Perfektionierung, Neuschöpfung, Unsterblichkeit

Die Fragwürdigkeit der biotechnologische Utopien in den New Sciences

Martin Altmeyer

Mit den Erfolgen der Humangenom-Forschung schießen die Projektionen über Patentierung, Menschenverbesserung und allerlei medizinische Heilsversprechungen ins Kraut. Die Euphoriker des "Bauplan des Lebens" aber gebärden sich wie Mechaniker und Cartesianer, die glauben, die Evolution beherrschen zu können. Mit solchen Vorstellungen läuft alles auf eine latente Eugenik zu. Der Autor plädiert gegen die Selbstverständigung der naturwissenschaftlichen Forschergemeinde für eine interdisziplinäre Diskussion, die lernt, zwischen wünschenswerten, verantwortbaren Visionen und ethischen Entgrenzungen zu unterscheiden.

Waren es zu Beginn des 20. Jahrhunderts die mächtigen Utopien der großen Industrie und der sozialistischen Revolution, aus denen die neue Welt und der neue Mensch hervorgehen sollte, so sind es hundert Jahre später die biotechnologischen Machbarkeitsvorstellungen, die sich an der Entdeckung des unvorstellbar Kleinen und seiner kapitalistischen Verwertung im Rahmen des "molecular manufacturing" entzünden. Ein später Spross der Krupp-Familie, Vorstandsvorsitzender eines der größten deutschen Biotech-Unternehmen (das nach seinem kürzlichen Börsengang steigende Aktienkurse verzeichnet), verkörpert geradezu genealogisch die Tradition des revolutionären Pioniergeistes, der bereits seinen Urururgroßvater Alfred zum ebenso risiko- wie erfolgreichen Einstieg in das Eisenbahngeschäft trieb. Das noch so junge "Biotech-Century" (so der Titel eines Bestsellers des ökologisch argumentierenden Technologie-Kritikers Jeremy Rifkin) ist von einem solchen publizistischen Trommelfeuer eingeleitet worden, dass uns schon nach wenigen Monaten die Ohren dröhnen und die zweifelnde Frage übertönt wird, ob wir es hier wirklich mit einem wissenschaftlichen Fortschritt ohnegleichen zu tun haben, der uns mit exponentieller Beschleunigung zu den letzten Geheimnissen des Lebens selbst treibt, oder ob wir als Zeugen der Entzifferung des Humangenoms bloß die Geburtsstunde einer hysterisch inszenierten neuen Utopie erleben, die – vergleichbar den grandiosen Zukunftsvisionen bei der letzten Jahrhundertwende – die faszinierte Welt in ihren Bann schlägt und unsere narzisstischen Grössenphantasien beflügelt. Es geht um die Auflösung der Dimensionen von Raum und Zeit, um die Verschmelzung von Mensch und Maschine. Nicht weniger als die Erlösung von den Geißeln der Menschheit wird versprochen: die Abschaffung der Erbkrankheiten; die Heilung von Alzheimer, Parkinson, Krebs oder Aids; die Verlängerung des Lebens bis hin zur Unsterblichkeit.

Die revolutionäre Rhetorik der neuen Wissenschaftsreligion

Die Übernahme der Evolution steht an, wenn man den Versprechungen der neuen Utopie glauben darf. Ihre verführerischen Sprachfiguren entnehmen die Verkünder der "Neuschöpfung des Menschen" allerdings den alten Utopien, und die Rhetorik der radikalen Umwälzung aller Verhältnisse kommt uns bekannt vor: Der wissenschaftlichen werde unvermeidlich die ökonomische und soziale Revolution folgen, lautet übereinstimmend das Credo des szientistischen Determinismus. Es sind die entfesselten Produktivkräfte, so könnte man altmodisch, aber eben auch verräterisch übersetzen, welche die überkommenen Produktionsverhältnisse sprengen werden – die Dialektik des Fortschritts, ob neo-darwinistisch oder neo-marxistisch, ist bekanntlich unaufhaltsam. Genmanipulierte Pflanzen und tierloses, aus Zellen gezüchtetes Fleisch würden das Welternährungsproblem lösen; durch therapeutisches Klonen ließen sich ohne chirurgischen Eingriff Organe ersetzen; intelligente Nanoboter könnten in den Gefäßen des Körpers patrouillieren und Reparaturfunktionen übernehmen, aber auch Gedanken und Gefühle im Sinne einer virtuellen Realität von innen erzeugen (Ray Kurzweil). Im Kreis der Diskursführer wird zwar noch gestritten über das Tempo und die Gefahren dieser Entwicklung (Bill Joy), aus dem "inneren Zirkel der Revolutionäre" meldet sich der eine oder andere alte Kämpfer zu Wort und gibt seinen Dissens zum "kybernetischen Totalismus" zu Protokoll (Jaron Lanier). Im Kern sind sich die Protagonisten der New Sciences – zu denen neben den Bio-Wissenschaften auch die Robotik und die Nanotechnologie gehören – aber darin einig, dass der Mensch in der Lage ist oder in Kürze sein wird, seine genetische Reproduktion in die eigene Hand zu nehmen und sie den Kontingenzen der Natur zu entwinden. Sie geraten öffentlich höchstens in Zwist darüber, ob diese Entwicklung nach zu vereinbarenden Regeln gesteuert oder dem freien Spiel der (marktwirtschaftlichen) Kräfte und dem faustischen Forschungsdrang überlassen werden soll.

Die FAZ hat sich – im Vorfeld der Erfolgsmeldungen des Humangenom-Projekts und unter der Führung ihres Mitherausgebers – der anhaltenden kulturalistischen Ignoranz gegenüber dem wirklichen Fortschritt bezichtigt und das eigene Feuilleton den charismatischen Verfechtern des biotechnologischen Paradigmas geöffnet. Nicht ohne im Abgesang an das "Café Sartre" (meinen sie wirklich das Café "Flore" oder das "Deux Magots" in Paris oder handelt es sich um eine hübsche Verschiebung vom verhassten "Grand Hotel Abgrund" der Frankfurter Schule, um dessen Hinscheiden es dem Unbewussten eigentlich geht?) der kritischen Intelligenz und der skeptischen Wissenschaft in Europa Lebewohl zu sagen. Frank Schirrmacher, den wir als ehrgeizigen Vertreter des gebildeten Konservativismus kannten, fordert die verschlafenen Intellektuellen des alten Kontinents ultimativ zur informationstechnologischen Nachschulung und zum Abschied von geisteswissenschaftlicher Melancholie auf sowie die beamteten Naturwissenschaftler zur unternehmerischen Privatinitiative und zur Öffnung gegenüber der Bio-Industrie. Regelmäßig lässt er von den abenteuerlichen Schauplätzen der neuen Revolution in den USA berichten oder bereist fasziniert höchstpersönlich die Zentren des Zukunftswissens, wo die Protagonisten der Szene sich weniger von den Romanen eines Thomas Mann als von Star-Trek-Filmen und Sciencefiction animieren lassen. Neuerdings hat er freilich entdeckt, dass auch Hans Castorp von Beruf Ingenieur war, und mit Settembrini als Zeugen auf die ethymologische Verwandtschaft dieser Berufsbezeichnung mit dem Genie verwiesen (in dem wiederum das Gen steckt, sollten wir schmunzelnd ergänzen). Und zur kulturellen Eingemeindung meint er darauf hnweisen zu müssen, dass Bill Gates ein Faible für Leonardo da Vinci hat, Craig Venter die Route von Kolumbus nachgesegelt ist, Jaron Lanier sich mit altägyptischer Musik und Ray Kurzweil sich mit Shakespeare-Gedichten befasst.

Die großartigen Computer-Architekten und Erfinder denkender Maschinen, die technologisch orientierten Biochemiker, die visionären Wissenschaftsapostel seien – so Schirrmacher – die wahren Schüler des Zauberbergs: das "Personal der neuen Gründerzeit", dem er eine Art Porträt-Galerie in seiner Zeitung widmen möchte. Wie ein Vermarktungsspezialist oder Trendforscher übernimmt er schwärmerisch die Formel vom größten gesellschaftlichen Umwandlungsprozess aller Zeiten, der den Menschen "die Urkraft der Evolution ... die Zeit selbst in ihre Hände gelegt" hat. Er redet in der Sprache seiner neuen Cyber-Freunde von einer zukünftigen Software, "die zur Standardmatrix des menschlichen Erbguts wird", und verlangt vom Abendland nicht nur den geistigen Nachvollzug der technologischen Nachmoderne, sondern auch die Mitschrift am neuen Code. Dürfen wir an die Verkündigung der biotechnologisch bestimmten Zukunft also noch mit ideologiekritischem Vorbehalt und vernünftiger Skepsis herangehen, oder sind das überholte und weltfremde Ressentiments einer vergangenen Zeit, die dem revolutionären Wissen und den ungeahnten Möglichkeiten der New Sciences nicht gerecht und vom Sturm des Zukunftsoptimismus zu Recht weggeblasen werden? Sollen wir den Sehern des Unheils in ihren Mahnungen folgen und uns der vorausgesagten Apokalypse heldenhaft entgegenstellen, oder sind Zweifel angebracht an der Gültigkeit der revolutionären Prognosen, am Geltungsbereich, den sie beanspruchen, und an der Wissenschaftlichkeit der Erkenntnisse, auf die sie sich berufen?

Erkenntnis und Interesse

Erkenntnis und Interesse sind bekanntlich generell schwer voneinander zu trennen, besonders schwer aber im Bereich der New Sciences, wo die Trennungen von Grundlagenwissenschaft und Anwendung, von Forschung und Technologie, von Erfindung (als der Erweiterung des Wissens) und Entdeckung (als Erweiterung des Könnens) fließend geworden sind. Kurzweil oder Joy repräsentieren, wie auch Venter, einen neuen Typus des reich gewordenen omnipräsenten Wissenschaftsunternehmers, der Hochbegabung und Forschungsdrang mit alerter Geschäftstüchtigkeit gut zu verbinden weiß, lukrative Patente hält, eigene Firmen betreibt, andere Firmen ebenso berät wie den amerikanischen Präsidenten und einen gekonnten Umgang mit den Medien pflegt. Die enormen finanziellen Mittel, die in die Bio-Wissenschaften fließen, verdanken sich nicht zuletzt diesen Marketing- (und Selbst-Vermarktungs-)Spezialisten und den Gewinnerwartungen, die sie überzeugend versprechen. Und nicht zufällig stammt ein Großteil der in die New Sciences investierten Summen aus dem Überschusskapital der New Economy, mit dem jene Verschmelzung von Computerindustrie, Nanotechnologie und Robotik in den biotechnologischen Forschungslabors finanziert worden ist, die das Humangenom-Projekt so rasant beschleunigt hat. Dass die Nachricht von der Entzifferung der molekularen Bausteine des menschlichen Lebens die Welt zunächst über die Börsenticker erreichte und die Aktienkurse der Biotech-Unternehmen umgehend steigen ließ, belegt auf sinnbildliche Weise diese enge Verbindung. An den Patentierungen und den Anwendungen in der Medizin und Pharmaindustrie wird sich einiges verdienen lassen, und die Konkurrenz auf  dem milliardenschweren Markt ist bereits in vollem Gange.

Zu Recht entzündet sich die moralisch-antikapitalistische Empörung am Versuch, die neuen Entdeckungen als Erfindungen auszugeben und entsprechende Patente anzumelden. Auch wenn die klassische Grenze zwischen Wissen und Können schwieriger zu ziehen ist: Das menschliche Erbgut ist nicht patentierbar, es gehört der Menschheit. Die geschäftlichen Interessen der Bio-Industrie diskreditieren aber keineswegs per se die Seriosität der wissenschaftlichen Erkenntnisse, aus deren Anwendung sie ihren Gewinn zu ziehen hofft. Diese bedürfen einer eigenen Prüfung, insbesondere da, wo sie mit Aussagen über die Conditio humana insgesamt den Geltungsbereich der Biologie verlassen und darüber hinaus für weit reichende Prognosen verwandt werden, die nicht nur den zukünftigen Fluss unserer geistigen und materiellen Ressourcen beeinflussen, sondern auch das Selbstverständnis der Gattung berühren. Auch der hohe Ton und die unangenehme Aufdringlichkeit der Technikpriester entwerten noch nicht die Wahrheiten, die sie verkünden. Jenseits oder besser: Vor allen ästhetischen und ethischen Urteilen stellen sich jedoch Fragen der humanwissenschaftlichen Validität der bisher präsentierten Ergebnisse der Bioforschung, deren Unanschaulichkeit einen immensen Spielraum für phantasievolle Auslegungen und unzulässige Extrapolationen eröffnet. Was sind Erkenntnisse, was bloße Behauptungen und wie begründet sind sie? Was also wissen wir wirklich, und was wissen wir nicht?

"Handschrift Gottes", "Bauplan des Lebens", "molekulares Skript" – irreführende Metaphern der Humangenetik

Nach der ersten Euphorie hat sich inzwischen herumgesprochen, dass es sich bei dem entschlüsselten Humangenom gerade nicht, wie behauptet, um einen Text handelt, dessen Sprache uns zwar noch unbekannt ist, aber dessen Buchstaben, Worte, Grammatik wir jetzt nach und nach entziffern würden. Es handelt sich um eine Folge von molekularbiologischen Zeichen im Kern jeder Körperzelle, deren Zahl und Anordnung wir nun kennen. Nur ein Bruchteil dieser Zeichen sind Träger von Erbinformationen, also Gene im eigentlichen Sinn, wir wissen nicht welche. Der große Rest ist möglicherweise biologischer Müll aus den Überschüssen der Evolution oder Reservematerial für zukünftige Entwicklungen, oder er enthält Hilfsanweisungen für die Feinregulierung der genetischen Anweisungen – wir wissen es ebenso wenig, wie wir die Funktion der einzelnen Gene ausreichend kennen. Es gibt innerhalb des Genoms Wechselwirkungen der Gene untereinander und vielleicht auch mit den uncodierten Bestandteilen der schier endlos langen, aber unendlich kleinen DNS-Fäden, auf denen die molekularen Bausteine angeordnet sind – wir kennen die Art dieser Interaktionen nicht. Noch weniger wissen wir über den Austausch zwischen Genom, Zelle und umgebendem Organismus. Die literarischen Metaphern von Buchstaben, Schrift und Lesbarkeit unterstellen einen Sinn, der sich uns – bisher wenigstens – weitgehend entzieht. Die zweite Phase der gentechnologischen Forschung, bei der es darum geht, was die entscheidenden Gene sind, was sie tun bei der Proteinproduktion und welche Informationen und Funktionen sie schließlich den Proteinen weitergeben, wird lange dauern. Um es zusammenzufassen: Unser Wissen über die molekularbiologischen Prozesse im hochinteraktiven Netzwerk der Biochemie des Lebens ist immer noch geringer als unser Nichtwissen. Und ob das Humangenom für sich genommen jemals als sinnvoller Text im Sinne eines Drehbuchs der menschlichen Entwicklung zu lesen sein wird, ist höchst zweifelhaft (ich gehe auf diese biogenetische Variante der Hermeneutik gleich ein).

Angesichts der exponentiellen Beschleunigung des Wissensfortschritts und der technologischen Möglichkeiten gegenüber den bisherigen Zeiträumen der evolutionären Entwicklung sei absehbar, dass uns das fehlende Wissen bald – in zehn oder zwanzig oder dreißig Jahren, noch in dieser Generation – zur Verfügung steht, lautet die Prognose der Zukunftsoptimisten. Wenn der Bauplan des Lebens erst einmal vollständig bekannt sei, lasse er sich auch durch gentechnische Eingriffe in erwünschter Weise verändern. Nun, auch die architektonische Metapher ist irreführend, weil sie einen biochemischen Determinismus unterstellt, der den Menschen zum blinden Resultat seiner genetischen Programmierung erklärt. In solchen Vorstellungen herrscht ein naiver Kausalismus, für den menschliches Leben aus seiner natürlichen Grundlage entsteht wie der Apfel aus dem Kern. Müssen wir die Kybernetiker bei ihren züchterischen Phantasien oder wissenschaftsreligiösen Ausflügen wirklich an die nicht-linearen Grundlagen ihres eigenen Metiers erinnern? Der Mensch entwickelt sich nicht nur innerhalb seines Organismus in einem Geflecht von komplexen somatischen Funktionen und vielfach rückgekoppelten biochemischen Prozessen. Er ist vom embryonalen Zustand an auf Interaktionen mit seiner Umwelt angewiesen, in denen er später seelische Funktionen ausbildet, sich mit anderen Menschen seiner Umgebung identifiziert oder sich von ihnen abgrenzt, sich in ihnen spiegelt, ein Selbstbild gewinnt, Verhaltensweisen erprobt, festigt und revidiert, Charakterzüge und moralische Einstellungen entwickelt. Selbst ein vollständiges Wissen über die Wirkungsweise seiner genetisch festgelegten Erbinformationen würde ein höchst unvollständiges Bild über den Menschen ergeben, dessen Subjektivität sich gerade intersubjektiv generiert.

Argumente einer Neurobiologie nach ihrer kopernikanischen Wende

Das lineare Entwicklungsmodell der Biotechnologie ist epistemologisch naiv. In den Modellierungen des humangenetischen Reduktionismus zeigt sich aber nicht bloß eine mangelnde erkenntnistheoretische Reflexion und die Ignoranz sozialwissenschaftlicher und psychosomatischer Erkenntnisse über menschliche Identität. Gerade die Neurobiologie – auf die sich die Priester der künstlichen Intelligenz gerne berufen, wenn sie den biotechnologischen Sehern die Vorlagen liefern für ihre abenteuerliche Zukunftsphantasie eines durch Nanoboter ergänzten oder ersetzten Gehirns – hat für solche Modelle keinen Raum mehr. Längst hat sie sich von der cartesianischen Suche nach dem Homunkulus im Kopf verabschiedet und begreift das menschliche Gehirn als eine kunstvoll dezentralisierte Netzwerkarchitektur, deren Verschaltungen vermittels interaktiver Erfahrungen entstehen, und das neuronale Selbst als eine Konstruktion, die den Blick aus der dezentrierenden Perspektive des Anderen voraussetzt. Es gibt offenbar keine topographischen Zentren für bestimmte cerebrale Repräsentationen, deren Muster bilden sich durch Aktivierung und Deaktivierung bestimmter Areale in der Zeit und im ständigen Austausch mit der Umwelt.

Die krude Phantasie einer Übernahme der Evolution zeugt von einer wissenschaftstheoretischen Blindheit, die Wolf Singer, Leiter des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt/M., den biotechnologischen Priestern generell bescheinigt und schon in Sloterdijks Züchtungsphantasien erkannt hat (FAZ, 6.10.99). Als Mitspieler der Evolution sei der Mensch prinzipiell nicht in der Lage, das Meta-Wissen zu erlangen, das nötig sei, sie zu beherrschen. Die Vorstellung einer steuerbaren Evolution sei eine "nicht einlösbare Utopie", die Gentechnik eigne sich nicht "zur Realisierung von Zarathustras Visionen". Ein nicht-linearer selbstorganisierender Prozess wie die Evolution oder auch die menschliche Ontogenese lasse sich, wenn überhaupt, höchstens ex post rekonstruieren; der Versuch, ihn durch gentechnische Eingriffe zielgerecht zu manipulieren, scheitere in der Regel bereits an der Interdependenz der Gene im Genom, erst recht aber an der Unvoraussagbarkeit des weiteren Entwicklungsprozesses, der durch komplexe Wechselwirkungen mit der Umwelt gekennzeichnet sei. Die Züchtung von Eigenschaften unterstellt eine eindeutige Beziehung zwischen Gen und Merkmal, die höchstens für einfache körperliche Merkmale wie die Haar- oder Augenfarbe gelten kann; komplexe Merkmale des Erlebens oder Verhaltens entziehen sich dem genetischen Zugriff.

Die kopernikanische Wende in der Neurobiologie ist überdies von einem Paradigmenwechsel begleitet, den die Prediger der Mensch-Maschine-Verschmelzung verpasst haben. Hardware und Software sind im Gehirn nicht zu unterscheiden, die Struktur selbst macht seinen Inhalt aus. Intelligenz ist deshalb nicht als bloße Frage der Software zu behandeln, wie es die Architekten der "spirituellen Maschinen" tun, die an ihren Programmen für künstliche Intelligenz basteln. Außerdem erfasst ein Computer sinnlose Zeichen und keine Bedeutung. Das war schon vor Jahren der Einwand des Sprachphilosophen John Searle gegen Alan Turing, der die prinzipielle Ebenbürtigkeit und potenzielle Überlegenheit des Computers gegenüber dem Gehirn behauptete und Vater des berühmten Turing-Experiments ist, das diese Behauptung einmal beweisen soll: ob eine Denkleistung von einem Menschen oder einer Maschine stamme, ließe sich von einem Beobachter irgendwann nicht mehr unterscheiden. Die an diese Idee anknüpfende Vorstellung von Kurzweil, eines Tages die Inhalte des Gehirns als Programm (Software) zu speichern und sie in einen neuen cerebralen Träger (Hardware) einzuscannen und dadurch vor dem Verfall zu retten, bevor den alternden Träger die Sklerose oder der Hirntod ereilt, ist – man muss es so deutlich sagen – hanebüchener Unsinn. Lanier hat die gesamte KI-Forschung als eine Form religiöser Beschäftigung charakterisiert und ironisch darauf hingewiesen, dass dieses Glaubenssystem direkt verantwortlich ist für Lieferung miserabler Software, die schon den durchschnittlichen Computer-User im Alltag zur Verzweiflung treibt. Die Maschine werde nur deshalb eines Tages den Turing-Test bestehen, weil wir unser Denken den schlichten Computer-Programmen angeglichen hätten.

Die Biotechnologie folgt immer noch dem monadologischen Paradigma vom Menschen als einem somatisch abgegrenzten Naturwesen, das sich aus seinem genetischen Potenzial von innen heraus entwickelt. Die Außenwelt erscheint ihr lediglich als hemmender, fördernder oder modifizierender Faktor in diesem endogenen Prozess. Was sagt sie dann aber zur Entdeckung von "mirror neurons", einem kürzlich entdeckten Typus von Nervenzellen, der das cerebrale Substrat für intersubjektive Prozesse der Nachahmung, der Einfühlung, der Interpretation von Handlungen anderer zu sein scheint? Dieses Spiegelsystem hat eine entscheidende Funktion bei der motorischen und sprachlichen Entwicklung und bildet so etwas wie das neuronale Korrelat der kommunikativen Anlagen des Menschen, die ihn allererst konstituieren (und nicht etwa sekundär der Monade hinzugefügt werden). Die Sprachphilosophie seit Wittgenstein, die pragmatische Sozialpsychologie seit Mead, die intersubjektivistische Psychoanalyse seit Winnicott haben längst erkannt, dass der Prozess der Individuierung handlungs-, sinn- und sprachvermittelt verläuft, vom Außen zum Innen über das Zwischen – und nicht umgekehrt. Auch Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns oder Honneths Anerkennungstheorie markieren diesen Paradigmenwechsel in den Humanwissenschaften, den die biotechnologische Forschung mit ihrem interdisziplinär resistenten Tunnelblick übersehen hat.

Die Facts der Genom-Forschung – und die Bedenkenlosigkeit der Anwendungstechnologien

Belege für die wissenschaftlich zweifelhafte Grundlage der biotechnologischen Schöpfungsutopie liefert aber auch die Genforschung selbst. Wenn man die Frage nach dem spezifisch Menschlichen des Humangenoms stellt und es mit den Erbinformationen anderer Lebewesen vergleicht, zeigen sich überraschende Befunde. Das Genom des Huhns etwa umfasst vier Milliarden Basenpaare, also eine Milliarde mehr als das des Menschen, der etwa gleich viele Bausteine auf seinen DNS-Fäden versammelt wie Katze, Schaf oder Rind. Die Ähnlichkeiten sind nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ verblüffend. Mit der Backhefe teilen wir etliche Gene. Die Abweichung unserer Erbanlagen von denen des Schimpansen beträgt 1,5 Prozent und damit etwa genauso viel wie die genetischen Unterschiede zwischen den Individuen unserer Spezies. Auf der anderen Seite zeigen Feldmaus und Hausmaus genotypisch weit größere Differenzen, obwohl sie sich phänotypisch sehr ähneln. Und weiter: Die genetischen Abweichungen zwischen menschlichen Rassen oder Populationen über Länder- und kontinentale Grenzen hinweg sind wesentlich geringer als die durchschnittlichen interindividuellen Unterschiede innerhalb derselben Population.

All das spricht dafür, dass die Evolution dahin tendiert, die einmal entwickelten Erbanlagen auch in den höheren Lebewesen zu erhalten, und dass die Unterschiede zwischen Mensch, Tier und Pflanze auf einer geringen genetischen Variation beruhen – wenn sie überhaupt darauf beruhen und nicht auf einer besonderen Interaktion von Genen oder einer zeitlich unterschiedlichen und funktionell differenzierten Aktivierung im Lauf des Wachstums. Nicht einmal die phantastisch breite morphologische Variation zwischen den verschiedenen Lebewesen lässt sich also an ihrer genetischen Ausstattung erkennen. Erst recht aber kann die große Varianz selbst in den äußeren Merkmalen der Spezies Mensch nur zu einem geringen Anteil durch die Besonderheiten des individuellen Genoms erklärt werden, und noch weniger ihre kognitiven und emotionalen Strukturen sowie Verhaltensweisen. Die differenzielle Wirksamkeit und Zielgerechtigkeit des direkten Eingriffs in die molekulare Anatomie bleibt vorerst eine wissenschaftsutopische Schimäre – oder sie gleicht dem Flügelschlag des berühmten Schmetterlings in China, der auf den verschlungenen Wegen chaotischer Prozesse den Sturm in Europa entfacht. Kann man auf dieser fragwürdigen Basis die wunderbaren Anwendungsfelder der biotechnologischen Grundlagenforschung betreten, wo sich die Fragen der Ethik und der Moral, des Verhältnisses des Menschen zu sich selbst und zur Zukunft seiner Gattung praktisch stellen? Man kann offenbar – und öffnet auf diese Weise die Büchse der Pandora.

Wir wissen nichts über die langfristige Wirkung genetisch manipulierter Nahrungsmittel – das hindert die Industrie keineswegs daran, sie als unbedenklich auf den Markt zu bringen, und James Watson, der humangenetische Methusalem, gibt ihr seinen Segen. Das Klonen, also die Herstellung eines erbgleichen Zwillings, hat sich schon im Falle eines ordinären Schafes  als reiner Zufallstreffer herausgestellt – im Nachhinein allerdings, nachdem "Dolly" zunächst als gelungenes Beispiel für das gentechnologische Potenzial gefeiert worden war –, dennoch wird bereits das "therapeutische Klonen", also der Ersatz kranker Organe durch Züchtung aus Zellmaterial, für die nahe Zukunft propagiert. Die Arzneimittelindustrie fördert die (in Deutschland verbotene) Embryonenforschung inklusive der Erforschung pluripotenter, das heißt noch nicht spezialisierter Stammzellen, um die Wissensgrundlage für eine kausal wirksame Zelltherapie bei der Parkinson- und Alzheimer-Erkrankung, bei Diabetes, bei Leber- und Herzerkrankungen zu schaffen – Austin Smith, einer der führenden Vertreter dieser Forschung aus Großbritannien, hat für diese Zwecke ein europäisches Patent zur Herstellung transgener Tiere ("including human beings") beantragt und erhalten, das erst nach massiven Protesten unter anderem der deutschen Regierung auf "nichtmenschliche transgene Tiere" beschränkt worden ist. Gerade wurde von der an diesem Patent beteiligten Bio-Firma aus Australien die Erfolgsmeldung in die Welt gesetzt, im Mäuseversuch sei die Herstellung von Organen aus embryonalen Stammzellen gelungen, das "therapeutische Klonen" beim Menschen – dieser "Köder der Utopie" (Hans Joas) – also nicht mehr weit. Und das "reproduktive Klonen" – die eigentliche Utopie – ist wieder ein Stück näher gerückt.

Die Kenntnis der eigenen Erbanlagen und genetischen Belastungen wird als präventives Wissen verkauft, das zu entsprechend klugem Verhalten führen und vor den prädikativen Erkrankungen schützen soll – gleichzeitig wird in Einstellungsuntersuchungen der Personalabteilungen und bei Versicherungsträgern der genetische Chip dazu verwandt, Träger potenzieller Erberkrankungen von der Beschäftigung oder dem Beitritt zur Solidargemeinschaft wegen zu hoher Risiken auszuschließen. Dabei sind diese genetischen Risiken statistische Wahrscheinlichkeitsaussagen, die empirisch nichts über den einzelnen Träger aussagen – dennoch wird allen Ernstes den Frauen, die womöglich nie in ihrem Leben erkranken werden, die vorsorgliche Brustentfernung empfohlen, wenn sie genetisch belastet sind. Die In-vitro-Fertilisation, ursprünglich für Eltern entwickelt, die sonst keine Kinder haben könnten, hat die Präimplantationsdiagnose nach sich gezogen, mit der die im Reagenzglas erzeugten Embryonen vor ihrer Einpflanzung in die Gebärmutter auf Abweichungen untersucht werden können – damit ist die Aussicht auf genetisch geprüfte perfekte Babys eröffnet und einer Shopping-Mentalität der Weg gebahnt mit fatalen Folgen für die "Haftung" der Eltern und den Umgang mit dem Unperfekten.

Latente Eugenik in der utopisch entsprungenen Bio-Szene. Ein Rückholungsappell

Der gesamte biotechnologische Diskurs ist von einem unausgeführten Subtext bestimmt, der das Kranke, das Schwache, das Mangelhafte ins Visier nimmt und seinen utopischen Gehalt an der Beseitigung des Defizitären orientiert. Intelligentere und großzügigere Menschen hatte Sloterdijk gefordert; schönere, größere, schlankere, schnellere, ausdauerndere Menschen werden verlangt werden; bald stehen kommunikativere, verträglichere, tolerantere Wesen auf dem Wunschzettel. Es sind latente eugenische Phantasien, die sich unter den neuen Visionen ausbreiten. Auch wenn die hoch gespannten Erwartungen sich praktisch nicht werden erfüllen lassen, weil der Mensch nicht als Designer-Produkt konstituiert ist, sondern sein Wesen darin zu bestehen scheint, sich selbst zu erschaffen, werden solche Phantasien praktische Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Umgang mit Behinderung und Abweichung haben.

Die Vorstellung der Evolutionsbeherrschung, die Ideen des Jungbrunnens, der ewigen Jugend, der Unsterblichkeit entstammen dem Fundus narzisstischer Macht- und Größenphantasien, den wir in Träumen, Märchen, in Sciencefiction-Produktionen anzapfen – und eben in Utopien (wo wir einmal die Sonn ohn‘ Unterlass scheinen lassen wollten). Die Psychoanalyse würde sagen, es handelt sich um die Verleugnung der kränkenden Tatsachen des Lebens, um abwehrende Antworten auf die Grenzen unserer Existenz, um Reaktionen des Unbewussten auf schwer erträgliche Bedingungen der Conditio humana. Solche Einwände wischen die Vertreter der biotechnologischen Utopie weg, weil sie sich gerade im Begriff fühlen, diese Grenzen zu beseitigen, und im Wahn befangen sind, sich zu den Herren der Evolution aufzuschwingen. Wenn die Kontingenzen der Natur beseitigt werden können, warum nicht auch die Kontingenzen des Schicksals. Wir sollten uns deshalb in Erinnerung rufen, dass auch die nationalsozialistische Ideologie eine revolutionäre Utopie war, die ihre gärtnerischen Metaphern von der Rassereinheit und der Vernichtung des Unwerten aus der zeitgenössischen Humangenetik bezog (vgl. dazu Zygmunt Baumann, Moderne und Ambivalenz). Deshalb können wir nicht auf die Selbstverständigung der naturwissenschaftlichen Forschergemeinschaft setzen und die Life-Sciences, wie sich die Bio-Sciences marketinggerecht nennen, ihren Akteuren überlassen.

Eine Meta-Diskussion ist notwendig, ein gesellschaftlicher Diskurs, in dem zunächst die losgelassene Bio-Forschung interdisziplinär mit ihren dünnen wissenschaftlichen Grundlagen und die darauf basierenden Technologien mit ihren Konsequenzen konfrontiert werden. Erst dann lässt sich erörtern, welche ihrer Utopien zu wünschenswerten und verantwortbaren Visionen werden können und welche Forschungen und Techniken unter den Kriterien des Humanen aus ethischen Gründen nicht zugelassen werden. Der Biologie selbst können wir diese Entscheidungen nicht überlassen, auch wenn sie, mit der Informationstechnologie zu einer hybriden Einheit verbunden, die Wissenschaft des anbrechenden Jahrhunderts zu sein beansprucht und selbstbewusst das verlassene Terrain der Utopie besetzt. Wo die "Neuzüchtung der Gattung" beschworen wird, ist die Gattung gefragt.

Der Beitrag basiert auf einem Artikel für die FR, ("Cyber-Gurus auf dem Zauberberg", 16.8.00). – Zum Thema siehe auch die Ausgabe 8/00 der Kommune (über Bio-Technologie, Nanotechnologie und Gentechnik von Martin Altmeyer, Fabian Kröger und Manuel Kiper); weiterhin: "Sloterdijk – Versuch einer Analyse" von Martin Altmeyer in Kommune 11/99; "Von der Knock-out-Argumentation zum kritischen Dialog. Gentechnik-Politik und grünes Regierungshandeln" von Manuel Kiper in Kommune 9/99.