung spielen. Diese Kinder werden mit einer Mischung aus unendlicher mütterlicher Nachgiebigkeit und Zielstrebigkeit erzogen. Die Mütter vollziehen in der Verschmelzung mit der gesellschaftlichen Norm die Anpassung der Kinder an diese, wobei sie jede Konfrontation, in der die Kinder sich vom Willen der Mutter abgrenzen und sich als eigene Person konstituieren könnten, vermeiden. Lebenslang tragen die Kinder so in sich den Wunsch nach der Restituierung dieses ehemaligen Einsseins mit der Mutter.

Im Kindergarten und später auch in der Grundschule ersetzt die Gruppe die Mutter. Das Einssein mit der Gruppe hat Vorrang vor der Ausbildung von individueller Eigenständigkeit, mehr noch: Der Gruppenwille wird zum alleinigen Maßstab, an dem sich jeder ausrichten muß. Dagegen zu verstoßen hat das Ignoriertwerden durch die Gruppe zur Folge. Für ein Kind, das nicht gelernt hat, sich als Individualität zu begreifen, sondern nur über die Anerkennung durch andere zu definieren, kann es kaum eine schlimmere Strafe geben. Bezeichnenderweise wurde den beiden Jugendlichen, die ihre Eltern ermordeten, von diesen angedroht, sie zu verstoßen und der mutmaßliche Mörder des Jun Hase war vorher von der Schule verwiesen worden.

Der Schüler war im vergangenen Jahr zunehmend durch seine gewalttätige Haltung gegenüber Mitschülern aufgefallen. Nach seinem Schulverbot kündigte er Klassenmitgliedern an, daß er sich nach dem Vorbild von splatter videos rächen wolle und zeigte ihnen Messer, die er zu diesem Zweck gekauft hatte.

Während seine ersten beiden Opfer, zwei Mädchen, noch glimpflich davonkamen, verletzte er die nächsten beiden Opfer so schwer, daß ein Mädchen an seinen Kopfverletzungen starb. Der geistig zurückgebliebene Jun Hase war das letzte Opfer. Ganz offensichtlich ging es dem Jungen bei diesem Mord nicht nur darum, jemand zum Opfer zu machen, so wie er sich als Opfer fühlte, sondern auch darum, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erlangen. So schrieb er einer Tageszeitung in Kyoto einen Brief, in dem er sich über die falsche Aussprache seines Namens aufgrund der Botschaft im Mund des Toten beschwerte. Das ist die Klage eines Menschen, der das Gefühl hat, zu kurz gekommen zu sein, und der nun die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zieht, indem er sie damit provoziert, worauf sie am empfindlichsten reagiert, nämlich durch das Bekenntnis zur tabuisierten Gewalt. Nur das Leiden von Menschen kann mein Leiden erleichtern, schreibt er in seinem Brief.

Es scheint, daß sich dieser Junge - auf der Suche nach Anerkennung - von der Gewalttätigkeit in der Klasse bis zu dem der Öffentlichkeit präsentierten abgeschnittenen Kopf seines letzten Opfers in eine Spirale der Gewalt begeben hatte, aus der es für ihn auch kein Entkommen mehr gab. Wenn er jetzt bei den jüngsten Vernehmungen erklärte, beim Abschneiden des Kopfes seines Opfers habe es sich um eine Zeremonie gehandelt, um den Geist des Jungen freizulassen, verstärkt sich der Verdacht, ihm sei daran gelegen, das Interesse der Öffentlichkeit nicht zu verlieren.

Ähnlichkeiten zur Lebensgeschichte von Aum-Sektengründer Asahara sind nicht zu übersehen. Auch dieser neigte während seiner Schulzeit gegenüber Mitgliedern seiner Klasse zu Gewalttätigkeit, weil er sich aufgrund seiner Sehbehinderung als Außenseiter fühlte. All seine Versuche, an einer Universität angenommen zu werden, scheiterten. Das bedeutete für ihn, daß er nicht sein durfte wie die anderen. Viele seiner späteren Handlungen lassen vermuten, ihr Motor sei ein Bedürfnis nach Rache und Anerkennung gewesen, das aus seiner Andersheit und einem daraus entstandenen Minderwertigkeitsgefühl entstanden sei. Diesen Mangel suchte er zu kompensieren, indem er der Gesellschaft seine Macht demonstrierte.

Ein weiterer möglicher Grund für die Morde dieser Jugendlichen, aber auch für die Verbrechen der Aum-Sekte, ist wohl in dem fehlenden Schuldbewußtsein zu suchen, das die Täter nach der Tat kennzeichnete - und das in der Verklärung der Enthauptung des Jun Hase als ritueller Akt zum Ausdruck kommt. Aoki spricht im Fall der beiden Elternmörder, aber dies gilt auch für den Aum-Sektenchef Asahara, von der infantilen Schuldprojektion der Täter, in der zum Ausdruck kommt, wie wenig diese innerlich selbständig geworden sind, was auch nur schwer möglich ist, wenn die Mütter ihre Kinder nicht sich selbst finden lassen und diese in Kindergarten und Grundschule sich nur über die Gruppe zu definieren lernen.

Was moralisch richtig ist, wird durch die Gruppe definiert, wobei der oberste Wert die Erhaltung der Gruppenharmonie ist. Für den Ausgestoßenen aber hat dieser Wert keine Gültigkeit mehr. Er ist mangels verinnerlichter Moral aus jedem Wertesystem herausgefallen.

Wahrscheinlich ist aus dem Fehlen allgemeingültiger moralischer Maßstäbe auch die eigenartige Nachsichtigkeit, mit der die Behörden auf solche äußerst grausamen Verbrechen reagieren, zu erklären. Sie erwies sich im Fall der Aum-Sekte, deren brutaler Terror die Behörden jahrelang völlig verkannten, als besonders fatal. Aber unverständlich bleibt auch im Fall des mutmaßlichen Hase-Mörders, wieso der Lehrer glaubte, mit dem Verweis von der Schule das Problem der Aggressivität des späteren Mörders lösen zu können. Wahrscheinlich sahen Polizei und Strafverfolgungsbehörden im Fall der Aum-Sekte ebenso wie dieser Lehrer in der Aufrechterhaltung der Harmonie ihre wichtigste Aufgabe. Darin folgen sie einer ähnlichen Strategie wie die Mütter, die den "Ungehorsam" ihrer Kinder ungeschehen machen wollen, indem sie ihn deren Unreife zurechnen, es damit aber vermeiden, sich mit dem Kind auseinanderzusetzen und ihm aktiv und nicht nur manipulativ Grenzen zu setzen. Ihr Verhalten ähnelt dem der Kindergartengruppe, die den Außenseiter ignoriert. Man muß sich aber fragen, ob jemand, der mit seiner Aggression dermaßen allein gelassen wird, weil sich ihr niemand entgegenstellt, nicht zwangsläufig gezwungen ist, sie zu steigern.

Auf der oben genannten Tagung zur Jugendkriminalität stellte die Konstanzer Psychologin Gisela Trommsdorf eine - zusammen mit ihrem Saarbrücker Kollegen Hans-Joachim Kornadt erstellte - vergleichende Untersuchung zu Entstehungsbedingungen von Aggression in Deutschland und Japan vor, die diesen Annahmen konträr entgegensteht und diese Form jugendlicher Gewalt überhaupt völlig unverständlich erscheinen läßt. Die Verfasser kommen in ihrer Studie (siehe Gewalt unter Jugendlichen in Deutschland und Japan) nämlich zu dem Ergebnis, daß japanische Mutter-Kind-Beziehungen der Herausbildung eines ausgeprägten Aggressionspotentials weit weniger förderlich seien als deutsche. Wer das Fehlen real fühlbarer Aggression im japanischen Alltag dankbar wahrgenommen hat, ist geneigt, dem spontan zuzustimmen.

Zumindest Skepsis ist jedoch gegenüber Trommsdorfs These angebracht, japanische Kinder fühlten sich, weil ihre Mütter weniger fordernd seien als die deutschen, bei Konflikten weniger in ihrem Selbstwertgefühl verletzt als deutsche Kinder. Zwischen den Ergebnissen ihrer statistischen Untersuchungen und den Fallberichten Aokis klaffen Welten, auch wenn man Einzelfallbeschreibungen und statistische Untersuchungen, die die japanische Normalfamilie und keine Problemfälle zum Forschungsobjekt hatten, nicht ohne weiteres vergleichen kann.

Aber die Bereitschaft zur fast(!) lückenlosen Unterordnung ins gesellschaftliche System der Konformität, ohne die diese Morde wahrscheinlich nicht zu verstehen sind, kennzeichnet eben sowohl Normal- wie auch Problemfamilien und zeugt nicht für jenes ausgeprägte Selbstwertgefühl der japanischen Kinder, das Trommsdorf zu erkennen glaubt, sondern ist das Resultat einer Erziehung, die die Kinder daran hindert, ein je eigenes Vertrauen zu sich selbst zu entwickeln.

Trommsdorf steht mit dieser positiven Beurteilung japanischer Kindheit und Erziehung unter deutschen Sozial- und Erziehungswissenschaftlern nicht allein. Volker Schubert (siehe Siegfried Knittel, Harmonie ist wichtiger als Verantwortung in Kommune 4/94, S. 35-37) und Donata Elschenbroich kommen in ihren Arbeiten zu ähnlichen Schlüssen und sehen in der Gemeinschaftsorientierung dieser Erziehung ein Element, das Kindern hierzulande etwas von dem Druck zur Selbstverwirklichung nehmen könnte, deren Scheitern sie oft in die Delinquenz treibt. Aber die Autoren unterscheiden sich in ihrer positiven Beurteilung des japanischen Erziehungssystems von vielen japanischen Sozialwissenschaftlern, die dessen individualitätsverhindernden Charakter kritisieren.

Zu fragen ist, ob die von Trommsdorf konstatierte gering entwickelte Aggression der Kinder in einer Gesellschaft, in der die Züge zur Individualisierung unverkennbar sind, überhaupt wünschenswert ist. Erfordert nicht der Individualisierungsdruck in der japanischen Gesellschaft vielmehr eine Erziehung, die, indem sie den Kindern ein Mehr an innerer Freiheit verschafft, sie auch ein Verhältnis zur Aggression finden läßt? Deren Integration in die Persönlichkeit verhindert nämlich am ehesten ihren unkontrollierten und destruktiven Ausbruch.

Offensichtlich verfügte der Lehrer des Jun-Hase-Mörders nicht über die Aggressivität, diesen in seine Schranken zu weisen. Statt dessen verwies er ihn in einem Akt der Hilflosigkeit von der Schule. Hätte er aggressiver reagiert, hätte er damit möglicherweise dem Jungen geholfen, wieder in die Gemeinschaft zurückzufinden.

LITERATUR:

@Literatur = Donata Elschenbroich (Hrsg.), Anleitung zur Neugier. Grundlagen japanischer Erziehung, Frankfurt (edition suhrkamp) 1996
Annette Erbe, Schikane an japanischen Schulen - Aspekte eines Erziehungsproblems, Bochum (Universitätsverlag Dr. N. Brockmeyer) 1994
Gesine Foljanty-Jost/Dieter Rössner (Hrsg.), Gewalt unter Jugendlichen in Deutschland und Japan. Ursachen und Bekämpfung, Baden-Baden (Nomos Verlagsgesellschaft) 1997
Susanne Kreitz-Sandberg, Suizid bei Jugendlichen in Japan und Deutschland, in: Japanstudien. Bd. 8, München (Iudicium Verlag) 1996 (S. 287-318)
Volker Schubert, Die Inszenierung der Harmonie. Erziehung und Gesellschaft in Japan, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1992