Die Modernisierung der Sozialdemokratie

oder: Der lange Abschied vom Sozialismus

Ralph Graf

Geht es nach den Demoskopen, findet die Schröder-SPD beim Wahlvolk breite Unterstützung. Der saarländische Unruheständler Lafontaine fürchtet indes beim weiteren Abrücken von sozialdemokratischen Kernthemen um die Mehrheitsfähigkeit. Derweil diskutieren Programmkommissionen eine Neuverortung der Partei. Die SPD ist auf dem Weg – nur wohin?

"Meiner Ansicht nach kann die Sozialdemokratie nicht nur überleben, sondern sogar prosperieren, und zwar auf theoretischer wie auf praktisch-politischer Ebene. Das wird ihr aber nur gelingen, wenn sie bereit ist, ihre überkommenen Ansichten grundsätzlicher in Frage zu stellen, als sie dies in den meisten Fällen bisher getan hat."
(Anthony Giddens, Der dritte Weg, S. 7)

@ZITAT ANFG = "Es ist unbestreitbar, dass politische Parteien sich an die objektiven politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen anpassen müssen, auch an die Mediengesellschaft. Passen sie sich nicht an, dann sterben sie aus. Die Gesetze der Evolution gelten auch für soziale Organismen. Wenn sie aber bei der Anpassung ihr Wesen, ihre Identität verlieren, dann sterben sie auch, weil sie mit ihrer Identität ihren Daseinsgrund und die Unterschiede zu konkurrierenden sozialen Organismen einbüßen. Solche Prozesse dauern lange, und Erfolge scheinen der Prognose zu widersprechen. Und doch ist die SPD auf dem Weg, sich überflüssig zu machen."

(Christian v. Ditfurth, SPD – eine Partei gibt sich auf, S.306)

Die Ideologie und die Verfechter einer möglichst freien Marktwirtschaft geraten – so scheint es – in die Defensive. Jedenfalls ist in jüngster Zeit der Ruf nach "aktivem Regieren" und "good governance" vermehrt zu vernehmen. Damit aber steht zugleich die Frage auf der Tagesordnung, was der Staat und die Politik unter den heutigen Bedingungen eines beschleunigten gesellschaftlichen Wandels überhaupt noch leisten können und sollen. Vordenker sozialdemokratischer Politik haben schon längst einige Wegmarkierungen aufgestellt, die den sozialdemokratisch geführten Regierungen in Europa programmatische Orientierung und Legitimation gleichermaßen verschaffen sollen. Besonders relevant ist die Konzeption des "dritten Weges" (Giddens 1999), die die gegenwärtige politische und programmatische Neupositionierung der SPD nicht unwesentlich beeinflusst. Die Prämissen und Kernpunkte des "dritten Weges" finden sich etwa in dem gemeinsamen Papier von Tony Blair und Gerhard Schröder über den "Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten" oder in einem neueren Beitrag von Schröder über die "zivile Bürgergesellschaft" (2000). Es geht dabei vor allem um eine Neubestimmung der Aufgaben und Leistungen des Staates, anders formuliert: um einen "Abschied vom sozialdemokratischen Versorgungsstaat" (Streeck).

Megatrends des gesellschaftlichen Wandels

Es sind vor allem drei fundamentale gesellschaftliche Veränderungsprozesse, die Giddens zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht: Die Globalisierung, der technologische Wandel und die "Transformation unseres Alltagslebens".

Die treibende Kraft der Globalisierung sieht Giddens nicht in erster Linie in Marktprozessen, sondern in der Kommunikationsrevolution. Es entstehen "neue ökonomische und kulturelle Zonen, die oft über die Grenzen der Nationen hinwegreichen. Es ist sehr wichtig, in der gegenwärtigen politischen Debatte diesen Aspekt zu betonen, denn viele Leute, besonders Linke, sehen die Globalisierung als zerstörende Kraft. Und viele Leute identifizieren die Globalisierung einfach mit einem liberalen Markt. Beides sind irrige Annahmen. Eine Definition der modernisierenden Linken, die ich im Unterschied zur mehr traditionellen Linken sehe, besteht also darin, dass sie die Globalisierung als in vielen Aspekten kreative und positive Kraft ansieht" (Giddens 2000, 13).

Der zweite Komplex von Kräften, die Arbeit und Leben umwälzen, umfasst den technologischen Wandel. Wissenschaft und Technologie prägen zunehmend unser Leben. Damit einher geht der "Aufstieg neuer Klassengruppen – vor allem eines informationstechnologischen Mittelstandes, der sich von der alten Arbeiterklasse und dem alten Mittelstand unterscheidet" (Giddens 2000, 14).(1) Dieser informationstechnische Mittelstand hat in den westlichen Ökonomien mittlerweile strategische Bedeutung. Die Wahlerfolge von New Labour in Großbritannien und der New Democrats in den USA waren Giddens zufolge nur möglich, weil es gelungen ist, diese neue Klassengruppierung erfolgreich anzusprechen.

Schließlich führen demografische Veränderungen, die Emanzipation der Frau, Änderungen im Lebensstil und im Gefühlsleben zu einer "Transformation unseres Alltagslebens". Traditionelle Lebensformen und Orientierungen verlieren an Bedeutung, die Notwendigkeit das eigene Leben aktiv zu gestalten nimmt zu. "Dieser Wandel ist keineswegs nur vorteilhaft – neue Nöte und Ängste sind damit verbunden. Aber eben auch viele positive Möglichkeiten" (Giddens 1999, 50).

Die skizzierten Megatrends der gesellschaftlichen Entwicklung sind in der Tat fundamental und unumkehrbar. Der politische Streit entzündet sich vielmehr an der Einschätzung und Bewertung der möglichen Folgen dieser Prozesse und vor allem an der Frage ihrer politischen Steuerbarkeit.

Die Politik des "dritten Weges"

Die traditionellen linken Werte stehen für Giddens nicht zur Disposition: Solidarität, die alle einbezieht, soziale Gerechtigkeit, Schutz der Schwachen und Verletzlichen und nicht zuletzt die Überzeugung, dass "aktives Regieren" diese Ziele erreichen kann, sollen auch für die "modernisierende Linke" Bezugspunkt und Legitimation ihres politischen Handelns sein. Die Herausforderung besteht nun darin, den linken Werten auch unter neuen gesellschaftlichen Bedingungen Geltung zu verschaffen. Ohne eine Erneuerung der öffentlichen Institutionen kann dies nicht gelingen. "Die Politik des Dritten Weges ist ein Versuch, die öffentliche Sphäre, den öffentlichen Bereich zu rekonstruieren" (Giddens 2000, 18 f.). Neue institutionelle Arrangements werden auf lokaler, nationaler und transnationaler Ebene benötigt. Erneuerung der Demokratie heißt mehr Transparenz und weniger Hierarchie. Die öffentliche Sphäre soll sich daher die Effizienz und Beweglichkeit der Geschäftswelt zum Vorbild nehmen und die Nachfrage des Bürgers rasch und flexibel befriedigen. Die Stärkung der öffentlichen Sphäre sei nicht gleichbedeutend mit mehr Staat und Bürokratie. Zivilgesellschaftliche Einrichtungen können durchaus den Staat von verschiedenen Aufgaben entlasten. "Ein aktiver dritter Sektor, ein unternehmender dritter Sektor, eine spezifische Unternehmerhaltung ist entscheidend sowohl für die ökonomische wie auch für die politische Veränderung" (Giddens 2000, 20).

Giddens postuliert eine positive, nicht nur defensive Anpassung an die neue Ökonomie. Die neue Wissensökonomie erfordert höhere Investitionen in Bildung und Ausbildung. Den Bürgern kann und muss heute mehr Eigenverantwortung und die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen zugemutet werden. Der Wohlfahrtsstaat kontinentaleuropäischer Prägung produziert auch soziale Ungleichheit und Abhängigkeit.(2) Daher soll die notwendige Reform des Wohlfahrtsstaates Leistungsempfänger zu mehr Selbstverantwortung und Eigeninitiative ermutigen oder verpflichten. "Keine Rechte ohne Pflichten", so heißt es apodiktisch. Dies gilt als Grundsatz eines neuen Gesellschaftsvertrages. Giddens verweist in diesem Zusammenhang auf die seiner Meinung nach positiven Entwicklungen und Beispiele in den USA und Großbritannien. Lernen von New Labour und den New Democrats, auch wenn selbstredend länderspezifische und kulturelle Unterschiede nicht unterschlagen werden dürfen.(3)

Vergleicht man Giddens‘ programmatische Ausführungen mit den Thesen von Blair und Schröder, ist die Verwandtschaft im Geiste unübersehbar.(4) Gegen den Markt und gegen Unternehmen ist keine Politik und kein Staat zu machen, so lautet die Botschaft! Vielmehr werden vorgeblich unternehmerische Tugenden, wie Selbstverantwortung und Risikobereitschaft, als unabdingbar für die Nutzung der vielfältigen Chancen im neuen Jahrhundert angesehen. Nicht mehr der Arbeitnehmer, sondern der Unternehmer erscheint als schützenswerte und staatlicher Unterstützung bedürftige Spezies. Es überrascht daher nicht, dass die "traditionelle Linke" die programmatische Neuorientierung der SPD und die entsprechende rot-grüne Regierungspraxis einer grundsätzlichen Kritik unterzieht.

Der "dritte Weg" als Abschied vom Sozialismus

Der Weg, den die "modernisierende Linke" in der SPD einschlägt, berührt den Kern sozialdemokratischer Tradition und Identität. "Die historisch für die SPD stets prägende Bindung an soziale Interessen der nicht ‚besser verdienenden‘ Mehrheit der Arbeitnehmerbevölkerung löst sich auf, was auch den engen Konnex zwischen SPD und Gewerkschaften in Frage stellt. Die programmatischen Äußerungen von Gerhard Schröder (im Duett mit Tony Blair) stellen alles andere als eine ‚Fortschreibung‘ des Godesberger Programms dar, sie postulieren vielmehr die Trennung vom bisherigen Kern der sozialdemokratischen Politik, nämlich der sozialstaatlichen Perspektive. Die sozialdemokratische Vergangenheit wird im Blair-Schröder-Konzept als Irrweg beschrieben. Wirtschaftspolitisch ist eine Differenz zum Neoliberalismus nicht mehr zu erkennen. Mit alledem deutet sich die robuste Umwandlung der SPD zu einer Partei an, die von ihrer Geschichte endgültig Abschied nimmt" (Klönne 1999, 16; vgl. auch Ditfurth 2000). Die SPD nach Lafontaine wird von Modernisierern wie Gerhard Schröder dominiert und dieser vermag in der Wirtschaftspolitik bekanntlich keine Differenz zwischen links und rechts mehr erkennen, der entscheidende Unterschied bestehe vielmehr zwischen modern und unmodern. Modern heißt nach Schröders Verständnis, den Wirtschaftsstandort kapitalfreundlich zu gestalten und von sozialstaatlichen Umverteilungszielen Abstand zu nehmen. Dies kann man in der Tat als neoliberale Grundüberzeugung oder Abschied vom Sozialismus deuten. "Die Haltbarkeit der historischen, mit der Chiffre ‚Sozialismus‘ umschriebenen Identität der Sozialdemokratie läßt sich am ehesten daran messen, ob die Partei daran festhielt oder festhält, daß die ‚Souveränität des Kapitals‘ nicht hinzunehmen sei und ein struktureller Konflikt mit den Kapitalinteressen ausgefochten werden müsse" (Klönne 1999, 12). Akzeptiert man Klönnes unterscheidendes Kriterium, ist der Abschied vom (demokratischen) Sozialismus längst vollzogen. Der Verlust sozialdemokratischer Tradition und Identität wäre zu verschmerzen, wenn die strategische und programmatische Neuausrichtung der Partei wirklich dazu beitragen würde, den von den Modernisierern selbst gesteckten Zielen näher zu kommen, also soziale Gerechtigkeit herzustellen, die Demokratie zu erneuern und last not least die Arbeitslosigkeit deutlich zu verringern. Doch genau das wird von den linken Kritikern des "dritten Weges" bestritten.

Der "dritte Weg" als Anpassungsstrategie

Die politische Rhetorik und Praxis der "modernen Sozialdemokraten" wird von der "traditionellen Linken" als Anpassung an die ökonomischen Zwänge globaler Märkte kritisiert (vgl. Butterwegge 1999; Zeuner 1999). Der Kern des Neoliberalismus, die Politik der Deregulierung und Privatisierung, werde nicht in Frage gestellt, sondern bestenfalls sozial abgefedert. Die Steuerungsfunktion von Märkten soll auf keinen Fall behindert werden. "Aufgegeben wird die für das reformistische Projekt der alten Sozialdemokratie zentrale Überlegung, dass ein großer öffentlicher Sektor vor den negativen Folgen privater ökonomischer Kalküle schützen sollte. Der ‚beschützende Staat‘, der diese Funktion freilich nur ausüben kann, wenn er zugleich bestimmte Handlungsspielräume einengt, erscheint als ein ‚bevormundender Staat‘" (Mahnkopf 2000, 28).

Die Modernisierer propagieren demgegenüber ein neues Leitbild: Der Staat als Moderator, der Interessenwidersprüche zu harmonisieren und Wachstums- und Beschäftigungspakte zu schmieden versteht. Damit werden allerdings nach wie vor bestehende Herrschafts- und Machtverhältnisse ausgeblendet (vgl. Butterwegge 1999). Faktisch entscheiden die Akteure der globalen Finanzmärkte, transnationale Unternehmen und die Medienindustrie, die allesamt über keine demokratische Legitimation verfügen, über die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung. "Die Vermittlerrolle des Staates ist daher in Wirklichkeit die eines Adapters: Er soll die sozialen Interessen der Bürger an die ökonomischen Erfordernisse globaler Märkte anpassen" (Mahnkopf 2000, 29). Zwar konstatiert auch Birgit Mahnkopf einen Verlust staatlicher Steuerungsfähigkeit (gegenüber den Märkten), doch dieser ist für sie eher eine Folge des bewussten Verzichts auf Regulierung denn unvermeidlichen Sachzwang.

Während der Staat aus der Verantwortung für den sozialen Ausgleich und die gesellschaftliche Entwicklung entlassen wird, feiert der eigenverantwortlich und unternehmerisch handelnde Bürger seine Erhebung in den Adelsstand. Das Konzept der "Bürgergesellschaft", die "als eine Sphäre aktiver Demokratie und als Gegenpol zum ‚bevormundenden Staat‘ schöngeredet wird, erhält eine seinen ursprünglichen Wortsinn verzerrende Bedeutung: Es steht nicht mehr für den Schutz des Bürgers vor Übergriffen des Staates, sondern für den Ersatz des Staates (resp. seiner Leistungen) durch die Bürger" (Mahnkopf 2000, 29).

Das Gleichheitspostulat der modernisierenden Linken meint in erster Linie Chancengleichheit, und keineswegs Gleichheit der Lebensbedingungen. Die Gleichheit der Chancen soll durch eine (Re-)Integration in den Arbeitsmarkt erreicht werden. Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und die Förderung der Arbeitsbereitschaft der Arbeitslosen, nicht zuletzt durch den drohenden Wink des sozialen Leistungsentzugs, sind dabei die bevorzugten Rezepte. Doch es ist fragwürdig und eröffnet keine emanzipatorische Perspektive, Arbeitsmarkt- und Flexibilisierungszwänge zu verallgemeinern und Menschen in Erwerbsarbeitsverhältnisse zu zwingen. Gesellschaftliche Anerkennung und die Förderung des Selbstwertgefühls lassen sich kaum aus jedweder Tätigkeit gewinnen.

In diesem Zusammenhang muss auch gefragt werden, ob die Fixierung auf ein möglichst hohes Wirtschaftswachstum wirklich so modern ist, wie immer wieder unterstellt wird. Ökologische Grenzen des Wachstums scheinen für Modernisten wie Schröder und Blair (im Unterschied zu Giddens) nicht existent zu sein. Aber auch aus rein ökonomischer Sicht ist kaum zu erwarten, dass dauerhaft ausreichend hohe Wachstumsraten erzielt werden, die über den Produktivitätszuwächsen liegen. Das wäre eine wesentliche Voraussetzung, um die Arbeitslosigkeit spürbar zu reduzieren.

In dem Maße, in dem sich die Politik der modernen Sozialdemokraten der Logik der Standortkonkurrenz unterordnet, wird dem internationalen Sozialkosten- und Steuersenkungswettlauf kein Einhalt geboten. Nicht eine "zivile Bürgergesellschaft" wetterleuchtet dann am Horizont, sondern eine durch tiefe Gräben zerfurchte soziale Landschaft lässt Gemeinsinn wie Human Resources verdorren.

Die sich abzeichnende stärkere Privatisierung von Risiken und die Rhetorik der Pflichten der Bürger, der Arbeitslosen im Besonderen, lässt die angestrebte "Erneuerung der sozialen Demokratie" recht problematisch erscheinen. Die Relativierung der sozialen Rechte des Bürgers etwa durch den Pflichtdiskurs leistet der neoliberalen Sozialstaatskritik Vorschub, die die sozialen Sicherungsfunktionen des Staates grundsätzlich in Frage stellt und allenfalls eine minimale soziale Grundsicherung für akzeptabel hält. In diese Richtung zielt auch die von den sozialdemokratischen Modernisierern angepeilte Reform des Sozialstaats: Mehr Eigenverantwortung und private Risikovorsorge soll und könne den Bürgern zugemutet werden. Jüngere Menschen werden zu privater Kapitalbildung animiert. Solch eine Entwicklung bleibt nicht ohne Folgen. Die institutionellen Akteure (Investmentfonds, Pensionsfonds etc.) auf den globalen Finanzmärkten erhalten "fresh money", was ihre politische Macht und ihre Profite gleichermaßen fördert. Zugleich wird der Individualisierungsprozess forciert, der der staatlichen Rentenversicherung die Legitimation entzieht. Das Interesse an hohen Zinsen und Renditen, die Shareholder-Value-Mentalität verallgemeinert sich und beherrscht den gesellschaftlichen Wertekanon. Schließlich wird die Alterssicherung den Schwankungen und Unwägbarkeiten der Finanzmärkte ausgesetzt (vgl. Mahnkopf 2000).

Und wo bleibt das Positive?

Doch welche politischen Perspektiven und Projekte verfolgen die "traditionellen Linken"? Weniger Markt und mehr politische Regulierung, so könnte die politische Kursbestimmung charakterisiert werden: Re-Regulierung der Arbeitsverhältnisse und der internationalen Finanzmärkte, höhere Besteuerung kapitalintensiver Unternehmen und vermögender Haushalte, massive Arbeitszeitverkürzung bis hin zu Vorschlägen der Entschleunigung und finanziellen Absicherung eines freiwilligen Verzichts auf Erwerbsarbeit (vgl. Butterwegge 1999; Mahnkopf 2000).

Das "alte" reformistische Projekt der Zähmung des Kapitalismus wird ausdrücklich weiterverfolgt. Prinzipiell sei es möglich, die gesellschaftliche Entwicklung in eine andere, soziale und ökologische Richtung zu lenken. Dies setze aber die Bereitschaft zum Konflikt insbesondere mit Kapitalinteressen voraus. Doch ist die Realisierung eines solidarischen und ökologischen Reformprojekts letztlich nur eine Frage des politischen Willens?

Der Staat und die Parteien haben ein ausgeprägtes "Interesse an sich selbst" (Offe). Nur was als mehrheitsfähig erscheint, also Macht- und Karrierechancen im politischen Wettbewerb erhöht, wird kommuniziert. Insofern ist die Strategie der "modernisierenden Linken" nur gnadenlos realitätstüchtig. Sie setzt auf das "aufgeklärte Eigeninteresse" (Giddens) derjenigen, die Definitions- und Obstruktionsmacht besitzen. Eine rot-grüne Regierung, die die Interessen und Profitansprüche der Kapitaleigner ernsthaft beschränken wollte, würde aus Sicht der "herrschenden Meinung" den "Wirtschaftsstandort Deutschland gefährden" und damit wohl auch die politische Unterstützung der gut situierten "neuen Mitte" verlieren.

Was also kann der Staat unter den heutigen, zweifellos komplexer werdenden gesellschaftlichen Verhältnissen überhaupt (noch) leisten, welche Steuerungsleistung kann man realistischerweise vom politischen System erwarten? Der Staat bleibt wichtig, er hat grundlegende Funktionen zu erfüllen, beispielsweise einen politischen und rechtlichen Rahmen, ohne den Märkte nicht oder nur schlecht funktionieren können, zu setzen und weiter zu entwickeln. Zudem führt die Globalisierung zu einer Entgrenzung des nationalstaatlichen Handlungsrahmens. Internationale, ja globale politische Kooperationen und Institutionen werden unverzichtbar. Inwieweit dabei die Kapitallogik und -herrschaft begrenzt werden kann, muss sich praktisch erweisen. Ohne "Druck von unten" und kritische Gegenöffentlichkeit wird dies jedoch nicht gelingen. Zu bedenken ist freilich, dass die Rationalitätsansprüche politischer Steuerung auch in bürokratische Irrationalitäten umschlagen können. Nicht nur der Markt hat seine eigenen Grenzen und blinde Flecken, sondern eben auch die Politik beziehungsweise das Steuerungsmedium Macht.

Trotz seiner ausgeprägten "Selbstbezüglichkeit" kann das politische System – frei nach Luhmann – Signale setzen, abwarten, was passiert, und dies wiederum zum Anlass nehmen, weitere Signale zu setzen. Aber mit Planung und Steuerung gesellschaftlicher Prozesse hat dies nichts zu tun. Das Dilemma besteht darin, dass die Funktionsweise des politischen und massenmedialen Systems die omnipotente Selbstdarstellung der politischen Klasse fördert – mitunter wider besseres Wissen. Dies ist der Nährboden für symbolische Politik, für eine Politik des "Als-ob" – und zwangsläufige Frustration beim Publikum.

Der Charme des dritten Weges besteht in der Abwehr unrealistischer Ansprüche an den Staat, ohne das Loblied auf die segensreichen Wirkungen eines freien Marktes zu singen. Er liegt in der Förderung und im Vertrauen auf das Selbstorganisationspotenzial freier Bürger, in einer komplexer und riskanter werdenden Welt sich zurechtzufinden. Ob dies allerdings ausreicht, die vielfältigen alten und neuen Problemlagen zu bewältigen, kann mit guten Gründen bezweifelt werden.

(1) Diese neuen Klassengruppen "arbeiten den größten Teil des Tages an Computern unter dezentralisierten Arbeitsbedingungen, die nichts mehr mit den traditionellen Arbeitsbedingungen gemeinsam haben. Solche Wissensarbeiter haben keine orthodoxen rechten oder linken politischen Ansichten. ... Diese Wissensarbeiter stehen in manchen Fragen links, aber andere Fragen beantworten sie ziemlich rechts. Keine sozialdemokratische Partei, die einen Wahlerfolg erreichen will, kann diese neue Klassengruppierung vernachlässigen" (Giddens 2000, 14).

(2) "Man kann in allen Ländern (einschließlich Deutschland) sehen, dass ein Wohlfahrtsstaat Ungleichheit produzieren kann, statt sie zu reduzieren. Die Tendenz der Linken, den Märkten die Schuld an allem zu geben, ist für mich nicht akzeptabel" (Giddens 2000, 23).

(3) "In Britannien hatten wir 18 Jahre lang eine neoliberale Regierung, unter der sich die Armut ausbreitete und unter der man die öffentlichen Institutionen herunterkommen ließ. Unsere Bedürfnisse sind in vielen Aspekten ziemlich anders als in Deutschland. Es wäre dumm zu fordern, dass Deutschland das britische oder US-amerikanische Modell übernehmen sollte" (Giddens 2000,18). Dennoch könne man in Deutschland von diesen neuen Politiken lernen.

(4) Klaus Dörre unterscheidet eine britische und eine deutsche Variante des dritten Weges. Vor dem Hintergrund der Thatcher-Erfahrung bedeute der dritte Weg eine "Politik vorsichtiger Re-Regulation". Giddens klage in "abgeschwächter Form traditionelle Stärken des sog. ‚rheinischen Kapitalismus‘ ein" (Dörre 1999, 14). Allerdings finden sich in Giddens‘ politischen Schriften und Interviews zahlreiche Stellen, in denen er vor allem (vermeintliche) Schwächen und Nachteile des "rheinischen Kapitalismus" hervorhebt und mit der neoliberalen Kritik grundsätzlich übereinzustimmen scheint.

Literatur:

Blair, Tony/Schröder, Gerhard (1999): Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/99, (Dokumente zum Zeitgeschehen), S. 887-896

Butterwegge, Christoph (1999): Wohlfahrtsstaat und Wirtschaftstotalitarismus, in: Arno Klönne u.a. (Hrsg.): Der lange Abschied vom Sozialismus. Eine Jahrhundertbilanz der SPD, Hamburg (VSA), S. 193-203

Ditfurth, Christian v. (2000): SPD – eine Partei gibt sich auf, Berlin

Dörre, Klaus (1999): Die SPD in der Zerreißprobe. Auf dem "Dritten Weg", in: Klaus Dörre u.a.: Die Strategie der "Neuen Mitte". Verabschiedet sich die moderne Sozialdemokratie als Reformpartei?, Hamburg (VSA), S. 6-24

Giddens, Anthony (1999): Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt/M. (Suhrkamp)

Giddens, Anthony (2000): Die Politik des Dritten Weges, in: Heiner Flassbeck u.a.: Ein dritter Weg in das dritte Jahrtausend. Von der Standort- zur Zukunftsdebatte, Hamburg (VSA), S. 12-25

Klönne, Arno (1999): Thesen für eine Jahrhundertbilanz der SPD, in: Arno Klönne u.a. (Hrsg.): Der lange Abschied vom Sozialismus. Eine Jahrhundertbilanz der SPD, Hamburg (VSA), S. 9-16

Klönne, Arno (1999a): Die Sozialdemokratie nimmt Abschied von sich selbst, in: Kommune 7/99

Mahnkopf, Birgit (2000): Viele Wege führen ins dritte Jahrtausend, in: Heiner Flassbeck u.a.: Ein dritter Weg in das dritte Jahrtausend. Von der Standort- zur Zukunftsdebatte, Hamburg (VSA), S. 26-41

Schröder, Gerhard (2000): Die zivile Bürgergesellschaft. Anregungen zu einer Neubestimmung der Aufgaben von Staat und Gesellschaft, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 4/00, S. 200-207

Zeuner, Bodo (1999): Der Bruch der Sozialdemokraten mit der Arbeiterbewegung, in: Klaus Dörre u.a.: Die Strategie der "Neuen Mitte". Verabschiedet sich die moderne Sozialdemokratie als Reformpartei?, Hamburg (VSA), S. 131-147

 

Neue Bücher über die neue SPD

Christian von Ditfurth beschreibt in seinem historisch-politischen Essay SPD – eine Partei gibt sich auf den Identitätswandel der SPD seit ihrer Gründung. Die SPD hatte Erfolg, weil sie trotz aller Wandlungen ihren Grundsätzen treu blieb. Die Schröderisierung der SPD, ihre Unterordnung unter Kapitalinteressen, der Krieg gegen Jugoslawien et cetera verletzen dagegen sozialdemokratische Grundsätze. "Die SPD macht sich überflüssig", so die provozierende These Ditfurths. Auch wenn man Ditfurths bissiger Kritik zustimmen mag, stellt sich doch die Frage nach den Gründen dieser "Selbstaufgabe". Sind es in erster Linie Opportunismus und Karrieresucht der sozialdemokratischen Leitwölfe, die den Identitätsverlust zu verantworten haben? Der geneigte Leser erfährt leider wenig über die veränderten ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen, die die Politik und die Parteien unter Anpassungszwang setzen, so sie im Machtspiel erfolgreich sein wollen. Gleichwohl ist Ditfurths Polemik gegen Schröders (wirtschafts-)politisches Selbstverständnis und gegen die "moderne" sozialdemokratische Positionsbestimmung, wie sie etwa im Schröder-/Blair–Papier zum Ausdruck kommt, aufklärerisch in dem Sinne, dass sie die Irrwege und blinden Flecke dieser neoliberalen Neugründung der SPD deutlich macht.

Während Ditfurths Buch ein breiteres Lesepublikum anspricht, bieten die im VSA-Verlag erschienenen Bücher wohl eher für politologisch geschulte und kapitalismustheoretisch interessierte Leser eine spannende Lektüre. In den hier versammelten Aufsätzen wird eine fundierte Kritik der sozialdemokratischen Modernisierungspolitik geleistet. Zugleich werden Ansatzpunkte und Perspektiven einer erneuerten Reformpolitik skizziert, die gegenüber den vermeintlichen Sachzwängen und destruktiven Tendenzen eines globalisierten Kapitalismus nicht a priori kapituliert.

Christian von Ditfurth, SPD – eine Partei gibt sich auf, Berlin (Henschel-Verlag) 2000 (352 S., 48,00 DM)

Klaus Dörre/Leo Panitch/Bodo Zeuner u. a., Die Strategie der "Neuen Mitte". Verabschiedet sich die moderne Sozialdemokratie als Reformpartei?, Hamburg (VSA-Verlag) 1999 (176 S., 29,80 DM)

Heiner Flassbeck/Anthony Giddens/Franziska Wiethold u. a., Ein dritter Weg in das dritte Jahrtausend. Von der Standort- zur Zukunftsdebatte, Hamburg (VSA-Verlag) 2000 (160 S., 22,80 DM)

Arno Klönne/Eckart Spoo/Rainer Butenschön (Hrsg.), Der lange Abschied vom Sozialismus. Eine Jahrhundertbilanz der SPD, Hamburg (VSA-Verlag) 1999 (224 S., 32,80 DM)