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Europäische Union und Außenpolitik

Joscha Schmierer

Die Kunst der Zuspitzung, von der Peter Glotz schwärmte, kann barbarisch sein. Sind bestimmte Zuspitzungen erst einmal gemacht, wird es schwer, zwischen den Seiten eines Widerspruchs noch zu vermitteln. Zuspitzung kann Antagonismen konstruieren und Konfrontationen herbeireden. Philippe Delmas verfolgt mit seinem Buch Über den nächsten Krieg mit Deutschland die Absicht, durch die Zuspitzung der Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland die Notwendigkeit des Zusammenschlusses der beiden Staaten zu begründen, weil alles andere über kurz oder lang zum Krieg führen müsse. Delmas spitzt in bester Absicht zu.

"Wenn die Deutschen D-Mark sagen, sprechen sie weder von einer Währung  noch von der Wirtschaft. Sie sprechen über sich selbst, über ihr Bedürfnis nach Stabilität und die einzige Sache, die ihnen ein Gefühl von Sicherheit geben kann: ihre Wirtschaftskraft, die sich in der Stabilität ihrer Währung ausdrückt. Sie führt ein eigenes Dasein, ist ein Ding für sich und nicht bloß ein Zahlungsmittel." Seit es einen deutschen Staat gebe, sei das Vertrauen in die Währung immer eine Voraussetzung für das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen gewesen. Mit der Währung sei in Deutschland die Identität im Spiel. Diese Verquickung könnten die Franzosen schwer nachvollziehen, weil sie ihre Währung seit dem 12. Jahrhundert "zu einem einfachen Werkzeug des Königs, zum handlichen, machtstrategischen Gegenstand gemacht" hätten.

Damit erklärt sich für Delmas, warum bei den Auseinandersetzungen um den Euro "in Deutschland ein Währungspopulismus existiert wie in Frankreich ein Souveränitätspopulismus: ebenso instinktiv, ebenso demagogisch, doch ebenso real". Die Debatte in Frankreich war mit der Demokratieproblematik aufgeladen und zielte genauso auf die neue Unabhängigkeit der französischen Nationalbank wie auf die zukünftige europäische Währung. Umgekehrt bestand in Deutschland der Verdacht, die anderen Mitgliedsstaaten seien nicht gleichermaßen an stabilem Geld interessiert und verhinderten durch ihre Beteiligung, dass der Euro jemals so stabil wie die Mark werden könne. Identität und Souveränität wurden so auf beiden Seiten des Rheins, wenn auch auf jeweils spezifische Weise, mit einander verquickt. Keineswegs waren die Diskurse völlig andersartig.

Schon lange treten sich die Nationen in schwierigen europapolitischen Entscheidungen nicht mehr als geschlossene Blöcke gegenüber. So ist der Nutzen einer Zuspitzung gering, wonach Frankreich angesichts der Globalisierung an seiner Souveränität verzweifle, während Deutschland nach der Wiedervereinigung sich nun wieder selbst gegenüberstehe und darüber in eine Identitätskrise gerate.

Wären freilich die beiden Staaten, wären die Franzosen und Deutschen tatsächlich auf entgegengesetzte Weise von der Situation traumatisiert – was sollte dann das "Vorhaben einer gemeinsamen Macht" den beiden Ländern und Europa bringen? In der europäischen Integrationspolitik funktioniert es nicht, die Widersprüche erst zu Gegensätzen zu stilisieren, um dann umso nachdrücklicher größeren Zusammenhalt einzufordern. Delmas entwickelt seine ganz nach innen gerichtete politische Rhetorik zwar in europäischer Absicht. Diese Absicht hätte jedoch wenig Chancen, wenn die EU noch derart von nationalen Dichotomien geprägt wäre. Der Verlag hat das Buch als Eine Streitschrift aus Frankreich untertitelt. So verdeckt er ihre politische Unübersetzbarkeit. Delmas ist nicht irgendwer. Als ENA-Absolvent war er 1991 bis 1993 Sicherheitsberater des französischen Außenministers Roland Dumas. Seither ist er im Management des Airbus-Unternehmens tätig.

Hubert Védrines Nüchternheit ist zugänglicher als die nach innen gerichtete, hochdramatische Rhetorik von Philippe Delmas. Der französische Außenminister hat mit Dominique Moisi, einem einflussreichen französischen Politikwissenschaftler, mehrere Gespräche geführt. Sie sind unter dem Titel Les cartes de la France à l’heure de la mondialisation erschienen. Die deutsch-französischen Beziehungen, so sagt Védrine dort, seien nach einer Phase des Stillstands mit dem Sommer 1999 durch gemeinsame Bemühungen um eine langfristige Zukunftsvision für Europa wieder in Schwung gekommen: "Wie weit kann die Union geographisch reichen und institutionell gehen? Diese grundlegende Arbeit habe ich zusammen mit Joschka Fischer ab Herbst 1998 in Gang gebracht. In Helsinki hat sie schon erste Ergebnisse erzielt, weil teilweise so die deutsch-französischen Divergenzen über die Erweiterung aus den letzten Jahren im Vorfeld überwunden werden konnten. Eine Reihe dieser Überlegungen haben auch seine Rede über die Föderation in Berlin inspiriert."

Das erweiterte Europa von morgen müsse möglichst stark sein und "wir wollen, daß in welchen Strukturen auch immer, Frankreich weiterhin den größten Einfluß ausübt". In der beginnenden Debatte zeichneten sich zwei große Lösungsvarianten ab: "Die Pragmatiker wollen in dem erweiterten Europa von morgen den Staaten, die mehr gemeinsam machen wollen, einen größeren Spielraum geben. Die Föderalisten sehen ein Europa der zwei Geschwindigkeiten entstehen mit einem festen Kern einiger Länder als Zentrum (Föderation von Nationalstaaten, Gravitationszentrum). Den einen oder den anderen Weg einzuschlagen, wird eine historische Entscheidung bedeuten, die demokratisch getroffen werden muß. Vorläufig müßten im Rahmen der Regierungskonferenz die ,verstärkten Zusammenarbeiten‘ erleichtert werden, um der Europäischen Union die Mittel zum Vorankommen zu geben und den Rahmen zu schaffen für die ehrgeizigsten Projekte, wenn sie Zustimmung finden." Ein theoretischer Streit über den Charakter der Union sei zu vermeiden.

Statt ihm ausweichen zu wollen, könnte man versuchen, sich auf das Neuartige der EU zu konzentrieren. Das war die Absicht eines Symposiums Demokratisches Regieren in Europa? Zur Legitimation einer europäischen Rechtsordnung. Es ist noch nicht lange her, dass sich die Rechts- und Sozialwissenschaftler über die alte Kontroverse, ob die EU eher ein Staatenbund oder ein Bundesstaat sei und sein solle, hinwegsetzen und stattdessen die EU als "politisches und rechtliches System sui generis" zu begreifen versuchen. In den Beiträgen zu diesem Symposium wird damit Ernst gemacht. Als besonders hartnäckige Verständnisbarriere erweist sich das Staatsmodell des 19. Jahrhunderts. Die "besondere Konstruktion Europas" lege es jedoch nahe, eine "konstruktionsspezifische Zusammenfügung von Legitimationsbausteinen anzustreben, wobei die Zusammensetzung der Bausteine eben anders sein kann, als wir dies von unserem zutiefst verinnerlichten nationalstaatlichen Bauplan her gewohnt sind", schlägt der Staatsrechtler Gunnar Folke Schuppert vor. Die EU als "Mehrebenenmodell" zu begreifen, wie es in diesem Band durchgehend geschieht, hilft allerdings nur weiter, wenn man sich in der Folge nicht auf eine möglichst strikte "Ebenen- und Sektorentrennung" kapriziert, sondern den Blick auf die "Durchdringungsprozesse von Nationalstaat und Europa" richtet.

Wird der "Prozeß der Europäisierung mit seinen gravierenden Auswirkungen auf den Nationalstaat" als "Sonderfall der Internationalisierung" begriffen, dann kann der Verkehr zwischen den EU-Staaten – noch weniger als in der Staatenwelt allgemein – ganz traditionell als "Außenpolitik" verstanden werden. Deren Kritik widmet sich Ekkehard Krippendorf in einer Sammlung von Aufsätzen, wobei ihm Richelieu als paradigmatische Figur gilt. Zumindest in der Kritik der Sprache kann man Krippendorf folgen: "Beständig nimmt der außenpolitische Diskurs Zuflucht zu Bildern, Vergleichen und Analogien, werden Begriffe aus völlig fremden Disziplinen wie Physik und Chemie übernommen ..." Besonders beliebt ist die Seefahrt als Bildquelle, wenn etwas aus dem Ruder läuft oder Russland ins Boot geholt wird. Aber die Sprachwelt der Protagonisten sagt wenig über ihre Rolle aus. Richelieus finden in der UNO-Welt höchstens noch in der Westentasche Platz.

(Kasten): Welt im Notizbuch

Ryszard Kapuscinski ist kein Mann des Diktiergerätes. Sich überstürzenden Ereignissen kommt man nicht mit Hektik bei. Seine Reportagen wirken überlegt und solide. Sie täuschen nichts vor. Kapuscinski ist ein Mann der Anschauung und – wie man früher gesagt hätte – der Feder. Nach Lapidarium lässt er sich nun mit Die Welt im Notizbuch ein zweites Mal in die Werkstatt schauen, zeigt er die Instrumente und das Material, womit er arbeitet, und reflektiert seine Methode.

"Bevor ich ,Imperium‘ schrieb, hätte mein Wissen über die Sowjetunion ausgereicht, um am Schreibtisch ein Buch über das zerfallende Reich zu verfassen. Psychologisch wäre ich dazu jedoch nicht in der Lage gewesen, wenn ich nicht 6000 Kilometer durch Rußland gereist wäre, und das unter so schlimmen Bedingungen, daß ich ein paarmal drauf und dran war, das ganze Unternehmen aufzugeben. In solchen Momenten sagte ich mir: ,Ich bin nicht stark genug, es ist zu kalt, es gibt nichts zu essen, keinen Weg, um dorthin zu gelangen, kein Quartier.‘ Natürlich hatte ich ein wenig Geld, aber was ist schon Geld in einem entlegenen sibirischen Ort, wo es nichts zu kaufen gibt? Ich zwang mich, diese Reise fortzusetzen, um etwas mehr zu verstehen." Mit dem Geburtsjahrgang 1932 war er schon bei dieser Reise nicht mehr der Jüngste. Ob er nicht zu alt sei für so was, fragt er sich indessen nicht. Daran hindert ihn sein Erfahrungshunger. Der darf nicht mit Sensationslust und Aktualitätssucht verwechselt werden:

"Unser Gedächtnis wird immer kürzer. Wir werden Zeugen des Verschwindens des historischen Bewußtseins. Die Geschichte wird ersetzt durch die Collage. Die heranwachsenden Generationen haben keine Ahnung, was vor zwanzig Jahren war. Aus diesem Bruch mit der Vergangenheit ergibt sich die Frage, wie man schreiben soll, damit nicht alles schon am nächsten Tag Makulatur wird. Anfang Dezember 1991, als ich am ,Imperium‘ schrieb, mußte ich nach New York fahren. In den Schaufenstern der Buchhandlungen lagen viele neue Titel, die sich mit der Frage beschäftigten, ob und wie die Politik Gorbatschows den Erhalt der Sowjetunion sichern könne. Ihr Erscheinungsdatum war gleichzeitig ihr Verfallsdatum. Wie kann man vermeiden, daß das eigene Schreiben ebenso rasch überholt wird? Meine Antwort ist die Essayisierung der Prosa."

Anschauung kann nicht naiv in Bilder und Bildbeschreibungen umgesetzt werden:

"Das Bild wird heute vom Fernsehen monopolisiert. Wenn wir in der Prosa die Beschreibung eines Bildes verwenden wollen, dann kann das nur erfolgreich sein, wenn dieses Bild Ausgangspunkt für eine Reflexion ist. In der Reportage verwende ich nur Bilder, die den Hintergrund für eine Reflexion abgeben. Das Fernsehen vermittelt ständig neue Bilder der Welt, ist jedoch nicht in der Lage, diese um Reflexionen zu bereichern. In dieser Verbindung von Bild und Reflexion sehe ich die Lösung."

Ein gutes Beispiel für eine solche Prosa ist die Minireportage "Brest 1996" in diesem Buch. Am Fahrkartenschalter in Brest dauert es und dauert. Man verlangt eine Fahrkarte nach Paris oder Brüssel, zahlt in Valuta und die muss umständlich in weiß-russische Rubel umgerechnet werden. Die Schlange windet sich. "Man kann nichts machen, nichts verbessern, nichts beschleunigen. Die beiden durch ein kleines Fenster getrennten Welten stehen einander gegenüber, zwei Kulturen, zwei unterschiedliche Zeitmessungen. In der Konfrontation zwischen der Welt von Brest und der Welt von Paris und Brüssel trägt jedesmal Brest den Sieg davon. Denn Brest läßt sich nicht an der Nase herumführen oder gar zur Eile antreiben. Brest hat seine eigene Zeitrechnung, und nach der muß hier alles ablaufen. Dazu kommt, daß Brest sich lustig macht über die arrogante und naive Theorie des Westens, daß Geld alles vermag. Selbst wenn du der Kassiererin ein ganzes Bündel Dollar unter die Nase hältst, wird sie dir keine Fahrkarte verkaufen: Keine Plätze mehr, sagt sie und knallt das Schalterfenster zu." In Brest bleibt Brest bestimmend. Die Situation bei der Zollabfertigung ist beklemmend wie eh und je. Zuletzt und am Ende aller Prozeduren hält ein Soldat die Reisenden in Schach, bevor sie den Zug besteigen können. "Alle wissen genau, daß die andere Welt zum Greifen nahe ist, ihre ganze Reise jedoch noch einmal zum Ausgangspunkt zurückgeschickt werden kann. Hier sitzt ein Stempel nicht an der Stelle, wo er hingehört ..."

Und dann füllen ein paar junge Russen das Nebenabteil. Ihre Lieder sind zunächst hergebrachte russische Folklore. "Schließlich beginnt einer zu singen: ,Artilleristi, Stalin dal prikaz‘ (,Artilleristen, Stalin hat befohlen‘). Lachen brandet auf, dann wird es still im Abteil. Artilleristi ..." Auch das ist gebrauchsfertiges Liedgut.

Wie in Lapidarium finden sich neben vielen klugen Überlegungen, die sich oft zu schlagkräftigen Aphorismen zuspitzen, anschaulichen Minireportagen und aufschlussreichen Gesprächsaufzeichnungen auch in diesem Buch Gedanken-Stücke, in denen sich feine Kritik am Zeitgeist mit groben Ressentiments mischt. Gegenüber dem Fernsehen etwa macht sich im überlegenen Kritiker der hoffnungslose Konkurrent bemerkbar. Ähnlich ambivalent ist die Reflexion des Generationenwechsels: "In der Welt kommt die Generation der Glatten an die Macht." Die Glatten taugen nichts, sind aber stark.

Philippe Delmas, Über den nächsten Krieg mit Deutschland. Eine Streitschrift aus Frankreich, Berlin (Propyläen) 2000 (224 S., 34,00 DM)

Hubert Védrine, Les cartes de la France à l’heure de la mondialisation, Paris (Fayard) 2000 (192 S., 95,00 FF)

Wolfgang Heyde/Thomas Schaber (Hrsg.), Demokratisches Regieren in Europa? Zur Legitimation einer europäischen Rechtsordnung, Baden-Baden (Nomos Verlagsgesellschaft) 2000 (108 S., 48,00 DM)

Ekkehart Krippendorff, Kritik der Außenpolitik, Frankfurt/M. (edition suhrkamp) 2000 (236 S., 19,90 DM)

Ryszard Kapuscinki, Die Welt im Notizbuch. Aus dem Polnischen von Martin Pollack, Frankfurt am Main (Eichborn Verlag) 2000 (336 S., 39,80 DM)