Brief aus Österreich:

Ihr wollt uns saktionieren?

Gerhard Fritz

In Österreich brennen keine Asylantenheime. In Österreich können Ausländer noch über die Straße gehen, ohne von Neonazis erschlagen zu werden.  Sollen wir uns von den Deutschen was über "europäische Werte" erzählen lassen? Das hat Kanzler Schüssel – etwas höflicher – seit der Regierungsbildung verbreitet. Er scheint jetzt bestätigt. So zu denken und zu reden, wird gesellschaftsfähig, nicht mehr nur am Stammtisch. Dass diese Art von Aufrechnung gesellschaftsfähig wird, sagt über Deutschland wenig aus, viel mehr über die Struktur der österreichischen Öffentlichkeit.

Mit Genugtuung wälzen die Wochenmagazine die immer gleichen Bilder und Interviews seitenlang aus – allein die immer gleichen Fotos drängen die Frage auf, ob die "Welle der rechtsradikalen Gewalt" in der BRD nicht doch ein Sommerloch füllender, sich selbst verstärkender Medien-Hype ist.

Symptomatisch ist die Argumentation des Herausgebers Christian Ortner im Format, der Nachrichten-Illustrierten mit der höchsten Auflage, übrigens nicht im Geruch der Regierungsfreundlichkeit. Er schreibt in einem Kommentar eine "Ansichtskarte an Herrn Schröder" (7.8.99): "Die Umstände im von Ihnen regierten Nachbarland sind derzeit nicht anders zu beschreiben denn als zivilisatorischer Skandal ersten Ranges. Keine Woche vergeht mittlerweile, ohne daß irgendwo in Deutschland ein ausländischer Mensch erstochen, totgetrampelt oder erschlagen wird ... meist zur klammheimlichen Freude eines gewissen Teils der Bevölkerung und unter den Augen einer offensichtlich hilflosen Polizei. ... Als Betreiber der ,Sanktionen‘ gegen Österreich haben Sie uns ja deutlich zu verstehen gegeben, daß Innenpolitik in der EU auch Sache aller Partner sei ... Wir müssen uns, bei allem schuldigen Respekt, daher erlauben, Ihr eigenes Argument aufzunehmen. Sie finden, daß es mit dem Geist der Union nicht vereinbar ist, daß in Wien eine Rechtsaußenpartei in der Regierung sitzt; wir hingegen meinen, daß es mit dem Geist der Union noch viel weniger vereinbar ist, daß in einem Mitgliedsland der Union – Ihrem nämlich – Ausländer mit deutscher Präzision im Monatsrhythmus ermordet werden ... Für den betroffenen Ausländer geht es in erster Linie nicht darum, ob die jeweilige Regierung als politisch korrekt oder nicht korrekt gilt, sondern in erster Linie darum, ob er um sein Leben fürchten muß oder nicht." Eine Woche später legt er noch nach (12.8.00): "Dieser Unterschied – dort ein Land, in dem das Unvorstellbare wieder vorgestellt werden muß, hier ein Land, in dem das nicht der Fall ist – ist nicht marginal, er ist entscheidend: Von den Sprüchen eines (Wiener FPÖ-Vorsitzenden) Hilmar Kabas oder aber von Baseballschlägern marodierender deutscher Naziskins traktiert zu werden, ist manchmal ein Unterschied zwischen Leben und Tod. Diesen Unterschied zu marginalisieren, ist den Opfern gegenüber Zynismus pur."

Dagegen argumentiert der Doyen der politischen Kommentatoren und frühere profil-Herausgeber Peter Michael Lingens im profil (12.8.00): "Während Deutschland sich sorgt, wie Europa reagieren wird, ist Österreich empört, daß Europa reagiert hat." Er verweist zuerst auf die andere Ausgangslage (die ökonomischen Folgen der Wiedervereinigung und das "kulturelle" Erbe des SED-Staates, die die überall in Europa vorhandene "Fremdenfeindlichkeit zum Fremdenhass gesteigert" haben). Für Lingens ist der entscheidende Unterschied: "Der Abstand aller großen deutschen Parteien zur rechtsradikalen und zur Neonazi-Szene ist erheblich größer als jener der FPÖ. Kommentatoren, die diesen qualitativen Unterschied übersehen, fehlt das Augenmaß." Leider ist PML damit in einer Minderheiten-Position, obwohl er den Kernpunkt trifft.

Auf den gleichen Punkt weist ausgerechnet Ministerpräsident Stoiber in einem news-Interview (17.8.) hin – der weiß ja, wovon er spricht, dass "rechts von mir kein Platz" zu sein hat, zumindest im demokratischen Spektrum. Stoiber, der die Sanktionen für Unfug hält und sicher kein Gegner der blau-schwarzen Regierung ist, unterstreicht den unbedingten Abstand aller Parlamentsparteien von der rechtsradikalen Szene und verweist auf die Geschichte: Das gesamte politische System der BRD hat sich in der Auseinandersetzung und Abrechnung mit dem Nationalsozialismus entwickelt, in Österreich war die "Vergangenheitsbewältigung" unzureichend. Mir scheint das auch – trotz einzelner Figuren wie Globke unter Adenauer oder gewisser Landesministerpräsidenten mit Vergangenheit als Nazi-Scharfrichter – im Kern und was das politische System betrifft, richtig zu sein.

Der "Gründungsmythos" der Zweiten Republik, und darauf haben HistorikerInnen in den letzten Jahren verstärkt (aber wenig gehört) hingewiesen, mag in der innen- und weltpolitischen Situation nach 1945 "lebensnotwendig" und aus achtbaren Motiven gestrickt gewesen sein – aber er hatte furchtbare Folgen: Österreich war "das erste Opfer der Hitler’schen Aggressionspolitik", wie die Alliierten in der Moskauer Deklaration 1943 feststellten, und leistete seinen eigenen Beitrag zur Befreiung. Dieser Gründungsmythos verdeckte erfolgreich, dass Österreich, im Verhältnis zur Bevölkerungszahl, einen höheren Anteil von Nazi-Bonzen, KZ-Schergen und Kriegsverbrechern hatte als das "Altreich". Hinter diesem Mythos verschwanden die Kriegerdenkmäler auf dem Land, wo auch die Toten von Stalingrad "für die Verteidigung der Heimat" gefallen sind. Dieser Mythos ignorierte, dass die Mehrheit der ÖsterreicherInnen 1945 als "Zusammenbruch" und nicht als "Befreiung" in ihrem Alltagswortschatz führte. Wir waren Opfer, die neue Republik unschuldig wie ein neugeborenes Kind, und Wendehals Renner, der zweifache Staatsgründer, der 1933 "freudig Ja" zur Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich gesagt hatte, verschickte Ergebenheitsadressen an den werten Genossen Stalin.

Hinter dieser Lebenslüge – die erst in den Waldheim-Jahren von Kanzler Vranitzky mit einer mutigen Parlamentsrede durchbrochen wurde, in der (1985!) die Mitverantwortung Österreichs für die Naziverbrechen offiziell eingestanden wurde – gediehen dumpfer Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit; "wir" konnten ja sagen, dass nicht alles unterm Hitler schlecht war (siehe die "anständige Beschäftigungspolitik", die Haider noch im Kärntner Landtag gelobt hatte), denn wir waren ja "Opfer", nicht Mittäter, also per definitionem unschuldig. In unserem Land kann mehr von dem braunen Bodensatz als gerade noch gesellschaftsfähig durchgehen, und kann von machtgeilen Populisten besser mit codierten Anspielungen an diesen Bodensatz agiert werden, als in jedem anderen europäischen Land.