Surfen auf den Spuren Allahs
Islam im Internet
Jörn Schulz
Das Internet ist zu einem Forum der internationalen und interkulturellen Debatte und Propaganda geworden, auch islamische Gruppen der verschiedensten Richtungen nutzen dieses neue Kommunikationsmedium. Die Palette reicht von theologischen Abhandlungen und missionarischen Aufrufen über die Selbstdarstellung der Konfessionen und Organisationen (so bieten etwa dreißig islamische Studentengruppen eigene WEB-Seiten an) bis zu Software für die Errechnung religiös bedeutsamer Daten. Zahlreiche WEB-Seiten widmen sich auch der innerislamischen Auseinandersetzung. Islamistische Kritik an den "atheistischen" Regierungen islamischer Staaten findet sich hier ebenso wie heftige Polemik zwischen orthodoxen und "häretischen" Gruppen.
Die Search Engines (http://www.altavista.digital.com/ und http://www.HotBot.com/) finden bei Eingabe des Stichworts Islam mehrere zehntausend Einträge, sind also nur brauchbar, wenn man Informationen zu genau eingegrenzten Themen sucht. Für eine Rundreise durch die Cyber-Welten des Islam ist http://www.yahoo.com/Society_and_Culture/Religion/Islam der bessere Ausgangspunkt. Ein guter Einstieg ist Investigating Islam (http://www.islamic.org.uk/), wo zunächst die Überzeugung des Besuchers erfragt wird. Wer sich zum Agnostizismus oder Atheismus bekennt, wird mit der These konfrontiert, moderne wissenschaftliche Theorien seien im Koran bereits enthalten. Diese These wird seit dem 19. Jahrhundert von muslimischer Seite als Beleg für den wissenschaftlich-rationalen Charakter des Islam angeführt, neu sind jedoch einige der hier angegebenen Beispiele.
Der Vers "Haben denn diejenigen, die
ungläubig sind, nicht gesehen, daß Himmel und Erde
eine zusammenhängende Masse waren, worauf wir sie getrennt
(oder: gespalten) und alles, was lebendig ist, aus Wasser gemacht
haben" (Koran 21:31, hier zitiert nach der Übersetzung
von Rudi Paret) wird als Verweis auf den Urknall und den Ursprung
allen Lebens im Wasser gewertet. "Ihr Dschinn (Geister) und
Menschen (die ihr beisammen seid)! Wenn ihr durch die Regionen
des Himmels und der Erde durchstoßen könnt (um euch
meinem Zugriff zu entziehen), dann stoßt durch!" (Koran
55:33) soll eine Voraussage der Erforschung des Weltraums sein.
Bei Paret lautet der folgende Satz: "(Aber) ihr werdet nicht
durchstoßen, es sei denn, aufgrund einer Vollmacht";
der Autor dieser WEB-Seite dagegen übersetzt "You will
not penetrate them save with a power.". Die wissenschaftliche
Vorausschau des Korans bleibt letztlich eine Frage der Interpretation.
Dabei gehen die islamischen Gruppen gerade beim Thema Frauenrechte in die Offensive. Erwartungsgemäß wird einhellig betont, daß der Islam keineswegs eine frauenfeindliche Religion sei, sondern vielmehr die vollkommene Gleichberechtigung verwirkliche. Auf einer islamischen Frauenseite (http://sol46.essex.ac.uk/users/rafiam/Sishome.html) werden unter anderem religiöse Rechtsgutachten (Fatwa) und Erklärungen zum Islam übergetretener Frauen (einer Christin und einer Hinduistin) angeboten.
"Ich hatte starke feministische Tendenzen", bekennt die christliche Konvertitin. Unzufrieden mit ihrer Stellung als Frau, der westlichen Lebensweise allgemein und dem Christentum, wandte sie sich schließlich dem Islam zu. "Was ich las und lernte, lehrte mich vieles über mich als Frau und auch darüber, worin die wirkliche Frauenunterdrückung besteht: in jedem System und jeder Lebensweise außerhalb des Islam." Die Argumentation auf dieser Frauenseite ist gemäßigt fundamentalistisch. Der Schleier wird befürwortet, aber nicht für verpflichtend erklärt. Unter Gleichberechtigung wird hier ein idealisiertes Patriarchat verstanden, das Rechte und Pflichten entsprechend den "natürlichen" Eigenschaften der Geschlechter verteilt.
Ähnliche Vorstellungen werden in der islamistischen Zeitschrift Nida'ul Islam vertreten (http://www.speednet.com.au/ÿnida/, hier finden sich auch Artikel zur internationalen Politik), deren Jugendseite über die Auswahl der richtigen Ehefrau belehrt. Das beste Mittel gegen die Versuchungen der "freien, pervertierten und korrupten westlichen Gesellschaft" sei eine möglichst frühe Heirat, und das wichtigste Kriterium bei der Auswahl der Ehefrau sei deren Frömmigkeit. Wie aber kann diese festgestellt werden? "Wenn du bemerkst, daß eine Frau sich bescheiden verhält und nicht zu offen in ihren Handlungen ist (indem sie ihre Stimme in der Gegenwart von Männern senkt), wenn sie ihre Reize zu verbergen versucht (was ihre äußere Schönheit ebenso einschließt wie ihre inneren Vorzüge), dann weißt du, daß sie wertvolle Qualitäten hat. Wenn du eine Frau schamlos flirten siehst, ohne sich um ihre enthüllende Kleidung zu sorgen, wenn sie sich frei mit Männern unterhält - halte möglichst großen Abstand zu ihr."
Auch für die schwarze Bevölkerung
der USA scheint das idealisierte Patriarchat einige Anziehungskraft
zu haben. Der Erfolg der Nation of Islam (NOI, http://sunsite.unc.edu/nge/
und http://www.noi.org/ führen unter anderem zu Artikeln
der NOI-Zeitschrift The Final Call und Reden des NOI-Führers
Farrakhan) beruht wohl nicht zuletzt darauf, daß diese Organisation
Rezepte gegen den Verfall der sozialen Beziehungen in den Ghettos
anbietet. "Gott haßt die Scheidung", verkündet
Farrakhan, der uns auch darüber belehrt, daß Menschen
bei richtiger Lebensführung (unter anderem nur eine tägliche
Mahlzeit) wieder das Alter der biblischen Patriarchen erreichen
können. Bekannt ist die NOI vor allem wegen ihrer Rassentheorie
("the blackman is god and his proper name is ALLAH. Arm,
Leg, Leg, Arm, Head"), die zusammen mit einigen unorthodoxen
Lehrmeinungen und Lebensregeln dazu geführt hat, daß
die NOI von den meisten Muslimen nicht als islamische Organisation
anerkannt wird.
Als "Ratschlag" wird den Ahmadis folgendes nahegelegt: "Hört auf, arme und unwissende Muslime, im Namen des Islam zu betrügen. Gebt eurem Glauben einen anderen Namen als Islam, und wir Muslime werden euch gegenüber so tolerant sein wie gegenüber Menschen anderen Glaubens. (...) Ihr spielt mit den religiösen Gefühlen einer ganzen Nation von 1200 Millionen Muslimen überall auf der Welt, und wenn sie auf eure Blasphemien und euren Unglauben reagieren, macht ihr daraus eine Angelegenheit der Menschenrechte. Das ist nicht fair!!" Vor dem Hintergrund der religiösen Verfolgungen in Pakistan (die im übrigen zunehmend auch Angehörige der theoretisch akzeptierten christlichen Konfessionen treffen) muß das als ernstzunehmende Drohung verstanden werden.
Daß die Politisierung der Religion nicht zur Intoleranz führen muß, zeigt die WEB-Seite http://www.wco.com/ÿaltaf/progr.html. Hier bietet ein US-Sozialarbeiter pakistanischer Herkunft, inspiriert vom linksislamischen iranischen Theoretiker Ali Schariati, eine Zusammenstellung von verschiedensten politischen und religiösen Texten an. Gedichte über den Propheten und den Ramadan, aber auch über Pablo Neruda oder Obdachlosigkeit haben hier ebenso einen Platz wie die katholische Befreiungstheologie und der mayanische Schöpfungsmythos.
Häufiger stößt man jedoch auf WEB-Seiten mit orthodoxen und islamistischen Inhalten. Obwohl sich diese Seiten an ein muslimisches Publikum wenden, bieten sie auch allen anderen Zugang zu sonst kaum erreichbaren Quellen, die über Weltbild und Argumentationsweise dieser Gruppen informieren. Hier verbinden sich religiöse Rhetorik und politische Argumentation, beispielsweise wenn der Wisdom Fund (http://www.twf.org/) sich Gedanken über das Feindbild Islam macht.
Im Interesse des militärisch-industriellen
Komplexes habe der Westen nach 1989 die "Schurkenstaaten"
(rogue states, Kuba, Iran, Irak, Syrien und Nordkorea) zum neuen
Feind erklärt, obwohl alle diese Staaten zusammen für
ihr Militär nur halb soviel ausgeben wie die USA allein für
geheimdienstliche Operationen. Allzu groß könne die
westliche Angst vor Totalitarismus in der islamischen Welt ohnehin
nicht sein, da der Westen dort immer totalitäre Regierungen
(als Beispiele werden Iran unter dem Schah und Irak vor dem zweiten
Golfkrieg genannt) unterstützte. Im übrigen sei Fundamentalismus
eine christliche und jüdisch-zionistische Angelegenheit,
im Islam gäbe es nur den Bezug auf Koran, Sunna und Sharia,
und das sei kein Fundamentalismus, sondern eben Islam. In Wahrheit
habe der Westen nur Angst vor der islamischen Alternative, insbesondere
vor dem Sturz der prowestlichen Eliten in den islamischen Staaten.
Auch hier stehen neben islamistischer Dogmatik politische Argumente: Durch die Teilhabe an einem korrupten Regime wird die Refah-Partei (und mit ihr der Islamismus allgemein) diskreditiert, und die kemalistischen Parteien werden nicht zögern, Erbakan bei der erstbesten Gelegenheit wieder aus der Regierung zu entfernen.
Islamistische Opposition richtet sich auch gegen einen Staat, dessen religiöse Gesetzgebung so streng ist, daß der Iran dagegen noch liberal wirkt. Das saudi-arabische Komitee für die Verteidigung der legitimen Rechte (CDLR, http://www.ummah.org.ok/cdlr/), eine der bedeutendsten Oppositionsgruppen des Landes, stellt daher ein Konzept aus der Sharia abgeleiteter Menschenrechte in den Mittelpunkt. Hier wird ein islamistischer Konstitutionalismus vertreten, der nicht zum Sturz der Monarchie aufruft, aber "das Recht des Volkes, die Ausübung der Regierungsgewalt zu überwachen", eine unabhängige Justiz und ein Ende der Repression fordert.
Zur Politik gesellt sich auch in der islamischen Welt gern das Geschäft. Auf der Grundlage islamischer Solidarität ("Buy from your Muslim Brothers!!") will eine islamische Handelskammer (http://www.ave.net/ÿicci/) muslimische Geschäftsleute und Unternehmen miteinander in Verbindung bringen. Unter business opportunities finden sich bisher jedoch nur wenige Einträge. Eine islamische Wirtschaft als Mittel gegen Massenarbeitslosigkeit propagiert die deutschsprachige Islamische Zeitung (http://ourworld.compuserve.com/homepages/iz/), präsentiert wird eine Mischung aus Neoliberalismus und vorkapitalistischem Korporativismus.
Die überwiegend von deutschen Muslimen getragene Islamische Zeitung stellt Verbindungen zwischen islamischer und deutscher Kultur (Nietzsche, Rilke) her und erklärt Goethe zum Muslim ("...soll er bei den Muslimen von nun an bekannt sein als Muhammad Johann Wolfgang von Goethe"). Hier erfahren wir auch, wie es bei der Da'wa (Ruf zum Islam) in Ostdeutschland zugeht: "So, deutsche Muslime sind Sie?... Ganz neuer Kundenstamm, enormes Investitionspotential?... Tja... Islam... Früher, vor der Wende, hatten wir ja auch so eine Art Glaubenssystem."
Viele Themenbereiche wie Sufismus oder islamische Kunst müssen hier unberücksichtigt bleiben. Schon eine kurze Reise durch die islamischen WEB-Seiten ermöglicht jedoch interessante Einblicke. Ob Sufis oder Islamisten, Ahmadis oder Orthodoxe - die meisten Gruppen präsentieren den Islam als Alternative zur westlichen Lebensweise und bemühen sich, ihre religiösen Thesen wissenschaftlich zu untermauern oder politisch zu begründen. Und es wird deutlich, daß es "den Islam" als monolithischen Block nicht gibt, im Gegenteil: die Welten des Islam sind überaus vielfältig.