Editorial

Michael Blum

Gerhard Schröder und Joschka Fischer sind leitende Angestellte dieser Bundesrepublik – zumindest, wenn man sich die Position des früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt zu Eigen macht, der sich und seine "Mitregierenden" so definierte. Nicht geistige Führung sei die Aufgabe, nicht die Rolle des "Vorphilosophierers der Nation", sondern die Wahrnehmung des Regierungsgeschäfts im Rahmen der auf Zeit erteilten Macht durch das Staatsvolk, den Souverän. Ganz nebenbei werden diese leitenden Angestellten der Deutschland AG freilich zu einer Stellungselite, die Themen und Probleme dieser Gesellschaft zur "Chefsache" (Schröder) erklärt und "Politik in erster Person" (Fischer) betreiben will.

Die Zivil- oder Bürgergesellschaft, oder im Sinne Schröders und seiner Ghostwriter die doppelt gemoppelte "Zivile Bürgergesellschaft", setzt im Rahmen des von der empirischen Sozialforschung und besonders von Helmut Klages für die letzten Jahrzehnte festgestellten Wandels der Wertorientierungen in der Bevölkerung auf die postmaterielle Werteelite. Von zent-raler Bedeutung ist dabei der Weg der 68er-Generation zur Deutungshoheit, wie Wolfgang Kraushaar in seinem im Herbst erscheinenden Buch: 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur sowie vorab in einem Aufsatz in der Zeitschrift Mittelweg 36 folgert. Demnach waren der SDS und die anderen Gruppen seinerzeit anti-elitär eingestellt. Diese Haltung habe zu einer grundsätzlichen Elitenverweigerung im traditionellen Sinne geführt, nicht aber, so lässt sich einwenden, verhindert, dass das Selbstverständnis als vorübergehende Avantgarde (was Kraushaar als Gegenbegriff zur Elite verstanden wissen will) und Bewegungsmotor sehr wohl und sehr viel mit Schmidt-Schnauzes leitenden Angestellten zu tun hat. Häuptlinge und die, die sich dafür hielten, gab es in dieser Avantgarde genug, allein an Indianern fehlte es dieser Ausprägung der 68er-Stellungselite des Öfteren. Tatsächlich mangelt es, um Kraushaar zu zitieren, "auch heute, mehr als drei Jahrzehnte danach, immer noch an einer quantitativen empirischen Sozialstudie, die genauen Aufschluss über soziale Herkunft ... Qualifikation, Berufs- und Karrieremuster bieten könnte." Für ihn stellen ein Artikel des Focus aus 1996 sowie eigene Untersuchungen wichtige Hinweise dar. Demnach seien von 120 Befragten APO-Aktivisten 20 Prozent Hochschullehrer geworden, 35 Prozent sind im Medien- und Kulturbereich gelandet, 15 Prozent in der Politik und weitere 10 Prozent in anderen Berufsgruppen. Karrieren (ein Begriff des 16. Jh., der zunächst für den schnellen Galopp des Pferdes und seit dem 18. Jh. auch für die berufliche Laufbahn verwendet wird), die für Kraushaar mit weiteren Überlegungen die Hypothese erlauben, dass die im Detail so unterschiedlichen 68er weder zu einer Funktionselite noch zu einer Führungselite geworden sind, "sondern zu einer Wertelite anderen Typs". Für Kraushaar zeichnet sich diese Elite anderen Typs durch die postmaterialistischen Wertemuster eines Ronald Inglehart aus, sodass er angesichts der Multiplikatorenrolle der 68er im Bildungs-, Kultur- und Medienbereich von einer postmaterialistischen Werteelite spricht. Auch die so genannte Potsdamer Elitestudie kommt zum Ergebnis, dass eine Mehrheit der deutschen Führungsschicht aus der Protest- und Wohlstandsgesellschaft kommt. Die Etablierung und Durchsetzung postmaterialistischer Werte sind ihm dann auch die wichtigsten Impulse von 1968. Dem überproportional hohen Einfluss in der "Deutungskultur" steht allerdings ein gravierender Mangel an Einfluss in den klassischen Feldern gegenüber. Ausnahmen bestätigen die Regeln: Abendroth-Schüler Eichel als Finanzminister, Antje Vollmer Vizepräsidentin des Bundestags ... und Joschka Fischer Außenminister der Republik. Einige sind in den vornehmlichen Machtzentren der Deutschland AG angekommen, lässt man Tucholsky ("sie glaubten, sie sind an der Macht, waren aber nur an der Regierung") in Zeiten der Konsensgesellschaft, im Zeitalter der Globalisierung und des scheinbar alternativlosen Untergangs gesellschaftlicher Gegenentwürfe außen vor. Vielleicht ist es gerade ein Versäumnis dieser wenigen 68er, die es zu einer Deutungshoheit geschafft haben, dass sie diese und die tatsächliche Problemagenda des Souveräns immer seltener – und wenn, dann oft nur reflexhaft – in Einklang bringen können.