Machtfreie Marktwirtschaft

Walter Oswalt

Weltweit werden Demokratien durch die Macht multinationaler Unternehmen gelähmt. Industriekonzerne und Großbanken sind auf Grund ihrer Verfügung über Kapital, Arbeitsplätze und Steueraufkommen in der Lage, Verkehrs-, Energie-, Umwelt- und Außenpolitik zu betreiben. Die Folge: Die notwendigen ökologischen und sozialen Reformen finden nicht statt. So werden in Europa Umweltnormen, die über Leben und Gesundheit entscheiden, in der Regel nicht demokratisch beschlossen. Sie werden immer häufiger ganz legal von industrieabhägigen Wissenschaftlern festgelegt, ohne daß es deshalb zu einer öffentlichen Auseinandersetzung käme.

Wenn Großunternehmen ihren Erfolg unmittelbar auf der Ausbeutung ökologischer Lebensgrundlagen aufbauen, müssen sie zwar mit Protesten der internationalen Ökologiebewegungen rechnen. Trotzdem können sie sich auf eine stillschweigende Duldung von rechts bis links verlassen.

Die europäische Linke hat sich immer mehr in den Verfassungskonsens der reichen Industriestaaten Westeuropas eingeordnet, dessen Grundformel lautet: Vermachtete Marktwirtschaft plus demokratischer Rechtstaat = maximale Freiheit und Wohlstand. Das auf diese Weise für alle Bürger erreichbare Maß an Freiheit und materieller Sicherheit schrumpft zwar im allgemeinen öffentlichen Bewußtsein Stück für Stück zusammen. Aber diese Formel gilt trotzdem weltweit als die beste Lösung, manchmal fast als letzte Antwort der Geschichte. Dies liegt nicht an ihrer Problemlösungsfähigkeit oder ihrer ideellen Ausstrahlung. Der Kapitalismus ist übrig geblieben. Nichts ist heute schwerer vorstellbar als eine grundlegende Reform.

Zwar hat der Liberalismus in vielen Teilen der Welt ideologisch gesiegt, doch noch nie war er so perspektivlos wie heute. Je schwächer sein großer Rivale wird, die Tradition des demokratischen Sozialismus, um so mehr verliert der Liberalismus seine Orientierungsfähigkeit. Diese Depression der liberalen Moderne ist zugleich in der Inkonsequenz des bestehenden ökonomischen und rechtsstaatlichen Liberalismus selbst begründet. Ein großer Teil der Destruktivität des Wirtschaftsliberalismus wird dadurch verursacht, daß die entscheidenden sozialen Erfindungen der bürgerlichen Aufklärung vergessen und pervertiert werden.

Nahezu vergessen ist, daß es auch einen radikalen Liberalismus gab, der für demokratische Freiheiten, Menschenrechte und zugleich konsequent für Machtminimierung in der Wirtschaft eintrat. Diese Tradition der politischen Ökonomie und des politischen Engagements ist heute zu Unrecht fast verlorengegangen. Es gibt für sie nicht einmal einen Namen. Ich möchte sie hier als "Tradition der Entmachtung " bezeichnen.

Bereits im 17. Jahrhundert entstand in England die erste Menschenrechtsbewegung der Moderne, die Leveller. Sie kämpften im englischen Bürgerkrieg (1642-1649) gegen die Herrschaft des Königs und für eine demokratische Republik mit Religions- und Meinungsfreiheit. Grundrechte galten für sie nicht nur zum Schutz gegen staatliche Willkür, sondern auch gegen vom Staat tolerierte und geschaffene private Macht. Sie traten deshalb für eine Abschaffung der Eigentumskonzentrationen ein, die durch den damals aufkommenden Kapitalismus entstanden.1

Thomas Paine, einer der wichtigsten Protagonisten der amerikanischen Unabhängigkeit und der Menschenrechtsidee, verfolgte ähnliche Ziele ein Jahrhundert später. Im neunzehnten Jahrhundert bildete sich in den USA die Anti-Monopol- und Anti-Trust-Bewegung. In den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelten sich sowohl in den USA als auch in Deutschland wirtschaftswissenschaftliche Schulen, die unter dem Einduck der Bedrohung (USA) und Zerstörung (Deutschland) der Demokratie durch die industrielle Konzentration nach Strategien der Entmachtung suchten. In den USA waren am wichtigsten die Konzeptionen des Ökonomen Henry C. Simons, der heute fast nur noch als Theoretiker der Einkommensteuer zitiert wird. In Deutschland war es die "Ordnungspolitik" der "Freiburger Schule".

Diese wissenschaftlichen Schulen und politischen Bewegungen sind in der gesamten Neuzeit präsent: Manchmal setzt sich die Strömung eher im Untergrund fort, dann wieder tritt sie mehr an das Licht der großen Öffentlichkeit und wird politisch unmittelbar wirksam. Was die unterschiedlichen Ökonomen, Juristen, Publizisten, Politiker und einfache - politisch aktive - Bürger durch mehr als drei Jahrhunderte hindurch verbindet, ist, daß sie für eine Abschaffung der privaten Machtkonzentrationen durch den Staat eintraten. Aber nicht um eine Verstaatlichung der Wirtschaft durchzusetzen, wie es Sozialisten und Kommunisten getan haben, sondern - im Gegenteil - um Marktfreiheit, Privateigentum, bürgerliche Grundrechte und Demokratie für alle Menschen zu erreichen. Die Protagonisten der Entmachtungstradition gehörten zu den Begründern der Menschenrechtsidee am Anfang der Moderne sowie später zu den Vorkämpfern ihrer Weiterentwicklung.

Der einseitige Blick auf die Aufklärung verstellt uns die zukunftsweisende Perspektive auf eine andere, im Sinne der Menschenrechte konsequentere Moderne. Die Leveller stehen im Schatten Lockes, Paine im Schatten Kants. Die modernen ökonomischen Konzepte der Entmachtung stehen im Schatten der Idee des Sozialstaats, der Machtfolgen zu kompensieren versucht, aber ihre Ursachen nicht bekämpft.

Wenn wir aber aufhören, die Existenz der Entmachtungstradition auszublenden, zeigt sich nicht nur ein anderes Bild von Geschichte, sondern auch eine neue Möglichkeit für das politische Handeln heute.

John Locke, Adam Smith und Immanuel Kant werden weltweit als Vordenker des demokratischen Rechtsstaats und der offenen Marktgesellschaft angesehen. Doch war zum Beispiel John Locke nicht schlechthin der Vordenker des modernen Rechtsstaats seiner Epoche. Zwar hat er sich in genialer Weise gegen die vormodernen Staatsbegründungen gestellt und sozialtheoretische Grundlagen für die bürgerliche Freiheit vom Staat entwickelt. Doch sein Werk wäre ohne das politische Denken und Handeln der Leveller nicht möglich gewesen. Er entwickelte in seinen Büchern Ideen, die schon Jahrzehnte zuvor von Richard Overton, William Walwyn und John Lilburne in politischen Aufrufen, Verfassungsentwürfen und tagespolitischen Reden verbreitet worden waren. Aber er verkürzte sie zugleich entscheidend und nahm ihnen einen Teil ihres Stachels. Während die Leveller für Machtminimierung in Staat und Wirtschaft eintraten, gehörte Locke zu den ersten, die viel Geist investiert haben, um die durch private Eigentumskonzentrationen neu entstandene Unfreiheit zu legitimieren. Schließlich kam es zu einer zweiten Verkürzung liberalen Denkens: Es wurde viel von dem, was an Locke, aber auch an Adam Smith und Kants Denken radikal aufklärerisch war, zugunsten ihrer bequemeren, machtkonformeren Positionen weginterpretiert. Übrig blieb ein halbierter Liberalismus.

Adam Smith war ein Feind aller Monopole und glaubte deshalb - was heute leicht vergessen wird - nicht bedingungslos an die "invisible hand" des Marktes. Aber Thomas Paine blieb nicht bei Analysen und Appellen stehen: Er entwickelte ein radikales Steuersystem, mit dem die Auflösung der Eigentumkonzentrationen und gleichzeitig Vermögensbildung für alle Bürger erreicht werden sollte. Der berühmte John S. Mill hat im letzten Jahrhundert geistige Vorausetzungen für einen sozialen Liberalismus geschaffen und die Gefahren für die Freiheit im Industriezeitalter erkannt. Aber es waren kaum bekannte Juristen und Politiker in den USA, die im 19. Jahrhundert die Existenz von Großunternehmen unmittelbar bekämpft haben, indem sie versuchten, liberales Denken konsequent auf Rechtssprechung und Gesetzgebung anzuwenden.2

Die Durchsetzung individueller Freiheit für alle - durch die Weiterentwicklung der sozialen Erfindungen der Aufklärung, ist heute wie nie zuvor eine Grundvoraussetzung des materiellen Überlebens geworden. Es muß gelingen, die Demokratien reformfähig zu machen, indem wir dafür sorgen, daß die Öffentlichkeit vom Diktat der Medienkonzerne und daß Parlamente, Gerichte und Wissenschaft von der Macht der Großunternehmen befreit werden. Sonst lassen sich irreversible Zerstörungen der Lebensgrundlagen nicht mehr verhindern.

Nichts scheint deshalb näher zu liegen, als daß die internationalen Ökologiebewegungen und die Initiativen zur Bekämpfung der weltweiten Armut das Erbe der Entmachtungstradition übernehmen. Tatsächlich weisen zentrale Leitmotive des ökologischen und sozialreformerischen Denkens - sei es die Forderung nach Dezentralisierung oder die Kritik an der Großtechnologie - starke Berührungsmöglichkeiten mit dieser politischen und geistigen Strömung auf. Trotzdem sind selbst ökologische Klassiker wie Ernst Friedrich Schumachers "Small is Beautiful" an einem entscheidenden Punkt blind. Die ökologische Frage wird nur selten konsequent theoretisch und programmatisch als Frage der Verteilung von politischer und ökonomischer Macht erfaßt, obwohl sich fast alle politischen Kämpfe von Umweltgruppen genau um dieses Problem drehen.

Es ist deshalb an der Zeit, die Chance zu nutzen und die Tradition der Entmachtung nicht nur geistig, sondern ganz praktisch zur Problemlösung nutzbar zu machen. Den fruchtbarsten Ansatzpunkt bieten dazu die Konzepte von Henry Simons (Universität Chicago) und die der Freiburger Schule. Im folgenden stellen wir die aus Freiburg stammende oft als "Ordoliberalismus" bezeichnete Tradition in den Mittelpunkt. Sie stößt zur Zeit in Osteuropa, in der "Dritten Welt" und in Schwellenländern bei immer mehr Ökonomen auf ein wachsendes Interesse3.

Walter Eucken, der führende Ökonom der Freiburger Schule, wird seit Ludwig Erhard als "geistiger Vater der sozialen Marktwirtschaft" von allen Regierungen der BRD beansprucht. Man beruft sich in Deutschland gerne auf diese Tradition, gehörten Eucken und seine Kollegen doch zu den wenigen Wissenschaftlern, die an deutschen Universitäten während der Nazi-Zeit in Opposition zu dem Regime standen. Doch der Unterschied zwischen dem öffentlichen Bild von den Freiburger Wissenschaftlern und ihrer tatsächlichen wirtschaftspolitischen Position ist groß.

In einem Gutachten für die Alliierten schrieb Eucken 1946: "Die Lenkungsmethoden der freien Wirtschaft und der Zentralverwaltungswirtschaft sind gescheitert ... Kapitalismus und Sozialismus bekämpfen sich in der Doktrin, de facto gehen sie ineinander über."4 Hintergrund für diese radikale Position war die Erfahrung, daß der "freie Markt" in Deutschland Konzerne ermöglicht hatte, die sich in der NS-Zeit "als Bausteine erwiesen, die leicht in das Gebäude der Zentralverwaltungswirtschaft eingebaut werden konnten".

Für die Freiburger Schule war deshalb nach 1945 genauso wichtig wie die Demokratie und den Rechtsstaat aufzubauen, wirtschaftliche Macht zu verhindern. Walter Eucken hatte deshalb in weiteren Gutachten konsequent gefordert, die marktmächtigen Konzerne aufzulösen und das bestehende Bankensystem abzuschaffen. Diese Gutachten sind heute fast unbekannt. Sie werden von den Wirtschaftswissenschaften ignoriert, weil sie nicht in ihr bequemes Bild von der Freiburger Schule als konforme Vordenker des deutschen "Wirtschaftswunders" passen.

Grundprinzip der "ordoliberalen" Wirtschaftsverfassung ist die Minimierung ökonomischer Macht. "Es sind also nicht die sogenannten Mißbräuche wirtschaftlicher Macht zu bekämpfen, sondern wirtschaftliche Macht selbst" (Eucken). Dementsprechend entwickelten der Jurist Franz Böhm und der Ökonom Walter Eucken (sowie ihre wissenschaftlichen Mitarbeiter und Freunde im Exil Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke) bereits Ende der dreißiger Jahre Vorschläge, mit denen das gesamte Rechtssystem, vom Steuer- über das Patent- bis zum Haftungsrecht, grundlegend reformiert werden sollte. Sie hofften damals auf die Zeit nach dem Zusammenbuch des Nationalsozialismus.

Das Entmachtungskonzept scheiterte aber an den Interessengruppen, die die NS-Zeit überdauert hatten. Sie übten auf die Regierung Adenauer-Erhard einen viel größeren Einfluß aus als die Wissenschaftler aus Freiburg und die Anti-Trust-Fraktion in der US-amerikanischen Militärregierung.5

Eucken forderte 1947 in seinem Gutachten "Konzernentflechtung und Kartellauflösung" als Sofortmaßnahme, daß alle Konzernbildungen, die während der NS-Zeit eingeleitet und umgesetzt wurden, umgehend aufgelöst werden. In einer zweiten Stufe sollte ein allgemeines Gesetz gegen Wirtschaftsmacht in Kraft treten: "Kartelle, Syndikate usw. sind zu verbieten und als rechtsunwirksam zu erklären, Konzerne, Trusts und monopolistische Einzelunternehmen sind zu entflechten oder aufzulösen, soweit nicht technische oder volkswirtschaftliche Sachverhalte eine solche Entflechtung oder Auflösung unmöglich machen.6"

Eucken argumentierte genau umgekehrt zu der heute populären Vorstellung, Oligopole seien auf nationaler Ebene im Dienst der internationalen Wettbewerbsfähigkeit hinzunehmen. Eine Globalisierung der Märkte im Sinne einer wettbewerbsgelenkten und gerechten Weltwirtschaft wird seiner Meinung nach durch mächtige Konzerne verhindert.

Zum Beispiel können Großkonzerne durch Druck auf die Regierung zum Schaden von Konsumenten und kleineren Unternehmen erreichen, daß ihr Inlandsmarkt durch Importhürden geschützt wird, und sie selbst durch Exportförderung subventioniert werden. Großkonzerne müssen aufgelöst werden, weil sie Instrumente der Vermeidung eines tatsächlich freien Welthandels sind. So besteht heute ein großer Teil des Welthandels gar nicht aus Tauschhandlungen am Markt, sondern aus konzerninternen Transaktionen, die Züge einer internationalen Planwirtschaft haben.7

Aber die damaligen Konzepte der "Freiburger Schule" wurden in der Hoffnung entwickelt, daß nach dem Ende der totalen moralischen, politischen und ökonomischen Katastrophe des NS-Staats so etwas wie ein revolutionärer Bruch mit den vorhandenen Wirtschaftsmacht möglich sei.

Wir wissen heute, daß sich diese Hoffnung nicht erfüllt hat. Eine Konzernauflösung auf einen Schlag ist heute politisch undenkbar. Andererseits ist eine Dekonzentration der bestehenden Wirtschaftsmacht notwendiger als je zuvor.

Im Kapitalismus wird die Freiheit gewährt, den freien Markt zu zerstören. Deshalb konnte sich in den Industriegesellschaften Marktfreiheit, und damit Leistungswettbewerb, nie wirklich durchsetzen. Die Alternative zum bestehenden Kapitalismus ist deshalb eine machtfreie Marktwirtschaft. In ihr sind die einzelnen Produzenten nicht in der Lage, in die Preisbildung bewußt steuernd einzugreifen. Der Preis ist eine anonyme Größe, die sich "automatisch" dadurch ergibt, daß die Konsumenten tagtäglich über die angebotenen Leistungen abstimmen. Eine funktionierende Wettbewerbsordnung ist deshalb die einzige Form von Wirtschaftsdemokratie, die sich realisieren läßt.

Der reaktionäre Kurzschluß der meisten Sozialisten warm zu glauben, dieses Entmachtungsinstrument könnte es wegen der geschichtsnotwendigen Entfaltung der Produktivkräfte nie geben. Die Wirtschaftsgeschichte hat gezeigt, daß diese Machtgebilde nicht naturnotwendig sind, sondern nur entstehen konnten, weil sie von den politischen Entscheidungsträgern ermöglicht und gefördert worden sind. Bestände der politische Wille dazu, wäre es umgekehrt auch erreichbar, den Trend zur Vermachtung in einen zur Entmachtung umzukehren. Allgemeine ökonomische Freiheit könnte genauso wie das allgemeine Wahlrecht politisch erkämpft werden.

Das Regulativ ökonomischer Demokratie - die Leistungskonkurrenz - kann sich nur dann etablieren, wenn alle anderen Arten der Konkurrenz staatlich und gesellschaftlich verhindert werden. Das Straf- und Zivilrecht sowie die Kultur der menschlichen Umgangsformen schließen den Wettbewerb nach dem Prinzip der körperlichen Überlegenheit aus. Darüber hinaus soll die von der Freiburger Schule geforderte "Wettbewerbsordnung" den Konkurrenzkampf um wirtschaftliche Macht, sowie den Wettkampf um den größten Einfluß auf die Regierung verhindern. Sofern dies gelingt, bleibt den Wirtschaftssubjekten gar nichts anderes übrig, als miteinander um die bessere Leistung für die Konsumenten zu rivalisieren. Ein weiterer Schritt der Zivilisierung wäre erreicht.

Machtfreie Märkte brauchen wir nicht nur, um den Schutz der Grundrechte in der Wirtschaft durchzusetzen, sondern überhaupt, um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Öffentlichkeit in der gesamten Gesellschaft funktionsfähig zu machen. Dieser von Eucken als "Interdependenz der Ordnungen" bezeichnete Zusammenhang hat durch den Standortwettbewerb in einer globalisierten Weltwirtschaft eine neue Bedeutung bekommen.

Heute wird mit der Forderung nach der "Wettbewerbsfähigkeit" des Standortes "Deutschland" oder "Europa" Schritt für Schritt eine Erosion von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit legitimiert. Die von der Freiburger Schule entworfene "Wettbewerbsordnung" würde weiterentwickelt und realisiert unter den Bedingungen globalisierter Märkte, genau das Gegenteil bewirken: Kein Unternehmen könnte eine Größe aufrechterhalten oder erreichen, mit der es ganz legal von Parlamenten, Regierungen und Verwaltungen Vorteile bekommen kann, um dadurch dem Leistungswettbewerb auf den Märkten zu entgehen.

Ein machtminimierter Wettbewerb der Unternehmen um Standorte ist genauso wie vollständiger Wettbewerb auf den Produktmärkten keine unerreichbare Utopie, sondern existiert bereits zum Teil: Ein Handwerksbetrieb, der mit seinen drei Mitarbeitern einen neuen Standort in einer Stadt sucht, wird die dort vorhandenen rechtlichen und kommunalplanerischen Bedingungen als durch ihn auf legalem Wege nicht manipulierbares "Datum" in seinen Wirtschaftspläne aufnehmen müssen. Diesem Maßstab der Machtlosigkeit gegenüber den "Standortanbietern" (den Staaten, Regionen, Kommunen) können sehr große Unternehmen per se durch ihre Finanzkraft nicht genügen, ganz gleich, welche "Unternehmensethik" sie auch pflegen mögen. Zum Beispiel wären in Deutschland die Deutsche Bank, die Dresdner Bank, die Commerzbank und die größten Industrieunternehmen von Daimler-Benz bis Siemens durch ihre pure Kapitalstärke auch dann noch am Kabinettstisch anwesend, wenn sie auf jede Lobbypolitik verzichten würden. Mit Hilfe von Ordnungspolitik sollten sie auf eine Größe gebracht werden, die demokratie- und rechtsstaatskonform ist. Wie dies im einzelnen geschehen soll, kann nur durch wissenschaftliche Forschung und einen engagierten öffentlichen Diskurs geklärt werden.

Entscheiden wir uns beispielsweise im Sinne einer bürgernahen Demokratie für eher dezentrale Entscheidungsstrukturen, hat dies ordnungspolitisch eine Verkleinerung der akzeptablen Unternehmensgrößen zur Folge: Kleinere staatliche Einheiten - wie zum Beispiel einzelne Kommunen - können bereits von Unternehmen legal erpreßt werden, deren bloße Kapitalstärke nicht genügt, um auf Regierungen größerer Länder Einfluß nehmen zu können. Doch die "Interdependenz der Ordnungen" im internationalen Standortwettbewerb hat auch einen gegenläufigen Effekt: Für ein Unternehmen ist es einerseits schwieriger, sehr große politische Einheiten wie zum Beispiel die EG unmittelbar durch Finanzkraft in ihren Dienst zu stellen. Anderseits können solche politischen Großstrukturen wegen ihres größenbedingten Mangels an demokratischer Kontrolle leichter durch die Lobbyarbeit von Konzernen manipuliert werden als kleinere Entscheidungseinheiten.

Welches Limit an Finanzkraft auch immer im konkreten Einzelfall ökonomisch begründet und politisch gewollt sein mag, entscheidend ist zuerst eine allgemeine Erkenntnis: Es gibt nicht nur ökologische Grenzen des Wachstums der Gesamtwirtschaft. Es existieren auch Grenzen des Unternehmenswachstums, die nicht überschritten werden dürfen, wenn Demokratie und Rechtsstaat funktionieren sollen. Dies ist keine Forderung aus sozialistischem Resentiment gegenüber der Marktwirtschaft, sondern eine Wiederbelebung originär liberalen Denkens. In den einzelnen Staaten der USA galten im neunzehnten Jahrhundert zum Schutz der Freiheit der Bürger lange Zeit Obergrenzen für die Größe von Kapitalgesellschaften. Im Aktienrecht wurden Höchstkapitalsummen festgelegt.8

Der sich selbst als "liberalkonservativ" bezeichnende Ökonom Henry Simons hat in den dreißiger Jahren, als die Gefahren des unbegrenzten Unternehmenswachstums für Demokratie und Freiheit nicht zu übersehen waren, die Wiedereinführung staatlicher Festsetzungen maximaler Unternehmensgrößen gefordert9.

Doch selbst im Idealfall der Abschaffung des ökonomischen Druckpotentials multinationaler Unternehmen wäre bis zu einem gewissen Grad noch das gegenseitige Unterbieten der sozialen und ökologischen Rahmenbedingungen zwischen Nationen und Wirtschaftsgemeinschaften möglich. Das Euckensche Prinzip, Unternehmen jede Möglichkeit zu nehmen, die Freiheit anderer zu beschneiden, hat angesichts der globalen Umweltzerstörung deshalb heute eine weitere Implikation: Niemand darf in der Lage sein, durch die Zerstörung der ökologischen Lebensgrundlagen anderer Menschen Kapital zu bilden.

Diese Maßstäbe mögen sympathisch klingen, taugen sie aber zur Politik? Eucken wollte zeigen, daß es einzelnen Ländern unter den gegebenen Weltmarktverhältnissen möglich ist, mit der Entmachtungspolitik zu beginnen. Er war ein Protagonist der Weltmarktintegration Deutschlands und folgte deshalb bei seiner Konzeption einer Logik, die eine Alternative zur klassischen Position der bedingungslosen Marktöffnung (im Sinne des "Laissez-faire") wie zu der des wirtschaftsnationalistischen Protektionismus darstellt.

Demnach hat ein Land, das aus dem Wettlauf der Fusionen, strategischen Allianzen, des Managed Trade und des Umwelt- und Sozialdumpings aussteigen will, im Prinzip eine einfache realpolitische Möglichkeit: Es verlangt von den vom Ausland aus agierenden Unternehmen die Einhaltung der gleichen Regeln wie von den im Inland produzierenden Betrieben. Schon Adam Smith schlug einen ähnlichen Weg vor, als es im achtzehnten Jahrhundert um die Durchsetzung freihändlerischer Prinzipien durch einzelne Länder auf den Weltmärkten ging.

Eucken wendete diesen Ansatz konsequent auf das Marktmachtproblem im internationalen Wettbewerb an. So wollte er parallel zum Aufbau eines machtminimierten Binnenmarktes den marktmächtigen Multis die Niederlassungsfreiheit entziehen. So hielt er es 1947 für notwendig, daß "das Eindringen internationaler Konzerne vom Osten und vom Westen zum Stehen kommt und rückgängig gemacht wird". Dies wäre allerdings vor fünfzig Jahren, als multinationale Konzerne in Europa noch eine viel geringere Rolle spielten, viel einfacher durchsetzbar gewesen als heute.

Trotzdem läßt sich unter den heutigen Weltmarktbedingungen diese Konzeption als Forderung nach einer allgemeinen Marktmachtzutrittsschranke weiterentwickeln: Dazu gehört, daß ökonomisches wie ökologisches Dumping durch entsprechende Zölle und notfalls Importverbote ausgeglichen werden muß. So könnten nicht nur mit gewissen Erfolgsaussichten ein machtminimierter Inlandsmarkt mit Weltmarktöffnung entwickelt werden, sondern auch nach außen Anreize für eine gerechtere und freiere Weltwirtschaft gegeben werden.

Bestände aber bei einer solchen Politik nicht die Gefahr, daß eine gigantische Kapitalflucht einsetzen würde? Euckens Gutachten zur Transformation zeigen, daß er nicht nur vor einer solchen Kapitalflucht wenig Angst hatte, sondern daß eine bestimmte Art von Kapitalflucht von ihm sogar beabsichtigt war. Marktmachtfeindliche Rahmenbedingungen bewirken nicht, daß "das Kapital" abzieht, sondern nur dasjenige, das unerwünscht ist, weil es wettbewerbsfeindlich und demokratieunverträglich ist. Investitionen von ausländischen Klein- und Mittelbetrieben werden dagegen angezogen. Eine Wirtschaftsverfassung des machtfreien Leistungswettbewerb könnte für junge innovative und ökologische Unternehmer ein hervorragender Standortfaktor sein. Nur Länder mit funktionierenden Wettbewerbsmärkten und wirtschaftsunabhängigen Demokratien werden in der Lage sein, die großen Zukunftsprobleme innovativ und freiheitlich zu lösen.

Natürlich scheinen diese radikalen Maßstäbe in einer Welt der kleinen wirtschaftspolitischen Kompromisse chancenlos zu sein. Tatsächlich enthalten sie ein Katze-beißt-sich-in-den-Schwanz- Problem. Von der "Ordo-Schule" wird dem Staat eine Handlungsfähigkeit abgefordert, die erst erreicht werden kann, wenn die noch durchzusetzenden Maßnahmen realisiert sind. Doch dieses Grundproblem gab es bei jeder großen geschichtlichen Veränderung in Richtung größerer Freiheit. Die Schwierigkeit wird dadurch verringert, daß das ordnungspolitische Instrumentarium auf zwei Stufen angewendet werden kann:

1. Mit Hilfe des ordnungspolitischen Denkens kann jeder als aktiver Bürger, Konsument, Wirtschaftspolitiker oder Ökonom wirtschaftspolitische Handlungsmöglichkeiten erkennen und im Sinne des Machtminimierungsprinzips nutzen - auch wenn der Einzelne in einer Minderheits- und Oppositionsposition die großen Rahmenbedingungen einer vermachteten Marktwirtschaft nicht verändern kann. Ordnungspolitik im Kleinen heißt, unter den jeweils gegebenen Machtverhältnissen die vielen einzelnen Weichenstellungen vom Welthandel bis zur Kommunalpolitik zu erkennen und zu beeinflussen, die darüber entscheiden, ob hier oder dort Wirtschaftsmacht sich weiter konzentriert oder auflöst. Das fängt ganz unten an: Der einzelne Konsument kann sich in manchen Fällen für Produkte entscheiden, die aus fairem Handel stammen. Als Wähler kann jeder Bürger seine Entscheidung davon abhängig machen, inwiefern die jeweilige Partei Großkonzerne oder Kleinbetriebe unterstützt. Jede Kommune kann bei der Regionalplanung ihre Möglichkeiten nutzen, damit sich beispielsweise keine großen Einkaufszentren von Handelskonzernen ansiedeln können. Für eine überschuldete Stadtverwaltung mag es schwierig sein, auf die Steuereinnahmen durch einen Großinvestor zu verzichten. Doch gleichzeitig lassen sich so soziale und ökologische Folgekosten sowie die Finanzierung von großunternehmensgerechten Infrastrukturinvestitionen einsparen. Durch solche kleinen Schritte der Entmachtung können Spielräume geöffnet und Zeit gewonnen werden.

2. Doch die Transformation zu einer Wirtschaftsordnung machtfreier Märkte ist mehr als nur die Summe kleiner Schritte: Sie setzt eine Grundsatzentscheidung der Gesellschaft über einen neuen Verfassungskonsens voraus. Die Wettbewerbsordnung als Institution der gesellschaftlichen Machtminimierung ist genauso wie die traditionellen Institutionen innerstaatlicher Gewaltenteilung in der Verfassung zu verankern. Dies bedeutet mehr als nur eine Ergänzung der bestehenden Verfassungsordnung. Das aus der Aufklärungstradition stammende, aber bisher nur auf einen Teil des staatlichen Handelns angewandte Verfassungsprinzip Machtminimierung muß auf die Konstitution der gesamten Gesellschaft ausgedehnt werden.

Wie eine Politik der Entmachtung unter den aktuellen Weltmarktbedingungen aussehen könnte, soll hier entlang der klassischen Grundelemente der Smithschen Marktgesellschaft skizziert werden.10

Offene Märkte und Vertragsfreiheit

Trotz der dramatischen Internationalisierung der Märkte ist das, was heute als "Globalisierung" bezeichnet wird, überwiegend ein Partikularismus im Weltmaßstab. 81 Prozent des Welthandels finden innerhalb des reichsten Fünftels der Menschheit statt. Armut wird dadurch erzeugt, daß für die einen Marktgesetze gelten, die für die anderen nicht gelten. Der erste Schritt zur Entmachtung ist deshalb, mit der Liberalisierung der Weltmärkte Ernst zu machen.

Zum Beispiel: Die Subventionen und Zollschranken für die Landwirtschaft müssen vollständig gestrichen werden. Monopolrechte, wie sie durch die Patentierung von Lebewesen ermöglicht werden, müssen verhindert werden. Nur so können die Märkte für die Bauern in den Drittweltländern und für ökologisch erzeugte Agrarprodukte geöffnet werden. Das gleiche gilt für die Energiemärkte. Sie konsequent zu liberalisieren bedeutet, zuerst den Energiekonzernen die Herrschaft über die Leitungsnetze zu nehmen und damit den Marktzutritt von Kleinerzeugern mit Sonnenenergie und Kraftwärmekopplung zu ermöglichen. Offene Märkte plus notwendige Ökostandards schaffen gerechtere Marktbedingungen für ökologisch wirtschaftende Klein- und Mittelbetriebe und stellen bestehende Marktmacht in Frage. Würde bei liberalisierten Märkten unter Rahmenbedingungen, die ein ökologisches Dumping verbieten, tatsächlich der ökologische Preis für Produktion und Transport gezahlt, könnte sich am Weltmarkt von selbst regeln, ob es sich lohnt, Bananen aus Costa-Rica oder Kartoffeln aus Nordafrika zu importieren. Wahrscheinlich hätte eine tatsächliche Universalisierung der Marktregeln in Basisbereichen wie der Land- und Energiewirtschaft ganz von selbst eine Tendenz zur Dezentralisierung und Regionalisierung der Produktion zur Folge.

Aber dieser Reformschritt hat Grenzen. Wie die nur selektive Liberalisierung der europäischen Energiemärkte demonstriert, die unter dem Einfluß der Energiekonzerne und ihrer industriellen Großkunden von der EU geplant wird, ist eine tatsächliche Öffnung der Märkte bei den bestehenden Kapitalkonzentrationen nicht möglich.

Eine Hauptursache für die Vermachtung der Produktmärkte ist der fehlende Leistungswettbewerb auf den Kapitalmärkten. Zwar wird überall von einer fortschreitenden Liberalisierung der Kapitalmärkte geredet, aber diese Liberalisierung ist höchst einseitig.

Für kleinere Unternehmen ist zum Beispiel in Deutschland der Zugang zu den Börsen eine Frage der Gnade des Kartells der Großbanken. Millionen von armen und lebenswichtigen Unternehmen in der Dritten Welt ist der Zugang zu den Kreditmärkten versperrt. Solche Marktzutrittsschranken müssen fallen. Sie sind aber nur zum Teil durch eine einfache Abschaffung von antiliberalen Barrieren - wie zum Beispiel durch die Reformierung des jeweiligen nationalen Börsenrechts - zu überwinden.

Das Problem reicht tiefer. Die weltweit als selbstverständlich geltenden Grundmechanismen der Kapitalmärkte sind selbst wettbewerbsfeindlich und partikularistisch. Auf den Aktienmärkten werden kleine Kapitalien zu großen zusammengefaßt. Schnell wird Kapital konzentriert, die Dekonzentrierung ist aber blockiert. Die Aktienmärkte sind überwiegend "Second-Hand-Märkte". Sie ermöglichen den Aktionären hauptsächlich, untereinander "alte" Aktien zu tauschen. Ein Recht des einzelnen Aktionärs, seine Aktien beim Unternehmen zu kündigen, ist aber gesetzlich ausgeschlossen.11 Ja, mehr noch: Der einzelne Aktionär hat nicht einmal einen Anspruch auf den seinem Anteil entsprechenden gesamten Gewinn.

Die Folge: Die Unfreiheit des Aktionärs unterstützt die fortgesetzte Expansion der Großunternehmen. Das Kapital kann nicht seine optimale Verwendung finden, es wird im Unternehmen "verewigt", selbst wenn es besser woanders, in kleineren Betrieben, investiert würde.

Dies ist keine "naturgemäße" Eigenschaft des Kapitals, sondern eine Einrichtung des Wirtschaftsrechts. Dies ließe sich ändern. Eine erste Reformstufe ist die vollständige und automatische Gewinnausschüttung an die einzelnen Aktionäre - unabhängig von den Interessen des Managements und der Mehrheitsaktionäre.12 Darüber hinaus muß schließlich die Aktie im Sinne eines konsequent freien Kapitalismus in eine echte Beteiligung verwandelt werden, bei der der einzelne Kleinkapitalist tatsächlich über seinen gesamten Anteil entscheiden kann. Der einzelne Aktionär sollte deshalb einen Rechtsanspruch auf die Ausschüttung des gesamten auf seinen Anteil Jahr für Jahr anfallenden Cash-flows (der gesamte tatsächliche Gewinn13 plus verdiente Abschreibungen) bekommen. Das bedeutet, daß das Kapital nur so lange in dem jeweiligen Großunternehmen gebunden wird, wie es tatsächlich durch in der Vergangenheit getätigte Investitionen festliegt. Der einzelne Aktionär hätte die Wahl, entweder in dem betreffenden Unternehmen weiter zu investieren oder sich durch individuelle Desinvestition für die sukzessive Kündigung und damit Verkleinerung seines Anteils zu entscheiden. Jedes Großunternehmen müßte so das für Bestandserhaltung und Wachstum nötige Kapital auf den Kapitalmärkten im offenen Wettbewerb gewinnen, anstatt sich von den Kapitalmärkten abgekoppelt durch firmeninterne Kapitalströme zu finanzieren. Die Rückbindung an die ökonomischen Fakten würde verstärkt.

Kleinaktionäre zu echten Kapitalisten zu machen ermöglicht einen machtfeindlichen Effekt.14 Doch der offene Wettbewerb um Kapitalanteile kann erst dann richtig funktionieren, wenn Aktien nicht gleichzeitig als Beherrschungsmittel verwendet werden können. Großunternehmen besitzen oft Aktienbeteiligungen an anderen Unternehmen, um sie zu kontrollieren, zu beherrschen und den Wettbewerb auszuschalten. Deshalb ist ein weiteres Reformziel notwendig: Aktiengesellschaften dürfen keine Anteile an anderen Aktiengesellschaften halten. Diese Forderung wurde von Henry C. Simon mit dem Konzept "A Positive Program For Laissez Faire" (1934) aufgestellt.15 Simons verlangte ein direktes Beteiligungsverbot. Das gleiche Ziel kann aber auch indirekt durch das Zusammenwirken machtfeindlicher Rahmenbedingungen angestrebt werden.

Trennung von Staat und Wirtschaft

Die Grundregeln der Geldmärkte und der Kreditfinanzierung sollten nach folgendem "ordoliberalen" Grundprinzip umgestaltet werden: Der Staat hat die Rahmenbedingungen der Märkte zu setzen, aber nicht den Wirtschaftsprozeß zu lenken. Umgekehrt darf kein Marktteilnehmer in der Lage sein, die Spielregeln der Märkte zu verändern.

Einerseits ist also zu verhindern, daß der Staat einen Teil der Allokationsfunktion der Kapitalmärkte übernimmt. Auch in den entwickeltsten Marktwirtschaften wird ein wichtiger Teil der Finanzierung von Unternehmensinvestitionen nicht durch (mehr oder weniger funktionsfähige) Märkte entschieden, sondern mit planwirtschaftlichen Methoden durch den Staat gelenkt und geleistet. Dem Bürger wird über die Steuer Kapital entzogen, das durch den Staat vor allem Großunternehmen ohne Gegenleistung zugeleitet wird. Dazu gehören nicht nur die verschiedensten punktuellen Subventionen, sondern - was oft übersehen wird - auch die Wirkungen der allgemeinen Regeln des Steuerrechts. Zum Beispiel: Je größer ein Unternehmen ist, umso größer sind die vom Staat auf dem Weg der ganz normalen steuerlichen Abschreibung gewährten Investitionszuschüsse.16 Deshalb müssen nicht nur alle direkten und punktuellen Subventionen, sondern auch alle indirekten und allgemeinen staatlichen Instrumente der Wachstumsförderung abgebaut und schließlich ganz abgeschafft werden.

Während sich der Staat aus jeder Investitionslenkung zurückziehen sollte, muß den Marktteilnehmern jede Möglichkeit genommen werden, Grundvoraussetzungen der Geld- und Kapitalmärkte zu verändern. Die Banken sind heute blinde Wachstums- und Konzentrationsmotoren, indem sie in der Lage sind, Unternehmen Kredite zu vergeben, die über das Vielfache der vorhandenen Sparguthaben hinausgehen. Sie üben staatenähnliche Macht aus, indem sie die Geldmenge verändern, Buchgeld schaffen können. Doch die Geldschöpfung muß - streng liberal gedacht im Sinne der Trennung von Staat und Wirtschaft - den Staaten vorbehalten bleiben. Eine wettbewerbsorientierte und ökologische Bankenreform erfordert eine hundertprozentige Reservepflicht der Banken. Das Geld würde so "demokratisiert", die Wachstumsdynamik gebremst. Die Wirtschaftswissenschaften haben fast vergessen, daß diese Forderung von weltmarktorientierten Ökonomen wie Irving Fischer und Henry Simons vor mehr als einem halben Jahrhundert aufgestellt wurde. Daran anknüpfend diskutiert Walter Eucken in den "Grundsätzen der Wirtschaftspolitik"17 Möglichkeiten, die Regulierung der Geldmenge auch der Willkür einzelner Staaten zu entziehen und sie an einen weltweit gültigen Regelautomatismus zu koppeln. Die Expansion des Eurodollarmarkts zeigt die Aktualität dieses Ansatzes. Natürlich ist es sehr schwierig, weltweit eine von Partikularinteressen unabhängige Regulierung der Geldmenge zu installieren. Doch wir dürfen die großen Handlungschancen der Demokratien und Rechtsstaaten nicht übersehen: Die weltweiten Geld-, und Kapitalmärkte finden nicht im staatenlosen Raum, sondern auf den Territorien von Nationalstaaten statt, ohne deren hochkomplexe Regelungen und Infrastrukturen sie keine Minute existieren könnten.

Haftung

Haftung ist seit Adam Smith ein Grundprinzip des aufklärerischen Konzepts einer Privatrechtsordnung. Ohne die Verknüpfung von Entscheidungsrecht und Haftungsverpflichtung ist weder Leistungswettbewerb noch eine freie Gesellschaft möglich. Die "Freiburger Schule" hat deshalb eine grundlegende Umgestaltung des Wirtschaftsrechts gefordert mit dem Ziel, daß alle Marktteilnehmer für ihr Handeln haften. Nun sind aber alle Aktiengesellschaften Kapitalgesellschaften mit Haftungsbeschränkung, das heißt, das Risiko wird zum großen Teil auf die anderen abgewälzt - es wird sozialisiert. Deshalb forderte Walter Eucken, daß bei der Aktiengesellschaft genauso wie beim kleinen Handwerksbetrieb diejenigen, die die Entscheidungsmacht haben (Großaktionäre und Management), auch voll persönlich haften.18 Daran anschließend müssen wir heute darüber hinaus fordern, daß jeder Bürger das Recht haben muß, auch ökologische Machtschäden tatsächlich einzuklagen. So könnten Konzerne wie Hoechst, Shell oder General Motors durch ihre Mithaftung für die Zerstörung der Atmosphäre leicht zu Sanierungsfällen werden.

Ob Autoindustrie, Mineralölkonzerne oder Agrochemieproduzenten - ein Großteil der führenden Unternehmen der Welt gründen ihre Substanz auf Zerstörungen der natürlichen Lebensgrundlagen. Deshalb wäre es durch eine entschiedene Weiterentwicklung und Anwendung rechtsstaatlicher und zivilrechtlicher Grundprinzipien möglich, die Existenz vieler Weltkonzerne in Frage zu stellen. Konsequente Ökologisierung könnte konsequente Entmachtung bewirken. Eine große Chance besteht: Die gesellschaftliche Anerkennung der ökologischen Grenzen des Wirtschaftens durch Privatrechtsordnung und Verfassungsrecht könnte eine Perspektive auf größere individuelle Freiheit eröffnen.18 Aus materieller Notwendigkeit werden wir uns von freiheitsfeindlichen Machtstrukturen befreien müssen, die bisher im Namen des Mythos ökonomischer Erfordernisse hingenommen worden sind.

Die ökologischen Sachzwänge zu respektieren und den rechtsstaatlichen Prinzipien konsequent folgen zu wollen, führt aber in eine grundsätzliche Schwierigkeit: Unternehmen von der Größe der Daimler-Benz AG könnten zum Beispiel auch dann kaum tatsächlich zur Verantwortung gezogen werden, wenn die aktienrechtliche Haftungsabwälzung gestrichen und ökologische Haftungsregeln angewandt würden. Der Staat würde einspringen, weil er sich den Konkurs eines so wichtigen Unternehmens nicht leisten könnte. Die wichtigste Quelle für die Bildung neuer Wirtschaftsmacht ist der Status quo der Macht.

Privateigentum

Solche freiheitsfeindlichen Eigentumskonzentrationen lassen sich aber gerade vom Standpunkt einer konsequent liberalen Ökonomie in Frage stellen. Feudalistisches Eigentum beruhte auf zwangsweisen Leistungen rechtloser Abhängiger. Dem wurde in der Aufklärung ein zentrales Prinzip der bürgerlichen Marktgesellschaft entgegengesetzt: Privateigentum soll ein Resultat von Arbeitsleistungen und Tauschhandlungen freier Bürger sein.

Die entschiedensten Befürworter freier Märkte folgten deshalb vom Anfang der kapitalistischen Entwicklung an bei ihren Forderungen einem allgemeinen Prinzip: Konzentrationen des Privateigentums von wenigen, die auf Kosten von fast allen entstanden sind, müssen aufgelöst werden, um dem Grundrecht auf Eigentum aller Bürger Geltung zu verschaffen.

Auch heute sind Eigentumskonzentrationen zu einem erheblichen Teil nicht Folge freier Markthandlungen, sondern das Ergebnis von einer Art Zwangswirtschaft: Die Bürger als Konsumenten, Steuerzahler und Lebewesen zahlen ohne Gegenleistung einen ökonomischen und ökologischen Preis für die Unternehmensexpansion. Die große Mehrheit entscheidet sich immer wieder neu bei demokratischen Wahlen dafür, Repräsentanten zu wählen, die machtbildende Rahmenbedingungen setzen. Damit verzichten sie auf eine funktionsfähige Demokratie und einen Teil ihrer individuellen Freiheitsrechte. Gäbe es aber einen demokratischen Wechsel zu einer Politik der Machtminimierung, würde sich sofort die Frage stellen, wie mit solchen in der Vergangenheit entstandenen Eigentumskonzentrationen umzugehen ist.

Die Entmachtungssteuer

Eine Maßnahme, die eine allmähliche Auflösung der freiheitswidrigen Wirtschaftskonzentrationen realisieren helfen könnte, ist die Einführung einer Entmachtungssteuer.19 Ich stelle den Vorschlag zur Diskussion, mit einer solchen Steuer das marktmachtbildende Kapital der Großunternehmen Stück für Stück abzuschöpfen. Da wir nicht vorhersagen können, um wieviel die einzelnen Großunternehmen schrumpfen müßten, um ihre Marktmacht zu verlieren, ist es sinnvoll, diese Erkenntnis mit Hilfe des Marktes im Laufe der Zeit zu gewinnen. Solange ein Unternehmen Marktmacht besitzt, sollte das Jahr für Jahr freigesetzte Kapital (der Cash-Flow) insoweit "weggesteuert" werden, daß das Unternehmen seine Substanz auf Dauer nicht mehr erhalten kann und so allmählich schrumpfen muß.20 So wird mit der Zeit entweder ein "Auslaufen" der Kapitalkonzentration21 oder ein starker Anreiz zur ihrer Entflechtung und Zerlegung bewirkt.

Die Entmachtungsbesteuerung fällt für das einzelne Unternehmen dann weg, wenn die tatsächliche Marktsituation zeigt, daß es den Preis durch die Demokratie des Marktes, den Entscheid der Konsumenten, diktiert bekommt und es außerstande ist, die Demokratie der Staatsbürger - die Funktionsfähigkeit von Parlamenten, Gerichten und Exekutive - zu behindern.22 Und umgekehrt: Sobald sich herausstellt, daß ein Unternehmen Marktpreise ökonomisch, politisch oder ökologisch manipulieren kann, muß es wieder Entmachtungssteuer zahlen. Jeder betroffene Bürger muß ein Klagerecht auf die Durchsetzung dieses Mechanismus im Einzelfall haben.

Dadurch würde eine Dynamik der Selbstauflösung und Schrumpfung der Konzerne bewirkt: Die bisherigen Anteilseigner der Großunternehmen hätten plötzlich ein vitales Interesse, "ihre" Konzerne in viele kleine, voneinander unabhängige Unternehmen zu zerlegen.23 Dies wäre nämlich der einzige Weg, um wieder Rendite zu erwirtschaften. Ein Unternehmen wie die Deutsche Bank mit seinen Hunderttausenden von Aktionären würde so in Dutzende von kleineren Banken zerfallen. Da die großen Multis mit ihren vielen Beteiligungen und Tochtergesellschaften aus unzähligen voneinander technisch unabhängigen Produktionsbetrieben bestehen, könnte in der Regel ein einzelner Weltkonzern sich in Hunderte ökonomisch selbständige Unternehmen auflösen. Das Gewinninteresse der Kapitalisten wäre von dem Interesse, Marktmacht zu bilden, abgekoppelt, es würde als Antrieb der Dekonzentration wirken.

Die Tendenz der Dekonzentration verstärkt sich, wenn das durch die Entmachtungssteuer abgeschöpfte Kapital nicht zur Finanzierung des Staatshaushalts verwendet wird, sondern dahin zurückfließt, wo es hergekommen ist, zu den einzelnen Bürgern - als Gutschriften für den Erwerb von Kapitalanteilen. Jeder Bürger erhielte dadurch Kapitalanteile von Unternehmen nach eigener Wahl. Da marktmächtige Unternehmen durch die Entmachtungssteuer aber keine Rendite versprechen, würde man das Geld in kleinere Unternehmen investieren. So, wie in einer Agrargesellschaft der Hunger nur durch eine Verallgemeinerung des Bodenbesitzes bekämpft werden kann, ist in Industriegesellschaften die Verallgemeinerung des Kapitalbesitzes eine Voraussetzung, um Armut und ökologische Enteignung zu verhindern.

Eine Verfassungsreform ist notwendig

Die Verfassungen selbst der entwickeltsten Demokratien haben ein Defizit, das zur Selbstzerstörung der freiheitlichen Konstitutionen führt. Einerseits sichern sie die Grundrechte der Bürger gegen unmittelbar vom Staat ausgeübte Gewalt. Anderseits schützen sie nicht gegen Grundrechtsverletzungen, die der Staat bewirkt, indem er durch seine Institutionen und Gesetze private Wirtschaftsmacht ermöglicht. Würden dagegen die Grundrechte, seien es nun diejenigen auf Eigentum und Pressefreiheit oder das auf körperliche Unversehrtheit, konsequent als Freiheitsrechte aller Bürger interpretiert und auf alle Formen staatlichen Handelns angewandt, wäre der Staat sogar verpflichtet, eine Politik der Entmachtung einzuleiten.

Prinzipielle Rechtsfragen stellen sich neu: Heute genießen Großunternehmen Grundrechtsschutz. Dadurch können Grundrechte paradoxerweise den Menschenrechten entgegenwirken. Darüber hinaus verbietet das Grundrechtsverständnis der meisten Juristen die Vorstellung, die Größe des privaten Eigentums mit einer Obergrenze zu beschränken, um die Grundrechte aller Bürger zu schützen.

Die radikalliberale Tradition setzt dem ein fundamental andere Auffassung von Grundrechten entgegen. In der Französischen Revolution wurden zunächst die merkantilistischen Handelskompanien, erste Vorläufer unserer heutigen Aktiengesellschaften, verboten, weil sie der Idee der universellen Menschenrechte widersprachen.24 Den Verteidigern der amerikanischen Freiheitsidee in der Tradition Thomas Paines wie auch Thomas Jeffersons ging es bei "liberty" und "property" nicht nur um den Schutz der Bürger vor direkter staatlicher Gewalt, sondern auch um die Verhinderung ökonomischer Machtzusammenballungen durch den Staat. Erst als sich die protektionistische Politik der Förderung nationaler Großindustrien durchsetzte, trat diese menschenrechtliche Intention zurück und pervertierte das Verfassungsrecht zum Schutzinstrument für das Wachstum von Großunternehmen.25

Eine Verfassungsreform der Machtminimierung kann nicht nur an die fast vergessene radikalliberale Tradition, sondern auch an einige neuere Tendenzen in der Rechtsentwicklung und Rechtsinterpretation anknüpfen. Einerseits wird die Existenz von Konzernen zum Beispiel in der ständigen Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts grundrechtlich legitimiert, so wie es dem allgemeinen Verfassungsverständnis der modernen Industriestaaten entspricht.26 Anderseits werden in einzelnen Formulierungen des höchsten Gerichts vorsichtige Zweifel daran geäußert, ob für "größere Kapitalgesellschaften" das Grundrecht auf Vereinsfreiheit gelten könnte.27

Damit die Grundrechte konsequent als Menschenrechte angewandt werden können, müssen die Verfassungsinstitutionen ausgebaut werden. Die machtfreie Marktwirtschaft als gesamtgesellschaftliche Verfassungsinstitution ist genauso wie die Institutionen der traditionellen innerstaatlichen Gewaltenteilung in den einzelnen Verfassungen (und der Konstitution Europas) zu verankern. Gleichzeitig sollten die klassischen staatsbezogenen Elemente der Gewaltenteilung ausgebaut werden, um den Entmachtungsprozeß in der Gesellschaft zu ermöglichen: Dies gilt für die Unabhängigkeit der Judikative genauso wie für die Souveränität der Legislative. So könnte Abgeordneten verboten werden, für Großunternehmen tätig zu sein. Das Parlament wäre zu verpflichten, seine legislative Arbeit dort zu leisten, wo heute industrieabhängige Gremien lebenswichtige Grenzwerte festlegen. Das klassische liberale Recht des einzelnen Bürger auf Abwehr gegen zu Unrecht ausgeübte staatliche Gewalt sollte ausgebaut werden: Es müßte zum Beispiel für jeden möglich sein, genauso wie gegen staatliche Zensur auch gegen eine staatliche Medienpolitik zu klagen, die die Pressefreiheit gefährdet, weil sie private Medienkonzentration ermöglicht.

Dieses Verfassungsprinzip der Machtminimierung richtet sich nicht nur gegen die Existenz von demokratieunverträglichen Großkonzernen. Es könnte im allgemeinsten Sinne dazu beitragen, die Gefahr zu verringern, daß auf demokratischem Weg die Demokratie abgeschafft wird. Für Thomas Paine dienten die Menschenrechte bereits zum Schutz der nächsten Generationen vor der Macht der jeweils lebenden Menschheit, der es untersagt sein soll, durch ihr gegenwärtiges Handeln die Freiheit in der Zukunft zu gefährden. Danach hat heute auch eine demokratische Mehrheit kein Recht, durch Machtausübung mit den Mitteln der ökologischen Zerstörung zukünftigen Generationen ihre Menschenrechte zu nehmen, ganz gleich, ob Energiekonzerne oder einzelne Autofahrer die Verursacher sind. Genauso wie der Staat heute verpflichtet ist, bei seinen klassischen Ordnungsaufgaben im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzip ein Minimum an Herrschaft auszuüben, so dürfte die Existenz von Atomkraftwerken genauso wie die von Großkonzernen nicht verfassungsgemäß sein, weil sie dem Prinzip der Machtminimierung für die gegenwärtige wie die zukünftige Gesellschaft widerspricht.

Wie der Übergang vom liberalen Rechtsstaat des neunzehnten Jahrhunderts zur sozialstaatlichen Demokratie des zwanzigsten Jahrhunderts könnte dieser Konstitutionswechsel bewirken, daß eine weitere Stufe der Geltung von Menschenrechten durchgesetzt würde. Eine machtfreie Marktwirtschaft ist realisierbar, wenn sie demokratisch gewollt wird.

Anmerkungen

1 Gegen den "Agrarkapitalismus" richtete sich ihre Forderung nach einem Verbot und dem Rückgängigmachen der Einhegungen ("enclosures"), die eine Enteignung von Kleinbauern zu Gunsten von Großgrundbesitzern bedeuteten, die mit Lohnarbeitern Großfarmen betrieben. Gleichzeitig forderten die Leveller die Abschaffung aller Monopole. Sie wollten die Auflösung der ("oppressive") "Merchant-Adventurers" und vergleichbarer Handelsgesellschaften.

2 Zum Beispiel klagte 1888 der Staat New York erfolgreich gegen die North River Sugar Refining Company, die Teil eines Trusts war, der 90 % der Zuckerproduktion in den USA beherrschte. Das Gericht forderte die Auflösung der Aktiengesellschaft.1890 erhob der Staat Kalifornien gegen eine andere Gesellschaft dieses Trusts ebenfalls Klage, um wegen mangelnden Wettbewerbs ihre Auflösung zu erreichen. Die Klage hatte Erfolg.
Rockefellers Standard Oil Trust stand durch eine Gerichtsentscheidung in Ohio 1892 kurz vor seiner Auflösung. Daß alle diese Urteile letzten Endes den Vermachtungsprozeß nur verzögern, aber nicht aufhalten konnten, lag daran, daß in der Folge das Aktienrecht in immer mehr Staaten der USA geändert wurde. Dies hing eng mit den Interessen der Einzelstaaten zusammen, durch Unternehmensansiedlungen Steuereinnahmen zu erzielen. Die liberalen Prinzipien, die das Unternehmenswachstum begrenzten und die Konzernbildung untersagten, um Marktfreiheit und Eigentum der Bürger zu sichern, wurden abgeschafft.

3 Zum Beispiel entwickelt Vladimir Gutnik, Leiter der Westeuropaabteilung des Weltwirtschaftsinstituts an der "Akademie der Wissenschaften" (Moskau) seit dem Beginn des Transformationsprozesses in Rußland seine Analysen und Konzepte mit Hilfe der Methoden der Euckenschen Ordnungstheorie und Ordnungspolitik. Dapei Zuo (Economic Academy of Social Sciences, Beijing) forscht in China in die gleiche Richtung. Siehe auch: Carsten Herrmann-Pillath, Institutioneller Wandel, Macht und Inflation in der Volksrepublik China, Baden-Baden 1991.

4 Siehe: Walter Oswalt, Die Ordnung der Freiheit, in: Die Zeit, 46/92. Wiederabgedruckt in:Zeitpunkte 3/93 und in: Die großen Ökonomen, Hrsg. Nikolaus Piper, 1996.

5 Siehe: Walter Oswalt, Gegen die Macht der Monopole, in: Die Zeit, 4/91.

6 Die Ausnahmen sind bei Eucken klar und eng definiert: "Technisch unmöglich" ist die Entflechtung bei dem Vorhandensein sogenannter "natürlicher Monopole", wie zum Beispiel bei Bergwerken, die seltene Bodenschätze ausbeuten . "Volkswirtschaftlich unmöglich" ist die Herstellung vollständiger Konkurrenz bei einer sehr beschränkten Nachfrage, die nicht ausreicht, um die Existenz vieler Unternehmen zu ermöglichen (z.B. bei Schiffslinien im Fährverkehr). Solche Unternehmen müssen nach Euckens Konzeption der Kontrolle des "Monopolamtes" unterworfen werden, die die Unternehmen durch strenge Auflagen und Preiskontrollen dazu zwingt, sich so zu verhalten, als bestände vollständiger Wettbewerb. ("Als-ob-Wettbewerb"). Eucken war davon überzeugt, daß dieser Sonderbereich nur relativ wenige Ausnahmefälle umfaßt und deshalb durch den Staat gut kontrolliert werden kann, wenn eine Wettbewerbsordnung tatsächlich durchgesetzt wird.

7 "Der Bundesverband der Deutschen Industrie beziffert sogar den Anteil des Intrakonzernhandels allein der 200 größten Unternehmen am Welthandel auf 30 Prozent", schreibt die Werkstatt Ökonomie (Heidelberg) in ihrer Studie "Multis,Markt und Krise - Unternehmensstrategien im Strukturumbruch der Weltwirtschaft", Heidelberg 1992, S. 273.

8 Die Wende zur Legitimierung des unbegrenzten Wachstums von Kapitalgesellschaften leitete das Aktiengesetz von New Jersey im Jahre 1849 ein, das damals zum ersten Mal keine Schranken für die Höhe des Grundkapitals enthielt.

9 Siehe: Henry C. Simons, A Positive Program For Laissez Faire, The University of Chicago Press, 1934, S. 19 f. "Limitation upon the total amount of property which any single corporation may own: a) A general limitation for all corporations, and b) A limitation designed to preclude the existence in any industry of a single company large enough to dominate that industry..."
Forderung a) unterscheidet sich von der Konzeption der Freiburger Schule, die die Bemessung der akzeptablen Unternehmensgröße ganz von der Frage abhängig macht, ob das entsprechende Unternehmen auf den jeweiligen Märkten Marktmacht besitzt. Eucken hat deshalb die Orientierung an isolierten Arbeitsplatzzahlen und Kapitalgrößen abgelehnt.

10 Eine Reihe von älteren Arbeiten von Böhm- und Eucken-Schülern sind trotz der inzwischen eingetretenen ökonomischen Veränderungen nach wie vor maßgebend, z.B.: Ernst-Joachim Mestmäcker, Verwaltung, Konzerngewalt und Rechte der Aktionäre, Karlsruhe 1958; Hans Otto Lenel, Ursachen der Konzentration unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Verhältnisse, Tübingen 1962. Nach dem Tod der Begründer der Freiburger Schule hat es trotz der wichtigen Rolle, die Schüler von Eucken und Böhm in Wissenschaft, Publizistik und Politik in Deutschland gespielt haben, wenige Ansätze zu einer Weiterentwicklung ihrer Theorien gegeben. Einen der wenigen neueren machtkritischen Ansätze in den Wirtschaftswissenschaften - vor allem in bezug auf Geldtheorie und Ökologie - verfolgt Hans Christoph Binswanger (St.Gallen). Siehe zum Beispiel: Hans Christoph Binswanger, Eigentum und Eigentumspolitik, Zürich 1978. Eine Kritik ökonomischer Machtstrukturen entlang einzelner Problemfelder (ohne eine umfassende Theorie der Machtanalyse wie die Freiburger Schule) wird von einer ganzen Reihe von unabhängigen Institutionen ökologischer Wirtschaftsforschung und von NGOs, die gegen die weltweite Armut arbeiten, betrieben.

11 Dazu: Günter H. Roth, Das Treuhandmodell des Investmentrechts, Frankfurt 1972. Roths Untersuchung zieht ausführlich den Reformgedanken in Erwägung, die Unkündbarkeit der Kapitalanteile von Aktiengesellschaften abzuschaffen. Diese Studie stellt deshalb eine wertvolle Ausnahme in der Literatur des Kapitalgesellschaftsrechts dar.

12 Dazu: Paul Pütz, Hans Willgerodt, Gleiches Recht für Beteiligungskapital, Baden-Baden 1985.

13 Durch die üblichen Bilanzierungstechniken wird die Höhe der tatsächlichen Gewinne verschleiert (z.B. durch Bildung von Rückstellungen und Rücklagen).

14 Hier kann an aktuelle Tendenzen in der Unternehmensführung angeknüpft werden. Betriebswirte die konsequent an dem "Shareholder Value" als Maßstab der Unternehmensführung orientiert sind, erkennen immer stärker, daß viele Unternehmen, selbst unter den bestehenden konzernfreundlichen Rahmenbedingungen, zu groß und unflexibel sind, um optimal zu arbeiten. Im allgemeinen handelt es sich bei der heute modischen "Dezentralisierung" der Unternehmensstruktur um ein bloßes Modernisieren der weiter wachsenden Kapitalkonzentrationen. In manchen Fällen wurde aber bereits echte Unternehmensaufspaltungen durchgeführt, so daß aus einem alten mehrere neue voneinander unabhängige Unternehmen entstanden. Siehe dazu: Geoffrey Owen und Trevor Harrison, Why ICI Chose to Demerge, Harvard Business Review, 73 (March-April) 1993, S. 133-142; Alfred Rappaport, Creating Shareholder Value. The New Standard for Business Performance, The Free Press (USA) 1986. Das Entmachtungskonzept schafft Rahmenbedingungen, um aus solchen Ausnahmefällen der Unternehmensaufspaltung den Regelfall und aus den inzwischen üblichen konzerninternen Dezentralisierungsmaßnahmen echte Zerschlagungen von Großunternehmen zu machen. Entflechtungen und Unternehmenszerlegung würden in dem Maße zu einer betriebswirtschaftlichen Strategie der Profitmaximierung gehören, wie leistungswettbewerbliche Rahmenbedingungen politisch durchgesetzt würden.

15 Siehe: Henry Simons, Economic Policy for a Free Society, Chicago 1948.

16 Gleiche Regeln im Steuerrecht für kleine wie für große Unternehmen führen häufig nicht dazu, daß Unternehmen unterschiedlicher Größe tatsächlich gleich behandelt werden. Z.B: Auf dem Weg normaler Verlustabschreibungen finanziert der Steuerzahler Großbetrieben die Verluste unrentabler Produktionsstätten, die, als unabhängige Unternehmen betrieben, längst zum Konkurs geführt hätten. Um zu erreichen, daß die Regelungen des Steuerrechts kleinere Unternehmen mindestens nicht benachteiligen, müßten sie nicht nur "neutral" sein, sondern Unternehmensgröße gezielt benachteiligen. Zum Beispiel müßten (zusätzlich zur Streichung der konzentrationsfördernden Sonderabschreibungen) die normalen Abschreibungsmöglichkeiten mit steigender Kapitalgröße kontinuierlich sinken. Eine solche Reform des Steuerrechts sollte mit dem Konzept der Entmachtungssteuer verknüpft werden, die später in diesem Text vorgestellt wird.

17 Walter Eucken, Die Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1990, 6. Auflage (Taschenbuchausgabe), S. 255 ff.

18 Siehe: Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, a.a.O., S. 279 ff.

19 Zum Beispiel: Die Gefahr der Klimakatastrophe erfordert, das Auto als Massenverkehrsmittel abzuschaffen. Dadurch könnten elementare Freiheiten ermöglicht werden: Sei es die Freiheit von Kindern und Erwachsenen, sich ohne die Gefahren von Unfällen und Smog im Freien zu bewegen, oder die Freiheit der Bürger, sich demokratisch für das sachlich bestmögliche Verkehrssystem zu entscheiden, ohne unter dem Druck von Automobil- und Mineralölkonzernen zu stehen, die durch eine ökologische Politik überflüssig werden.

20 Walter Eucken hatte geplant, die Möglichkeiten, die die Steuerpolitik für eine Dekonzentration bestehender Wirtschaftsmacht hat, im Rahmen der "Grundsätze der Wirtschaftspolitik" zu untersuchen. Sein unerwartet früher Tod (1950) hinderte ihn daran. Franz Böhm hat 1951 vermutet, daß bereits eine Reformierung des Steuersystems entsprechend dem Gleichheitssatz bewirken würde, daß "sich sehr viele Konzerne und Großbetriebe aus ihrem eigenen wohlverstandenen Rentabilitätsinteresse freiwillig entschachteln" würden. Vgl. Franz Böhm, Die Aufgaben der freien Marktwirtschaft, Ungelöste Fragen, insbesondere das Monopolproblem, München 1951, S. 58.

21 Die Entmachtungssteuer ist um so effektiver, je konsequenter die anderen ordnungspolitischen Maßnahmen gleichzeitig durchgeführt werden. Die Entmachtungssteuer muß klar unterschieden werden von Vorschlägen für eine "Monopolgewinnsteuer" (z.B. Ota Sik), die nur auf eine Abschöpfung von Sondergewinnen bei Erhalt der Unternehmensgröße ausgerichtet sind. Solche Vorschläge können sogar kontraproduktiv sein. Sie fördern das Interesse des Staates am Erhalt der Machtkonzentrationen, weil Großunternehmen durch eine "Monopolgewinnsteuer" für die Finanzierung des Staatshaushalts noch weniger verzichtbar werden.

22 Diese enteignende Wirkung kann dann eintreten, wenn das gesamte Unternehmen (oder ein Großteil seines Kapitals) bloß einer (oder wenigen) Personen gehört und deshalb die Zerlegung erschwert oder unmöglich ist. Extrem große persönliche Vermögen sind mit einer machtfreien Marktwirtschaft unvereinbar. Ein Effekt der Entmachtungssteuer ist das Zusammenschrumpfen dieser Vermögen. Um schließlich eine freiheitsverträgliche Verteilung der Vermögen zu erreichen, muß das Entmachtungskonzept auch diejenigen persönlichen Vermögen erfassen, die zwar nicht unmittelbar Oligopole, aber eine oligarchische Verteilung der "Stimmkarten" auf den Kapital- und Produktmärkten verursachen. Ich stelle also zur Diskussion, einerseits die Vermögenssteuer von kleineren und mittleren Vermögen (z.B. kleiner als 3 Millionen Dollar) zu streichen. Die Substanz größerer individueller Vermögen sollte andererseits stark progressiv besteuert werden, so daß es in keinem Fall persönliche Vermögen mehr geben kann, die die Größenordnung von 25 Millionen Dollar überschreiten (siehe darüber hinaus zum Vorschlag einer entmachtenden Erbschaftsbesteuerung: W. Oswalt, "Positionen", in Kontraste, Nr. 95, Wien 1996.) Da alleine das Vermögen der 358 bekannten Dollarmilliardäre das jährliche Gesamteinkommen der Länder übersteigt, in denen fast die Hälfte der Weltbevölkerung lebt, wäre durch solche Maßnahmen eine gerechtere Verteilung der "Stimmkarten" auf den nationalen und weltweiten Märkten erreichbar.

23 Bei der Anwendung der Entmachtungssteuer muß die Marktmacht des Unternehmens auf den Produktmärkten und die aus seiner Finanzkraft resultierende Macht im "Standortwettbewerb" (politische Macht) zusammen berücksichtigt werden. Dies hat verschiedene Konsequenzen:
a) Mittlere Unternehmen, die in Nischenmärkten oft durch echte Pionierleistung Oligopolstellung erreicht haben und nur über eine geringe Finanzkraft verfügen, dürfen durch die Entmachtungssteuer keinenfalls wie Großkonzerne getroffen werden, für die diese Besteuerung vor allem gedacht ist. Deshalb ist es naheliegend, eine von der Kapitalstärke abhängige Steuerprogression vorzusehen. Die Progression muß so ausgerichtet werden, daß die von Simons geforderte absolute Grenze für die Größe des Eigentums von Kapitalgesellschaften (und damit auch das sich daraus ergebende Limit für die Größe von persönlichen Vermögen) nicht überschritten werden kann.
b) Unternehmenseinheiten, die juristisch selbständig sind, aber faktisch durch die Kapitalverhältnisse von einem Unternehmen mit großer Finanzkraft abhängig sind, müssen auch dann, wenn sie auf den Produktmärkten vollständigem Wettbewerb ausgesetzt sind, Entmachtungssteuer entsprechend der Kapitalstärkte des Gesamtkonglomerats zahlen. Sie können erst dann der Entmachtungsbesteuerung entkommen, wenn sie tatsächlich unabhängige Unternehmen werden (d.h. die Kapitalstärke verlieren, die politische und ökonomische Macht ermöglicht).

24 Schon 1795 wurde die freie Gründung von Kapitalgesellschaften erlaubt und 1808 wieder eingeschränkt.

25 Siehe folgende Urteile des Supreme Court, die den Verfassungsschutz von Kapitalgesellschaften einführen und bestätigen: Mumm v. Illinois 95 U.S. 113; 24 L.Ed. 77 (1877); Chicago, Burlington and Quincy Railroad Co. v. Iowa, 94 U.S. 155 (1876); Santa Clara Council v. Southern Pacific Railroad Co., 118 U.S. 394 (1886).

26 Siehe z.B. BVerfGE 14, 263, 282; BVerfGE 50, 363 f.

27 siehe BVerfGE 50, 355-356.