Ereignisse & Meinungen

Rechtsextremismus und Verantwortungsgesellschaft

Redaktion: Michael Blum

Aufrüstung des Staatsapparats und/oder erzieherische Maßnahmen – die Diskussion der letzten Wochen um die Gewalt von rechts verläuft in Deutschland entlang dieser zwei Stränge und sie greift zu kurz: "Die derzeitige Debatte um die Eindämmung des neuen Rechtsradikalismus hat mindestens drei Schwächen. Erstens folgt sie mit der pädagogischen Doppelstrategie von Repression und Prävention einem fragwürdigen Erziehungsmodell: Die Protagonisten der rechten Gewalt sind demnach vorwiegend missratene Zöglinge, die zum Objekt von Law und Order gemacht werden. Zweitens übersieht die Diskussion die alltagskulturelle Verankerung rechten Denkens – und verfehlt die Dimension eines vormodernen Menschen- und Weltbildes, das sich in der Gesellschaft gehalten hat. Drittens über- decken viele der Ausgrenzungs- und Verbotsforderungen den Verzicht auf eine diskursive Auseinandersetzung über zentrale Fragen der Gegenwartsgesellschaft wie Einwanderung und Asyl. Gerade das offenbart ein mangelndes Vertrauen in die parlamentarische Demokratie und die Möglichkeiten der Veränderung von Mentalitäten", schreiben Martin Altmeyer und Daniel Cohn-Bendit in der taz ( 22.8.00).

Der Appell Gerhard Schröders an "die Zivilgesellschaft", den Gewalttätern mutiger entgegenzutreten, ist recht und billig, vergisst aber, das dieses Bürgertum mit dem Schröder-Konzept der "Zivilen Bürgergesellschaft" gerade zuvor in die unpolitische Anpassung an ökonomische Sachzwänge entlassen wurde. Schröders Modell der Zivilgesellschaft verfehlt in den Bemühungen der Konsensgesellschaft einen zentralen Konsens – den über Werte. Seit Max Weber wissen wir um die Notwendigkeit einer moralischen Grundlage moderner Gesellschaften, ohne die diese nicht bestehen können. Der marktkonforme liberale Individualismus der Schröder’schen "Zivilen Bürgergesellschaft" vernachlässigt sträflich die Verantwortung eines republikanischen Bürgertums für das Gemeinwesen (vgl. hierzu auch Wilfried Maier in Kommune 2/00), das etwa Amitai Etzioni in seinem Modell der Verantwortungsgesellschaft formulierte.

Die rechtsextremistische Gewaltszene kann einen blinden Fleck in der intellektuellen und gesellschaftlichen Debatte besetzen, den Richard Herzinger in DIE ZEIT (10.8.00) ausmacht: "Auf die Konfrontation mit einer Kraft, die ihre politischen, philosophischen und moralischen Prämissen radikal negiert, ist die liberale Gesellschaft nicht mehr vorbereitet. Die Rede vom ‚Ende der Ideologien‘ hat über Jahre suggeriert, es könne keine ernsthafte Alternative zum Modell des westlichen Pluralismus mehr geben. Ideologisch motivierte Exzesse, vom Kosovo bis Kaschmir, werden als vorübergehende Betriebsstörungen im Prozess der ‚Globalisierung‘ oder als archaische Rückfälle wahrgenommen. Mit der Realität unserer zivilisierten Gesellschaften scheint all das nichts zu tun zu haben. ... In Wahrheit aber blühen im Untergrund unserer Gesellschaft zahllose diffuse Welterlösungs- oder Wiedererweckungsideologien, die sich der diskursiven Struktur der liberalen Demokratie entziehen: ... Hin und wieder gerät eine dieser geschlossenen Gegengesellschaften ins Scheinwerferlicht der Medien und ruft die erregte Besorgnis von Sektenbeauftragten und Verfassungsschützern hervor – um bald wieder ins kollektive Vergessen zu gleiten. Der gewalttätige neonationalsozialistische Rechtsextremismus aber ist die denkbar radikalste Ausdrucksform einer hermetischen ideologischen Gegenwelt. Er partizipiert am offiziellen Diskurs nicht einmal mehr insoweit, als er ihm eine in sich konsistente gedankliche Selbstlegitimation entgegenhalten würde. Der (physische oder verbale) Gewaltakt ist es, mit der er sein Dasein gleichsam voraussetzungslos behauptet. Sein zutiefst verunsicherndes Drohpotenzial bezieht dieser neue Extremismus aus seiner grundsätzlichen Unberechenbarkeit: Seine Motive bleiben der etablierten Gesellschaft unbegreiflich, und er verzichtet mit herrisch-höhnischer Geste darauf, sie ihr zu erläutern. Damit signalisiert er, dass er jederzeit zu jeglicher noch so sinnlosen Untat bereit und fähig ist."

Der Zerfall des Zivilen sagt freilich noch nichts über Ursprung und Qualität des Phänomens: Die Feststellung, dass der zivile Konsens sichtbare und bedrohliche Ermüdungserscheinungen zeigt, wirft weitere Fragen auf. Peter Schneider formuliert in DIE ZEIT (32/2000) hierzu: "Handelt es sich um eine vorübergehende Korrosion, die außergewöhnlichen äußeren Umständen zuzuschreiben ist – dem Fall der Mauer, dem Stress der Wiedervereinigung, der hohen Arbeitslosigkeit – und mit diesen Umständen wieder verschwinden wird? Wenn es so wäre, ließe sich Schröders Projekt als eine Art Krisenprogramm verstehen, als Durchsage eines Kapitäns, dessen Schiff in ungemütliche See geraten ist. Einige Passagiere dieses Schiffes würden nur deswegen ihre zivilen Tugenden vergessen und sich plötzlich wie Bestien aufführen, weil sie in Panik geraten sind und um ihr Überleben kämpfen.

Ich fürchte, diese vermeintlich pragmatische Lesart des Problems wird der Herausforderung nicht gerecht. In Deutschland möchte man gern vergessen, dass die zivilen Grundregeln, die in unserer Verfassung festgeschrieben sind, nur einen vergleichsweise kurzen, nämlich den jüngsten Abschnitt der deutschen Geschichte bestimmt haben. Uns sind sie von den Armeen der westlichen Alliierten gebracht worden; für die Mehrzahl der Völker sind sie bis heute eine ferne Utopie geblieben. Nicht nur die jüngere deutsche Geschichte, die Geschichte der Menschheit liefert den Beweis dafür, dass selbst elementare Versprechen wie das Recht auf körperliche Unversehrbarkeit, ja auf schieres Überleben – von Menschenwürde, Chancengleichheit, Gleichheit vor dem Gesetz noch gar nicht zu reden – späte und eher unwahrscheinliche Kulturprodukte darstellen. Es handelt sich um höchst fragile Errungenschaften, die bereits dann in Gefahr sind, wenn man sie für selbstverständlich hält."

Die Hilflosigkeit gegenüber der begrifflosen Aggression des neuen Extremismus macht Herzinger aus, wenn er schreibt: "Die ideologiekritische Analyse rechter Ideen und die Kritik an der strukturellen Gewalt eines ‚Extremismus der Mitte‘ tragen – so berechtigt sie im Einzelnen sein mögen – im Kampf gegen den puren Gewaltkult nicht weit. Denn sie können nur dort auf irgendeine Wirkung hoffen, wo sich die Verfechter des inkriminierten Gedankenguts der diskursiven Auseinandersetzung stellen und sich damit zumindest implizit der Integrationslogik der liberaldemokratischen Gesellschaft unterwerfen. Die Versuche, das rechtsextreme Syndrom durch Rückübersetzung in die Sphäre sozialökonomischer oder sozialpsychologischer Gesellschaftsanalyse in den Griff zu bekommen, laufen in aller Regel darauf hinaus, die Radikalität der Herausforderung hinwegzuerklären. Denn sie betrachten die Protagonisten der Gewaltszene in letzter Instanz immer nur als Irregeleitete, die sich einen falschen Reim auf schlechte Verhältnisse machen. Nie geraten sie in dieser Sichtweise als verantwortliche Subjekte ihrer Worte und Taten und damit als erklärte Gegner der offenen Gesellschaft in den Blick. Der traditionelle Antifaschismus greift als identitätsstiftende Mobilisierungsidee gegen rechts nicht mehr, weil er auf dem Glauben an einen objektiven historischen Fortschritt in der Geschichte und damit auf der Zuversicht beruhte, die Aufklärung müsse auf Dauer über das ‚ewig Gestrige‘ obsiegen. Der aktuelle Rechtsextremismus tritt aber als radikal Neues, als das ganz Andere der liberalen Gesellschaft auf. Er macht sich gerade dadurch ideologisch immun, dass er die historische Erfahrung, aus der die Selbstbegründung der liberalen Demokratie – sie habe die einzig richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen – abgeleitet ist, fundamental negiert."

Ein weiteres "konzeptionsloses Hin- und Hertaumeln" (Andrea Schneider und Micha Hilgers, FR, 12.8.00) kann sich die Bundesrepublik nicht mehr leisten: Die verbale Sorge um einen Rechtsruck muss in klare Konzepte gegossen und umgesetzt werden. Die Diskrimierungsbereitschaft trifft derzeit auf eine signifikante Abwendung von der Demokratie: Pitt von Bebenburg schreibt dazu in der FR (12.8.00): "In Deutschland wird die Demokratie von der Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr anerkannt. Das schließen die Sozialwissenschaftler Oskar Niedermayer und Richard Stöss von der Freien Universität Berlin aus einer Studie über rechtsextreme Einstellungen in der Bundeshauptstadt und Brandenburg. Das Ergebnis sei auf die ganze Bundesrepublik übertragbar. In Berlin und Brandenburg ist der Anteil der Menschen mit rechtsextremer Einstellung binnen zwei Jahren um etwa zehn Prozent gestiegen. Nach der Erhebung der Berliner Forscher von Mai und Juni vertraten in Berlin 12 (1998: 11) und in Brandenburg sogar 21 Prozent (1998: 19) der Erwachsenen rechtsextremes Gedankengut. Weniger als ein Drittel der Menschen in den beiden Bundesländern, nämlich 29,4 Prozent, sind mit der Demokratie zufrieden. 39,6 Prozent seien als ‚politikverdrossen‘ einzustufen und weitere 30 Prozent als ‚systemverdrossen‘. Darin sehen Niedermayer und Stöss den Nährboden für rechtsextreme Einstellungen. Als Gründe dafür, dass sich Menschen von der Demokratie abwenden, nannten sie Skandale wie jenen um Parteispenden sowie die Arbeitslosigkeit. Sie forderten deswegen eine umfassende und langfristige Strategie zur Bekämpfung des Rechtsextremismus. Die Politik müsse die Krise der Demokratie anpacken; stattdessen konzentriere sie sich ‚unsinnigerweise‘ auf ein NPD-Verbot."

Weder die Diskursformationen noch die Argumente scheinen neu, die Quantität und Qualität des Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus sehr wohl. Sie lenken den Blick auf eine zentrale Schwäche der bundesdeutschen Demokratie: Der Mangel an Nachhaltigkeit und das kurzfristige Denken in Wahlperioden. Die Wellen des Rechtsextremismus in den vergangenen Jahren haben bislang zu Phasen der Dramatisierung und solchen der Verharmlosung geführt. Kurzfristige Lösungsoptionen aber versagen bei einer gezielten realpolitischen Bekämpfung auf den Feldern der klassischen Politik mit den Mitteln der traditionellen Politik: Arbeitsmarkt und Menschenrechte. Den Rechtsextremismus und die Mitte der Gesellschaft, aus der er kommt und in der er verankert ist, gilt es in erster Linie mit den Mitteln der Politik auf drei Ebenen zu bearbeiten, wie Hans-Gerd Jaschke fordert: Politisch-geistige Auseinandersetzung, Repression und Politik der sozialen Integration. Gerade die Mängel einer sozial verantwortungsbewussten Demokratie und verschleppte Fragen sozialer Gerechtigkeit scheinen den Kern der rechtsextremen Strömungen zu bilden, schrieb Eike Hennig bereits 1989. Es kann in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus nicht um die Wiederbelebung der Formel der "Gemeinsamkeit der Demokraten" als Superlegalität (Ulrich K. Preuß) der FDGO gehen. Aber die wehrhafte Demokratie der demokratischen Verfassungsordnung, die eben kein Plädoyer für bestimmte Werte enthält und diese erst im Paradigmenwechsel zur "Inneren Sicherheit" durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht in der sogenannten Abwehr einer angeblichen Bedrohung von links aufgestülpt bekam, hat in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus die Chance, die Leerformel der "streitbaren Demokratie" mit Leben zu füllen. Schröders "Zivile Bürgergesellschaft" wirkt in diesem Zusammenhang unreflektiert, ja unpolitisch, und offenbart die Schwächen einer Politik ohne gesellschaftliche Vision. Die zentrale Frage, um die es geht, hat Herzinger aufgeworfen: "Bei all dem sieht sich die liberale Gesellschaft mit einem Dilemma konfrontiert: Wie kann sie eine absolute Feinderklärung annehmen, ohne ihre eigene Prämisse – dass es grundsätzlich kein nichtintegrierbares Anderes in der Gesellschaft gebe – zu verraten?" Das Modell der Verantwortungsgesellschaft Etzionis mit seiner Neujustierung zwischen individuellen Rechten und gesellschaftlicher Verantwortung bietet dafür diskursive Anhaltspunkte, gerade in einer sich immer schneller und stärker ausdifferenzierenden westeuropäischen Gesellschaft. Mit Lichterketten-Ritualen ist es diesmal nicht mehr getan.