Nehemias Enkel

Israelische Notizen

Marko Martin

"Wenn er schrieb, dann für einen Leser wie er selbst: für einen Bastard, der keinen Bund geschlossen und kein Versprechen erhalten hatte und für den es nur die Gewissheit gab, dass der Himmel schwieg."
Robert Stone: Das Jerusalem-Syndrom

Für Ravé

Porträt des Autors als Kind: Ein doppeldeutsches Kind, das – zwei Jahre zuvor erst in den Westen gekommen – nun im Sommer 91 kurz nach dem Ende des Golfkrieges nach Israel reist, einem biografischen Detail auf der Spur, das Klärung bringen soll, vielleicht sogar – horribile dictu – einen neuen Menschen mit wundersam verwickelter Identität. Und es war in Yad Yashem, unter dem wolkenlosen Himmel von Jerusalem, es war vor der Halle der Namen, als das Kind die Obszönität seines Versuchs zu ahnen und erwachsen zu werden begann; zu einfach, zu anmaßend, hierher zu reisen, als wäre das Land ein Konfektionsladen zur Ausstaffierung von Identitäten. Das Kind – verwirrt, beschämt, unter der Last seines grünen Reiserucksacks schwitzend und den Tagessatz der Schekel in seiner ledernen Brusttasche immer wieder nachzählend – verließ den Ort, nahm den nächsten Überlandbus von Jerusalem nach Tel Aviv, verstrickte sich in amouröse Abenteuer irgendwo zwischen Allenby Street und dem Strand von Yafo. Suchte und fand neue übergeordnete Gründe für seine Anwesenheit, seine Euphorie an diesem Ort. Ah, die Demokratie! Eine offene Gesellschaft unter Palmen, die sich gegen Diktatoren – Assad in Damaskus, Saddam in Bagdad, Arafat im tunesischen Exil – zu wehren wusste! Der Staat der Überlebenden, in dem die jungen Leute – Gott, wie schön sie waren! – am Strand Ball spielten, schwer bewaffnet (und noch immer schön) in ihren Zahal-Uniformen patrouillierten, keine Angst einflößten und dem empathischen Ostwest-Kind das Gefühl gaben, nun doch an einem größeren Zusammenhang teilzuhaben. Lächerlich? Vielleicht. Vor allem wohl rührend. Stoff für einen Roman, in dem später noch andere Orte auftauchen würden: Berlin, Paris, Cannes ...

Selten zuvor war ich entspannter gereist. Die Fahnen des ersten Romans bis wenige Stunden vor dem Abflug in Tegel korrigiert (kein autobiografisches Thema, auch diese Gefahr schien gebannt) und nun – nach neun Jahren – via London wieder nach Tel Aviv: Eine Erinnerungsreise, durch den selbst gestellten Recherche-Auftrag und den drängenden Wunsch der Literaturagentin ("Fang an zu schreiben, damit es Form annimmt") hoffentlich vor jeder retrospektiven Sentimentalität bewahrt und ganz und gar dem Praktischen geweiht: Hier als normales, inzwischen elftes Reisetagebuch mein gelb marmoriertes Notebook, dort das blau marmorierte Buch im gleichen handlich quadratischen Format, das für die Arbeits-Skizzen reserviert war.

Nein, diesmal musste ich nichts beweisen, nichts konstruieren, mich nichts aussetzen oder wie dergleichen Rammbock-Vokabeln für deutsche Roman-Recherchen und Identitäts-Findereien sonst noch lauten mögen. Nur notieren, was mir inzwischen an geographischen und atmosphärischen Details entfallen war, denn die Erinnerung an das Kind von 91 trug ich ja noch in mir. Philip Roth’ Operation Shylock als beste Reiselektüre für ironische Dialektik: Nimm dich wichtig, sehr wichtig, denn du bist einzigartig – so einzigartig, dass in Jerusalem bereits dein Double auf dich wartet, ebenso monomanisch und durchgeknallt wie du selbst.

Ankunft fünf Uhr morgens auf dem Ben-Gurion-Airport und sofort dieser geliebte Mittelmeergeruch in der Nase, unverwechselbare Mischung aus Zypressenduft und feuchtem Beton, Oleander, Staub, Benzin und dem würzigen Morgenaroma, das vom Wasser her kommt. Der Vergleich mit Marseille, als das Taxi durch die stillen Straßen von Tel Aviv fährt, vorbei an aufgerissenen Müllsäcken, um die sich Katzen balgen, maroden Villen aus der Mandatszeit mit staubigen Palmen hinter verrosteten Eisentoren, antennenübersäten Flachbauten. Das Glück, vergleichen zu können, sich anderer Städte, anderer Geschichten zu erinnern, sie in Beziehung zu setzen zu dem, was eine Art Initiation auf dem Weg hinaus in die Welt darstellte. Im Rücksitz des Taxis drehe ich den Knopf und kann es nicht fassen: Da hinten im Dunstschleier des Morgens, da liegt tatsächlich Yafo, schneeweiße Gebäude an einem grünen Hügel! Es ist, als wäre ich nie weggewesen. Und gleichzeitig, als käme all das aus einem anderen Leben. Verwirrende Balance, äußerst angenehm. Und ein kleines Hotel am unteren Ende der Allenby, wie ich es mag. Ein wenig heruntergekommen, jedoch nicht schmuddelig, ratternde Klimaanlage wie ein Zweitakt-Motor, bröckelnder Putz auf dem Balkon, aber was ist das schon gegen den Meerblick und das Bild unten auf der Straße, wo die ersten Kioske öffnen, plastikverpackte Sandwichs auf Glastheken drapiert und Orangen für die Fruchtpresse geschält werden. Dasitzen und rauchen und wissen, an diesem Morgen hier – und nur hier – und an keinem anderen Ort der Erde sein zu wollen.

Hinter dem neu erbauten Shoppingcenter (Aufpassen bei den Notizen im blauen Buch: Das gab es 1991 noch nicht!) die Rehov HaYarden, eine kleine Straße, die ebenfalls zum Meer führt: Hier lebte bis zu seinem Tod 1968 Max Brod. Auf dem Jüdischen Friedhof in Prag-Zelivského ein verwittertes Gedächtnisschild an der Mauer gegenüber Kafkas Grab und nun in Tel Aviv die Fortsetzung; Exil, neue Heimat und mit den Büchern das gerettete Gedächtnis. Im Antiquariat Landsberger, gleich nebenan in der Ben Yehuda Street, sitzt eine alte Frau, die sich selbstverständlich an den netten Herrn Brod erinnern kann, der trotz der mediterranen Hitze nur selten sein Jackett ablegte. Bei ihr kaufe ich am nächsten Tag Brods zweibändiges Bekenntnisbuch Heidentum, Christentum, Judentum. Kurt Wolf Verlag, München 1921; stockfleckige Seiten voll lebendiger Reflexionen eines weltwachen, undogmatischen Zionisten. Diesen Luxus würde ich mir in den nächsten Tagen immer wieder gönnen: Durch die Zeiten, Epochen und Milieus driften, von den Cafés zurück ins Hotel, vom Hotel zum Strand, vom Strand direkt ins Antiquariat, wo die Unmenge der Bücher Bescheidenheit lehrt. Natürlich hatte ich sie gelesen, die ebenso klugen wie warmherzigen Analysen und Israel-Bücher von Hans Habe, Friedrich Dürrenmatt, Ralph Giordano, Saul Bellow, Abba Eban, Amos Oz, Amos Elon, Teddy Kollek.

Über das Land scheint bereits alles gesagt – alle Konflikte, Traumata, Hoffnungen beschrieben – sodass man sich eigene Adepten-Analysen getrost sparen kann. Stattdessen die Dizengoff Street hochlaufen, sich an der Kreuzung zur Nordau Street an die in einem Nebenraum des Antiquariats halbversteckten Schriften Max Nordaus erinnern, ins Sonnenlicht blinzeln, Falaffel essen und Blicke zugeworfen bekommen und an der Jabotinsky Street daran denken, dass Jabotinsky (oder war es Chaim Nachman Bialik?) einmal wünschte, dass Israel außer von emigrierten Akademikern auch von Huren und Dieben bevölkert sein solle, Garant für eine beruhigende Normalität. Nun, die Blicke waren nicht von Huren und Dieben gekommen – und entsprachen dennoch so ganz dem, was Arnold Zweig bereits 1932 in seinem Roman De Vriendt kehrt heim beschrieben hatte: "Gut lebte es sich in Ländern, wo oft Regen fiel; besser aber gewisslich in den heißen Ländern, in denen die Gefühle der Menschen ohne Umschweife aufs Ziel zustießen wie die Geier, die sich vom Himmel herabfallen lassen auf das verendete Kamel am Wege." Aber nein, wie Geier sahen sie hier bestimmt nicht aus.

Aber dass ausgerechnet am Strand unterhalb des Hotel Hilton ein deutscher Journalist mit großem Hallo auf mich zustapfen und mir mitteilen muss, wer gerade noch in Tel Aviv oder "drüben in Jerusalem" sei, welche Tagungen, Konferenzen, Dinner anständen! Früher, dachte ich, wäre das der Tod gewesen. Ein mörderischer Raubzug in das persönliche Reservoir, ein Zerfetzen und Kleinreden all der eigenen Versuche, fremd und dennoch heimisch zu sein, an abgelegenem Ort Bausteine der eigenen Geschichte zu finden. Früher, dachte ich. Nun jedoch: Nicht einmal jene wohlfeilen Feuilleton-Reflexionen über das globalisierte Dorf, das Ende der individuellen Abenteuer, über die Verfügbarkeit von allem und jedem. Von wegen. Man muss lediglich Freundlichkeit heucheln, die Strandtasche nicht zu schnell schultern, damit es nicht nach Flucht aussieht, irgendetwas ausreichend Verworrenes von "Urlaub und Recherche" murmeln und sich, mittlerweile ist die Dämmerung schon nah, in Richtung HaYarkon Street davonmachen – die Flaneure dieser Welt haben fragwürdigen Verbrüderungen noch immer ein Schnippchen schlagen können. (Dass mein Eskapismus äußerst angebracht war, erfuhr ich bei meiner Rückkehr, als ich in deutschen Zeitungen las, was die nach Israel gereiste Journalistentruppe alles von sich gab. So peinigte eine Redakteurin der taz Tel Avivs armen Bürgermeister mit harschen, ökologisch überaus korrekten Fragen: "Die Konferenz von Rio war nicht erst gestern. Warum fängt Tel Aviv also erst jetzt an, sich an die nachhaltige Entwicklung anzunähern?" Der Ton erinnerte mich an einen Brief, den ich 1991 vor meiner ersten Israel-Reise erhielt, geschrieben von einem recht rechtskonservativen Geschichtsprofessor, für dessen national-pädagogische Intention die unvorhergesehene Entwicklung des Ostwestkindes eine arge Enttäuschung darstellen musste: "Nun wünsch ich dir für Israel ein wirkliches ,unter die Menschen gehen‘ und nicht nur Café-Haus-Perspektiven. Ein paar Tage Mitarbeit in einem Kibbuz bei 50 Grad im Schatten wären auch ganz hilfreich. Alle guten Wünsche für die Reise zum konservativsten Volk der Erde mit seiner 4000-jährigen Geschichte ..."

Und dann wird die Stadt in sanfter Eroberung wieder das, was sie schon immer war: mein Tel Aviv. Etwas heruntergekommen wie mein Hotel, steinerne Bauhaus-Reminiszensen, aus deren Fenstern nicht die Stille des gerade einsetzenden Sabbat dringt, sondern Radio-Lärm, Techno-Klänge, Küchengerüche, Wortgewirr. Auf den Straßen Cabrio-Gehupe, großsprecherische Gesten, Lachen, Zurufe. Die Bars und Klubs in der nächtlichen Allenby Street, wo sich alte Balkone jahrhundertemüde auf das schadhafte Trottoir herunterbeugen, unbeachtet von der Unmenge junger Männer und Frauen, die hier freitagnachts ausgelassen feiern. Einige Gesichter, die sich aus der Menge herausschälen oder sogar zu Biographien werden, denen man lauscht für eine Stunde oder auch mehr.

Irgendwann – zwei oder drei Tage später? – früh am Morgen der Gang durch die verwaisten Gassen des Carmel-Marktes, hinunter zum Meer, wo schon die ersten Angler und Jogger auftauchen und ich ein an den Holzverschlag eines Kiosk gesprühtes Graffiti sehe: Fuck the Life in IsraHell.

Was war das? Doch nicht das Gleiche, was mir der junge Soldat erzählt hatte, während er mir Rehovot zeigte, von seinem Großvater sprach, der als damals einziger iranischer Jude im Jekkes-dominierten Kibutz "Schiller" gearbeitet hatte, dann aber unvermittelt in die Gegenwart sprang und zwischen der ultramodernen Shopping Mall und dem altertümlichen Sherut-Taxi-Platz diesen Stoßseufzer loswurde: "Oh, this boring little town!"

Wir alle kommen aus boring little towns, und hören sie auf den Namen des Tel Aviver Vororts Rehovot, so darf man getrost von einer privilegierten Situation sprechen. Oder nicht? Was der Soldat erzählte, berührte deshalb so stark, weil es überall auf der Welt hätte passieren können – und doch typisch für Israel war. Wie er für seinen 18. Geburtstag Geld sparte, im Geschäft seines Vaters jobbte, um sich eine Kreuzfahrt – Haifa-Athen-Mykonos und wieder retour – leisten zu können. Um andere Länder, andere Menschen zu sehen. Aber es war Winter, die Strände von Mykonos leer und auf dem Kreuzfahrtschiff nur alte amerikanische Paare, die ihn, den traurigen jungen Israeli, sogleich begeistert unter ihre Fittiche nahmen. Trotzdem: "Es war meine erste Reise, verstehst du. Die allererste! Ohne die Mutter, die immer für dich sorgt, ohne das Land, das die einzige Demokratie im Nahen Osten ist und ohne unsere Armee, für die du kämpfst und die dich beschützt, weil wir doch alle eine große Familie sind." Er sagt es ohne Sarkasmus, ohne Hohn. "Mein Gott, dieses kleine überfüllte Land, wo sich dauernd alle streiten und du manchmal kaum atmen kannst, es ist trotz allem ein gutes Land, weißt du." Ja, ich weiß. Und bin – aufgewachsen in einem ganz anderen Land – fast neidisch auf diese schöne Ambivalenz der Gefühle, wo das Heraus-Wollen, die Träume von Amsterdam oder London, ebenso ihren Platz haben wie der Stolz auf das Weizmann-Institut in Rehovot, die pure Lebenslust am Strand von Tel Aviv – oder auch die Tränen in den Augen, weil die orthodox lebenden Eltern am Shavout die Kerzen anzünden, während er, ihr Sohn, nur kurz hereinschaut, die Uniform der Zahal gegen Jeans und T-Shirt tauscht und eine Verabredung für wichtiger hält als das gemeinsame Gedenken an den Tag, als Gott den Kindern Israels die Zehn Gebote gab. Was man bekommt und was man verliert. Was an Tradition einzwängt und stranguliert, was an ihr schützt und Kraft gibt. Die Gefahr und die Chance eines solchen Zwiespalts – auch das.

IsraHell? Das Lachen von Batya Gur, der wohl bekanntesten Autorin des Landes, klingt nicht besonders froh. Wir sitzen im Café Masaryk in Jerusalem und sprechen über das, was so viele Namen trägt. Die jüngsten Ereignisse. Die gegenwärtige Situation. Die aktuelle Lage. Das gegenwärtige Dilemma.

Ich erinnere mich, dass es in der DDR – aber auch in den linksdogmatischen Kreisen des Westens – immer hieß, eine gewisse Kritik an diesem und jenem sei zwar berechtigt, aber gerade jetzt und hier, angesichts der aktuellen Geschehnisse ... Was für ein permanentes Summen von Kritik und Gegen-Kritik dagegen in Israel. Rückzug aus dem Libanon, Assads Tod, Arafats Ankündigung in Gaza, bald den eigenen Staat auszurufen, das permanente Scheitern von Baraks Koalition! Die Ultraorthodoxen fordern von der israelischen Regierung wieder einmal zusätzliche Millionen für ihr marodes Schulsystem, wollen die Jeschiwa-Schüler per Gerichtsbeschluss vom Militärdienst befreit wissen. Erst dann – vielleicht – wird man dem Ministerpräsidenten beim Friedensprozess den Rücken stärken. Die Säkularen toben; gegen die erpresserischen Ultras, gegen den entweder zu PLO-freundlich oder zur hardlinerhaft wahrgenommenen Ministerpräsidenten. Die Religiösen toben zurück: Soll man das in der Bibel versprochene Groß-Israel für einen fragilen Kompromiss aufgeben oder ist es nicht besser, sich auf das Kernland zu konzentrieren, um es von all den verderblichen weltlichen Einflüssen zu säubern?

Batya Gur ist not amused. "Natürlich gehört Streit zur Demokratie. Aber wir übertreiben. Wir sind permanent aufgeheizt – und doch unendlich müde. Als sich die Armee endlich aus dem Libanon zurückzog, wurde es offenbar. Weder keiften die Rechten, noch jubelten die Linken. Nur diese Müdigkeit, dieser Wunsch, sich endlich um andere Probleme kümmern zu können als um Militärisches. Um die Wirtschaft, um die Zivilgesellschaft, die nicht wenige der Rabbis immer mehr zurückdrängen wollen, um die Einführung der Zivilehe, um die Achtung der Menschenrechte, die wir auch den Palästinensern schuldig sind ..." Ihre Hand beschreibt einen weiten Kreis. IsraHell? Ja und nein. Orientalische und europäische Einwanderer mögen sich nicht, Säkulare und Religiöse sind einander in herrlichem Hass verbunden, Neureiche werden immer reicher, während das soziale Gefälle zunimmt und der egalitäre Pioniergeist der Gründerzeit längst verschwunden ist, die jungen Leute sehnen sich nach einem normalen Leben; Sex&Fun&Drogen, um die Zumutungen des dreijährigen Armeedienstes zu vergessen und gleichzeitig von Gaza über Ramallah bis nach Nablus der alte Ruf, der ihnen allen in die Knochen fährt: "Itbah al-Yahud! Tod den Juden!" Batya Gur weiß keinen schnellen Rat, aber natürlich ist die charmante Frau mit dem dunkelblonden Haar keine greinende Kassandra. Die Würde der Uneindeutigkeit, der Mut zur Ambivalenz, da ist er wieder. Ihrem zuletzt auf deutsch erschienenen Roman Stein für Stein, der die Geschichte einer zunehmend fanatischer werdenden Mutter erzählt, die um das Andenken ihres bei einem fahrlässig-kriminellen Rekrutenscherz getöteten Sohnes kämpft, hat sie ein wunderbares Motto vorangestellt, Auszug aus einem Gedicht Jehuda Amichais: "An dem Ort, an dem wir recht haben,/ werden niemals Blumen wachsen/ im Frühjahr.// Der Ort, an dem wir recht haben,/ ist zertrampelt und hart/ wie ein Hof."

Natürlich habe ich mich jetzt doch noch – wie es so schön technokratisch heisst, um Gefühlsäußerungen kleinreden zu können – involvieren lassen. Das kommt, weil die Roman-Recherche müheloser verlief, als ich geglaubt hatte. Die Orte von damals sind die Orte von heute – ich hatte sie niemals vergessen, hätte sie auch von meinem Berliner Schreibtisch aus mit geschlossenen Augen beschreiben können.

Die arabische Altstadt hinter dem Damaskustor. Die stillstehende Zeit in dem dunklen Gewölbe-Gang mit seinen rechts und links abgehenden Geschäften, an dessen Ende eine kleine Holztür zum Tempelberg führt, zum Felsendom, zur Al-Aksa. Die Klagemauer und dann ein paar Gassen weiter ins jüdische Viertel hinein, wo sich die Herberge befindet, in der junge Juden aus aller Welt kostenlos übernachten können, wenn sie danach an den frühmorgendlichen Lectures teilnehmen. Meine damaligen Eskapaden, mein falsches (von links nach rechts anstatt umgekehrtes) Umblättern der Bibel-Seiten am Sabbat-Ende, das nur deshalb nicht auffiel, weil neben mir Thomy aus Budapest – Sohn von Dissidenten, deren Eltern die Thora gegen den Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU(B) eingetauscht hatten – genauso konfus herumblätterte und mir während der Zeremonie zuflüsterte, dass er vorgestern an der Westmauer Sex mit einer jungen Soldatin gehabt hatte ...

Im Sonnenlicht eines Jerusalemer Tages an den Requisiten der eigenen Erinnerungen vorbeilaufen, lächeln und über das Verrinnen der Zeit in Maßen melancholisch werden, hinüber ins Armenviertel schlendern, in das ich damals mit zwei ebenfalls überforderten New Yorker Studenten gerannt war, um wütenden Intifada-Kids zu entkommen. Long, long ago. Jetzt in diesem libanesischen Restaurant am Jaffa-Tor sitzen, Tabouleh essen, alte französische Chansons von Françoise Hardy hören, berittene Polizeistreifen sehen und die schwitzenden Horden der internationalen Touristen und nicht ohne Behagen eine Art Hochmut aufsteigen lassen über die vermeintliche Exklusivität der eigenen Geschichte. Später Tee trinken unter den Orangenbäumen im Innenhof des American Colony, wo sich in der Realität amerikanische Diplomaten, PLO-Leute und Israelis zu klandestinen Verhandlungen versammeln und im Roman Philip Roth auf seinen meschuggen Doppelgänger Philip Roth trifft, der doch tatsächlich Israel auflösen und alle Juden wieder glorreich in die Diaspora führen will. Wie sich Wirklichkeiten kreuzen, sich kaum anders als in Konflikt oder Ignoranz berühren, wie der Weg vom Damaskus-Tor zurück nach West-Jerusalem an das Gleiten auf beweglichen Zeitschichten gemahnt, wie die dahineilenden Chassidim und ihre blassen, permanent schwangeren Frauen nichts vom allabendlichen Treiben im Independent Park oder den Cafés in der Yoel Salomon wissen, von Verabredungen und schnellen Gesten und lautem, ein wenig zu lautem Gelächter über die Ultras, die es doch nie – Nie! – schaffen werden, ganz Israel in Geiselhaft zu nehmen. So!

Am anderen Tag – das fällt aus der Zeit heraus und ist gleichzeitig in ihr – der Gang nach Yad Yashem. Die Worte, die jetzt nur mühevoll in das kleine blaue Notizbuch finden. Das Wissen, dass jeder Buchstabe inadäquat angesichts des Geschehens ist. Aber schweigen – aus durchsichtigen Gründen schweigen wie im Deutschland der Fünfzigerjahre –, von Verhängnis und Tragik raunen? Dies nicht, aber doch auch nicht reden – so permanent schwafeln wie im Deutschland der Jetztzeit – wo jeder, der einmal Shoah sagt, sich glaubt andocken zu können an eine unvorstellbare Geschichte, und dies selbstverständlich als der Gute vom Dienst, der furchtlose Chronist, der Millionen von Toten um sich versammelt, um sich der eigenen Bedeutung zu versichern. Infam. Schreibe also und misstraue zugleich den Wörtern. Es hätte nicht symbolischer sein können: Eine alte, dezent geschminkte Amerikanerin bittet mich um meinen Stift, um auf eine der Steintäfelchen in der Gedenkgrotte eine Botschaft an ihren kleinen Bruder zu schreiben. Er wäre heute 65 Jahre alt, vielleicht einer der amerikanischen Pensionäre auf jährlicher Israel-Reise. Vor den Augen seiner Schwester wurde er von einem Wachmann in Auschwitz erschossen, als er sich – ein kleiner polnischer Junge im Alter von sieben Jahren – aus der Gruppe der Frauen und Kinder losriss und hinüber zu seinem Vater rennen wollte. They are all dead.

Die Frau gibt mir dankend den Stift zurück, vom Kratzen auf den Stein schreibt er nicht mehr, denn alles ist gesagt. Und meine Tränen, die plötzlich hervorschießen, nicht zurückzuhalten sind, das Gesicht nass machen, einen Schleier vor die Welt schieben? "Du sollst nicht weinen", sagt Claude Lanzman und meint es nicht als Tröstung, sondern als strenges Gebot. Du sollst dich nicht besser fühlen, dich nicht durch Tränen emotional entspannen, du sollst hinschauen und den Streichen, die dir dein auf Verdrängung gepoltes Unterbewusstsein spielt, misstrauen. Wie lange kann man das aushalten, einen Nachmittag in Yad Yashem, ein ganzes Leben?

Und was soll nachher werden?’, fragte sie, als Frau auch das Kommende bedenkend. ,Wir müssen doch mit ihnen zusammenleben.’ Er nickte finster. ,Niemand wünscht mehr als ich, alles ginge gut vorüber. Natürlich müssen wir mit ihnen zusammenleben. Sie und wir zusammen, das ist das Land. Aber sie müssen das erst begreifen.’ ,Viele von den unseren auch’, ergänzte sie." (Arnold Zweig, De Vriendt kehrt heim, 1932)

Auch dazu schien bereits alles gesagt. Ich wollte es trotzdem sehen, außerhalb der Roman-Recherche. Sozusagen als Kontrastprogramm zum Ausflug nach Amman, wo ich an der israelisch-jordanischen Grenze die schönen jungen Passbeamtinnen miteinander scherzen sah vor den freundlichen Augen alter Beduinen und einiger Israeli-Touristen, die von hier weiter zu den Felsenhöhlen nach Petra wollten.

Entspannung, Air-Condition in den Warteräumen, Coca-Cola-Automaten und hebräische und arabische Laute einmal nicht im Ton bellender Zurufe, Forderungen und Beschuldigungen ineinander verflochten.

Ich wollte das andere sehen. Gaza. Die Wirklichkeit (eine Tagesausflugs-Wirklichkeit nur, gewiss) hinter dem so drohend anmutenden Wort. Gaza. Oder, unserer Zeitungs-Wahrnehmung ungleich näher: WiederUnruhrenimGazaStreifen. Konkrete Poesie, entkernte Realität. Was hatte ich denn gehofft, stattdessen zu sehen?

Von meinem kleinen Hotel hinter dem Zions Square die Jaffa Road entlang, dann links, vorbei an den Stadtmauern des muslimischen Viertels, hinunter zum Damaskus-Tor. "Where do you go, where do yo go?"

"Gaza." Magisches, schreckliches Wort – jetzt ist es heraus. Völlig problemlos. Inmitten alter, lädierter Sammeltaxis werde ich gezupft und bestürmt und lande schließlich auf einer wellblechüberdachten Bank, vor der ein Gefährt parkt, das sich in fünf Minuten nach Gaza in Bewegung setzen soll. Das heißt, falls sich genügend Passagiere finden. Nach knapp drei Stunden ist es soweit.

Vollbesetzt – auf dem Platz vor dem Damaskus-Tor streiten, versöhnen, zupfen, rangeln sich weiter die palästinensischen Taxifahrer – fährt der Wagen los, vorbei an einer Straße, die nach Mea Shearim führt und von eilig laufenden Chassidim bevölkert ist. Ich achte auf die Blicke, die man aus dem Auto heraus auf sie wirft, entdecke weder Hass noch antrainierte Gleichgültigkeit; die Bärtigen mit den Schläfenlocken sind ganz einfach inexistent. Eine Stunde Fahrt quer durch israelisches Kernland. Ich denke an die Geschichten von zu Tode gefolterten Israelis, weil sie per Anhalter fuhren, in einen palästinensischen Wagen einstiegen und dann ... Ich müsste nur die vier alten Männer im Wagen und die zwei verschleierten Frauen fragen; ganz sicher würden sie mir sofort ihre Geschichten erzählen, ihre Märtyrer, ihre Opfer auflisten.

Der Wagen fährt an Rehovot vorbei, und seine arabischen Insassen wissen ebenso wenig von der Pionierarbeit der Jekkes im Kibbuz "Schiller" wie die Leute in Rehovot wissen – wissen wollen -, was es heißt, in Gaza zu hausen, als billiger Saisonarbeiter auf israelischen Zitrusplantagen zu schuften und jede Nacht durch ein stacheldrahtumsäumtes Nadelöhr wieder zurück zu müssen. Vorbei an Ashdod und Ashqelon und dann der Abzweig nach Eretz, dem Checkpoint. Aussteigen, 25 Schekel bezahlen und sich in die Schlange der heimkehrenden Arbeiter einreihen. Es ist bereits 14 Uhr, der Tagestrip – fast obszönes Wort – schnurrte auf wenige Stunden zusammen. Schon jetzt, wo ich inmitten hunderter müder, nervöser Menschen warte, die große Bündel und Plastiksäcke mit sich herumschleppen, mit ihnen unter einer unbarmherzig prasselnden Sonne stehe, nehme ich mir vor, immer auf die Uhr zu schauen, um die letzten in Richtung Jerusalem abfahrenden Sammeltaxis nicht zu verpassen. Stacheldraht, Wachtürme und ein Durchgang, der sich immer mehr verengt, bis er zu einer winzigen Schneise wird, alle paar Meter von einem Drehkreuz unterbrochen. Ich schaue nach oben. Irgendwelche Vorrichtungen hängen dort; wahrscheinlich für den Fall, dass es wieder einmal jene UnruhenimGazaStreifen gibt und die Arbeiter zwischen den Drehkreuzen festgehalten werden müssen. Die Warteschlange bewegt sich langsam vorwärts, irgendwelche Chipkarten werden durch den schmalen Spalt eines vergitterten Wachhäuschens geschoben, in den auch ich meinen Bundespass reiche. "Oh my God!"

Die junge israelische Soldatin sieht mich an, als käme ich vom Mond, fragt nach dem Zweck meines Hierseins, lacht, schüttelt den Kopf und bittet mich, einem ihrer Kollegen zu folgen. Die Mechanik des Drehkreuzes muss umgestellt werden, die übermüdeten Arbeiter schauen mich ausdruckslos an, nehmen mein entschuldigend gemurmeltes Shukrom ktir wortlos zur Kenntnis. Das VIP-Büro des Checkpoints hat Aircondition und erinnert an die Rezeption einer amerikanischen Privatklinik. Hier lacht man nicht, gibt mir stattdessen kommentarlos ein Einreiseformular und weiß angeblich auch nicht, wie ich am besten nach Gaza-Town komme. "You will see."

Ich laufe ganz allein eine breite, menschenleere Asphaltstraße entlang, rechts von einer Betonwand gesäumt, links von Wellblechplatten, hinter denen es summt: Genau dort muss das Nadelöhr für die Tagelöhner sein.

Die schwarz gekleideten palästinensischen Polizisten am Ende der Straße mustern mich schon neugieriger, drehen und wenden den Pass hin und her, verweisen auf irgendeinen Verwandten, dessen Taxi mich ins Zentrum bringen wird.

Feilschen um den Preis, Beschwörungen, You’re my brother-Rhetorik; es ist das Übliche. "A quiet day", sagt der Fahrer, als er sieht, wie ich meinen Blick nicht von der Gegend abwenden kann. Verrostete Mülltonnen, aus denen Rauch aufsteigt, ausgeschlachtete Autokarossen am Straßenrand, Häuserruinen wie nach einem Bombenangriff und dazwischen Kinder, die mir begeistert zuwinken. Auch der Taxifahrer ist freundlich – obwohl ich, als ich aussteige, mitnichten im Stadtzentrum bin, sondern irgendwo an der Peripherie zwischen Gewürzläden, Marktständen und Kassetten-Händlern. Jeder von ihnen überbietet sich, mir zu helfen, Straßennamen zu notieren, die besten und schnellsten Wege zu beschwören, ein Taxi heranzupfeifen, das wiederum einem Verwandten gehört und das mich nun wirklich ins Stadtzentrum bringt. Was will ich sehen? Die Große Moschee, Arafats Palast, Napoleons Zitadelle, den liebevoll restaurierten norwegischen Garten, die an andere, normale mediterrane Vororte erinnernden weissen Häuser der Oberschicht? Ich sehe es, lasse im Kopf Informationen abspulen – gerade hat die norwegische Regierung alle Subventionen für den Gaza-Streifen gestoppt, nachdem Millionen in die Taschen von Arafats Clan wanderten, anstatt dem Gemeinwohl zugute zu kommen –, versuche Gehörtes, Gelesenes und soeben Gesehenes zu verbinden und weiß doch, dass es zum Scheitern verurteilt ist. Vor dem Institut Français lasse ich den Wagen halten.

Kürzest-Trip in Richtung Hoffnung: Ja, sagt mir der Leiter in seinem Büro, man bietet Sprachkurse an, organisiert Konzerte und gibt sogar die monatliche Revue Ici & là heraus, die in französischer Sprache über das kulturelle Leben im bald entstehenden Staat Palästina berichtet. Sein Enthusiasmus steckt an, aber die "Where do you come from? Ah, Berlin! Hitler-good"-Sprüche von Arafats ebenfalls freundlicher Palastwache dämpfen naturgemäß die Stimmung, sodass ich lieber – in diesem Moment wenig mehr als ein verwöhnt-irritierter Tourist – zum Strand hinunterlaufe. Mich zwischen Glasscherben und scharfkantigen Metallteilen hindurchlaviere, mit Verblüffung sehe, wie sich hier Kinder blutige Fersen holen, von ihren Müttern theatralisch betrauert werden und anschließend weiter durch den schmutzigen Sand rennen. Komme den bittenden Forderungen nach, Fotos von Wasserpfeifenrauchern zu machen, die unter Sonnenschirmen sitzen und auf den Hafen schauen, den man aufgrund der vielen lecken oder bereits auf Grund gelaufenen Schiffe nicht fotografieren darf. Biege rechts in das berüchtigte Beach-Camp ein. Sage mir mit Erleichterung, dass dies natürlich kein Warschauer Getto für Palästinenser ist, rechne mir klug, überklug, vor, wie viel man – selbst hier auf engstem Raum – hätte machen können, würde der gleiche Geist herrschen wie bei Israels Gründervätern vor über einem halben Jahrhundert, denke an die sichtbar veruntreuten EG-Millionen, erinnere mich aber gleichzeitig an das arrogante Gesicht des Israeli-Offiziers, der in seinem VIP-Büro thronte, als wäre er der Direktor eines Zoos.

"Do you want Taxi?" Auf der unbefestigten, müllübersäten Straße eine Staubwolke aufwirbelnd, hält ein Wagen. Sofort steige ich ein. Neben mir winken wieder Kinder. Ich versuche den Mut zu finden, ihren Gruß zu erwidern.

The Arabs? But they are animals!" Der Satz kam genauso spontan wie die Information ein paar Minuten vorher, dass der Soldat, der jetzt im israelischen Sammeltaxi von Jerusalem nach Tel Aviv neben mir sitzt, Sänger in der Armee sei, dazu ausgebildet, mit seinen Liedern die Kameraden zu motivieren. "Hora, Hava Nagila, all this stuff. And the Songs of Danna."

Danna International, die Transsexuelle, deren Grandprix-Sieg von ganz Israel mit Ausnahme der tobenden Religiösen und homophoben Rechten bejubelt worden war? Natürlich. Und übrigens – und während er das sagt, kein scheuer Blick auf womöglich missmutig reagierende andere Fahrgäste – gibt es auch einen Antidiskriminierungs-Paragraphen, der Schwulenfeindlichkeit in der Armee unter Strafe stellt, darüber hinaus Militär-Psychologen, die die jungen Gays betreuen: Auch ihr gehört zu Israel, wir sind ein moderner Staat, und wenn die Europäer Nachhilfe in Sachen multikultureller Demokratie brauchen, sollen sie sich hier umsehen. Und die Araber? They are animals. Wie passt das zusammen? Friedenswillen im Abstrakten, Abgrenzung gegenüber Religiösen und Rechten, der jüdische Respekt vor dem Leben als höchstem Gut und dazu dieser unbändige Hass, nur mühsam hinter einem Grinsen versteckt?

Weil der Soldat Angst hat. Weil er bei den Patrouillen im Westjordanland und in Ostjerusalem dieses ungute Gemisch aus Sentimentalität und Brutalität gespürt hat, Familienbande, die nichts außerhalb ihrer Tradition gelten lassen, keifende Mütter und Sonnenblumenkernespuckende Väter – ein Interieur wie aus dem Mittelalter. Weil der Soldat weiß, dass es Ähnliches auch in Israel, nicht zuletzt bei den orientalischen Juden, gibt. Weil es ihn Jahre seines Lebens gekostet hat, sich davon frei zu machen. Also singt er jetzt MG-bewehrt und in Zahal-Uniform Transen-Hits, um sich so vor den Arabern zu wappnen. Verrücktes, hinreißendes Land; Ralph Giordano gab einem seiner Bücher den Titel Israel, um Himmels Willen Israel. IsraHell?

Und wieder die Techno-Beats in den Straßen von Tel Aviv am Sabbat-Abend der darauf folgenden Woche. Ein einziger Autokorso die Uferstraße entlang, Gedränge vor den Discotheken. Das gleiche outfit, die gleichen Rhythmen wie in den Klubs der westlichen Großstädte, doch etwas ist anders. Ein Gefühl für die Fragilität der Demokratie, ein Auskosten aller Freiheiten, als könnte es morgen mit dem Beginn irgendeiner Despotie schon wieder zu Ende sein. Ein Bewusstsein aber auch – nicht bei allen, aber doch bei bemerkenswert vielen jungen Israelis, mit denen ich sprach – der eigenen Fehlerhaftigkeit, des eigenen Anteils am Konflikt mit den Arabern. Ein Wille zur radikalen Selbstkritik, zu der die andere Seite wohl noch in hundert Jahren nicht fähig sein wird.

Es war vor allem diese eine Geschichte in der Bibel, die mich als Kind tief berührt hatte – der Wiederaufbau des Tempels nach dem Ende des babylonischen Exils, nachzulesen in Kapitel 4 des Buchs Nehemia. Und so bauten die Davongekommenen ihr Heiligtum wieder auf, die Maurerkelle in der rechten, die Waffe zum Schutz gegen marodierende Banden in der linken Hand. Und heute? Die Uzi links und rechts die flatternde Regenbogenfahne? Zu idyllisch, um wahr zu sein. Die Schutz verheißenden Mauern scheinen brüchig wie zu Nehemias Zeiten, als dieser das Unrecht innerhalb der Stadt beklagte, scheinen im Inneren und durch die Attacken von außen porös geworden zu sein.

Letzte Szene im Tower Records gegenüber meinem Hotel: Ich suche die CD von Izhar Cohens Grandprix-Titel A Ba Ni Bi, verirre mich jedoch in die Klassik-Abteilung und sehe neben der Kasse alle von Mozart bis Brahms greifbaren Requium-CDs aufgereiht. An der Wand ein schwarz umrahmtes Porträt Hafis al-Assads. "Keine Angst, wir sind auf alles vorbereitet", sagt lächelnd der Verkäufer. Unten dann im Erdgeschoss auf einem Bildschirm die CNN-Bilder von Assads Beerdigung: Eine Fäuste schüttelnde, wehklagende und immer wieder durch voranschreitende Agitatoren in Stimmung gebrachte Volksmenge. Der Ton jedoch ist abgedreht, aus den Lautsprechern dringt Trance-Techno. "Unsere Nachbarn, die Raver." Israelischer Humor, in seiner Derbheit der Furcht vor der Zukunft abgerungen.

Ich verstaue mein gelbes und mein blaues Notizbuch im Rucksack. Und suche schon jetzt nach einem Vorwand, hierher zurückzukehren.