Nachdenken über Müller, Heiner

Lutz Rathenow

Als wir 1979/80 uns fleißig bei Lesungen in der Wohnung des Schriftstellers Frank-Wolf Matthies im Zuhören und im Streiten über das Gehörte übten, glänzten die berühmten Namen der DDR-Literatur noch ungetrübt. Neben den ganz berühmten gab es mehrere geheimtipummunkelte, die ab und zu anwesend waren. Bei Matthies zum Beispiel Elke Erb, Kurt Bartsch oder Adolf Endler. Gespräche führten wir über die, die unsere Welt der Literatur darstellten. Plus der Neuentdeckungen. Bei der Bewertung der konkreten Arbeit waren wir uns selten einig. Bei dem Diskussionswert der Autoren an sich fast immer, als Alternative stand lustvolle Verhöhnung auf dem Programm. Nur bei einigen jüngeren Dramatikern gab es ein Problem: Sie interessierten mich, aber niemand schien sie zu kennen. Außerhalb einer Theaterszene, in der ihre Namen als schon bewährte Geheimtips herumgeisterten: Lothar Trolle, Stephan Schutz, Jochen Berg.

Heiner Müller hatte man dem Namen nach schon einmal gehört. So jung war er damals auch nicht mehr. Die Bearbeitung des russischen Romans Zement erblickte das Licht der Bühnenwelt. Das hielten einige aus unseren Kreisen für eine poetische Pflichtübung, der sich Leute unterziehen, die einmal einen Nationalpreis bekommen wollen. Dies war deutlich ungerecht. Ein sensibler, lesefreudiger Mann aus Potsdam staunte mich an, als ich es nicht verstehen wollte, daß er und sein Kreis Literaturfreunde diesen Dramatiker nicht zur Kenntnis nehmen mochten. Ich warb um Aufmerksamkeit für den Ignorierten. Mein Eifer überzeugte nicht. Er amüsierte nicht nur Frank-Wolf Matthies, der in einem Gedicht ("L. R. gewidmet") spottete: "lch sag nur eins: Geheimtip ist/ (die Tinte stockt im Füller)/ Als Zonen-Beckett stattbekannt -/ Ich sag nur HEINER MÜLLER!!!"

Von allen (literatur-)weltberühmten DDR-Autoren war Müller der unbekannteste in der eigenen Bevölkerung. Eine soziologische Studie könnte die Aura einer bloßen Theaterpräsenz (durch Schauspieler an jenen Theaterorten auch durch Erinnern an nicht gespielte Stücke erhalten) mit der Bekanntheit von Autoren vergleichen, die landesweit durch Bücher präsent sind. Oder durch nicht erschienene oder verstümmelte Ausgaben in privaten Gesprächen kursieren.

Um Müllers immense Wirkung in intellektuellen Teilbereichen der DDR und der Post-DDR-Gesellschaft zu verstehen, muß die Abstinenz seinen Werken gegenüber in den theaterfreien Zonen mitbedacht werden. Das förderte die Verehrung durch eine Gemeinde, die sich verschmäht fühlt und das Theater in ein Kloster verwandelt, in dem der Glaube an das Müllersche Werk innig gehegt wird.

Aus staatlicher Sicht (also aus der Perspektive der Machthaber) sah es wohl so aus: Ein eifrig aufstrebender Autor mit den richtigen Stoffen (50er Jahre) erwies sich als einer mit der politisch falschen Haltung (60er Jahre), für die er zu maßregeln war, wobei wir (der Staat) ein wenig zu weit gegangen sind. Die Werke sind seltsam, zum Teil verkraftbar (70er Jahre), bis man vor dem (etwas unerklärlichen) Weltruhm zunehmend kapituliert und Anerkennung und Aufführungsgenehmigungen nachreicht (80er Jahre).

1980 in der Untersuchungshaft der Staatssicherheit fielen zahlreiche Schriftstellernamen. Bei Heiner Müller zuckte der Hauptmann nur mit den Schultern. Das einzige Mal, daß er seine Nichtmeinung nicht mal betont lustlos ausdrückte. In der Regel erwarteten oder befürchteten sie etwas von der schreibenden Zunft. Er sah Die Schlacht in der "Volksbühne". Eine Inszenierung, die mir gefiel, weil sie so deutlich antideutsch sein wollte. Schon im Motto ging es um den Terror, der nicht nur aus der Seele, sondern aus Deutschland komme. Ein wenig durfte man auch an die DDR denken, ein wenig an Westdeutschland. An die Nazis sowieso. An die zu denken verbot sich fast, bei der karikativen Deutlichkeit, mit der diese Diktatur vorgeführt wurde. Das allein konnte nicht gemeint sein. Also doch die DDR, mindestens dort, wo es um Verraten und das Wechseln der Seiten im politischen Kampf geht? Das berührte Erlebnisse, die ich in Jena vor und während und nach der ersten Festnahme hatte. Aber der vernehmende Hauptmann zuckte nur mit den Schultern. Gleichgültigkeit oder Irritation? Ein Stück über die Macht, das einen Offizier des MfS nicht interessiert, der Puppenaufführungen besuchte, in denen er Staatsferne (es mußte nicht erst feindlich sein) witterte? Selten legten Offiziere so wenig Wert auf ihren Dienstrang wie Vernehmer bei der Stasi. Auch den hätten sie lieber verborgen.

Ich traf Heiner Müller mehrfach Ende der siebziger Jahre. Von Jena nach Berlin gezogen, besuchte ich mich durch die Stadt. Der Dramatiker residierte noch in seiner Pankower Wohnung, die merkwürdig aufgeräumt wirkte. Er spürte die Verstörung und entschuldigte die Ordnung mit seiner Reinemachfrau, die immer alles zusammenstapelte, was nicht zusammengehörte. So mußte er das Stück nicht finden, was ich ihm zugeschickt hatte - und es plauderte sich angenehm. Beim zweiten oder dritten Besuch lief der auf den Dielen abgestellte russische Fernseher mit dem kleinen Bildschirm, den ich oft in Wohnungen antraf und mir für ein Westhonorar später auch im Intershop kaufte. In Mogadischu stand das entführte Flugzeug, und die RAF-Leute drohten mit Sprengung. Der westdeutsche Staat entsandte seine Spezialeinheit, die dann erfolgreich stürmen und die Geiseln befreien würde. Das wußten wir nicht. Müller war nicht vom Apparat wegzubekommen. Er schenkte mir das übliche alkoholische Getränk ein. Er ging davon aus, daß ich das journalistische Nichtgeschehen (eine Abfolge von Statements und Mutmaßungen) so spannend fände wie er. Hier wollte jemand Geschichte nicht verpassen. Ich mochte ihn nicht enttäuschen. Gern spielte ich den folgsamen Schüler. Aber worum ging es hier? Eine schlimme Episode politischer Borniertheit, die im besten Fall glücklich enden würde. Ich täuschte mit Fragen und spöttischen Bemerkungen Interesse vor. Müller fieberte mit den Ereignissen. "Sie müssen sprengen, sie dürfen nicht verhandeln, sie müssen das Ding in die Luft jagen." Ich erlebte ihn zufällig in einem Augenblick (politischer) Intimität, der nicht für mich gedacht war. Durch Nachfragen erhielt ich Klarheit: Er wollte und hoffte auf eine Gewalttat. Er war nicht so primitiv, etwas Aktion herbeizusehnen - er wollte den Kampf gegen das westdeutsche System. Er lebte ihn vor dem TV mit, mein Pech, daß ich kein Bild dieses Autors stärker in Erinnerung habe. Ihn ekelte vor dem Westen, dessen Whiskey wir tranken - oder lernte ich bei Müller den köstlicheren Calvados kennen? Er vermutete in mir einen Ähnlichgesinnten - vielleicht war ich es auch noch. Lange genug klatschte ich mir ein Ulrike-Meinhoff-Plakat an die Zimmerwand, um mich bei allen DDR-Problemen daran zu mahnen, was ich zu hassen hatte. Wir lasen uns zwischen Anarchisten und Solschenizyn quer durch die Möglichkeiten gesellschaftlich widerspenstigen Verhaltens. Wir, dieser Freundes- und Bekanntenkreis, splitteten uns dann auf. Und wenn ich die Meinung dieser Leute zu Müller in den achtziger Jahren auflisten wollte, kämen drei Varianten heraus: jene, denen er immer gleichgültig war; jene, die ihn als wichtigsten DDR-Schriftsteller überaus verehrten; jene, die ihn respektierten, ihn aber als zynisch klugem Repräsentanten der DDR eher mißtrauen.

Bei dem geschilderten Gespräch im Hause des Dichters fühlte ich den aufgeregten Stolz, einem Moment radikaler Selbstentblößung beigewohnt zu haben. Ich bewunderte Heiner Müller für seine Haltung und begann, ihm zu mißtrauen. Natürlich beseelte viele das Überlegenheitsgefühl, in der (zwar schlechten, aber grundsätzlich) besseren Gesellschaftsordnung zu leben. Es verflüchtigte sich langsam, frei nach dem in der Werbung noch nicht mißbrauchten Motto: Nicht immer, aber immer öfter. Auch damals schon. Eigentlich hatte ich von der DDR die Schnauze voll, als ich Müller besuchte. Und ich begann, den oberflächlichen, krisengeschüttelten, unvollkommenen, fehlerhaften, utopielosen, besinnungslos pragmatischen, liberal zersetzten, unübersichtlichen Westen zu lieben. Mit seiner Rock- und Popkultur hatte er uns längst geködert. Wir wollten gefangen sein und uns gleichzeitig die Einbildung leisten, wir hätten die Sache im Griff. Wir angelten aus dem Westbecken, was uns gefiel. Ich begegnete später im Osten noch vielen Dichtern und Denkern, für die der Westen existierte, um den Osten zu bedienen. Mit Kaffee, Stipendien, Büchern und Pornos. "lch sehe Westberlin als ein riesiges Kaufhaus an, sonst interessiert es mich nicht", kommentierte ein anderer Autor mit Reisepaß. Wenn Müller letztlich der Staatsdichter der DDR war, was ihm das Land nicht gestattete, dann wegen dieser bis zur Betäubung inhaltierten DDR-Sucht. Du darfst "DDR" zu mir sagen, soll er in den letzten Lebenswochen von sich gegeben haben. Eigentlich lebte er vor dem Tode des Landes schon eine verbesserte, intelligent aufgepäppelte, interessante Reinkarnation der deutschen realsozialistischen Alternative vor. Eine Muster-DDR, in einen Menschen geschlüpft. Wenn man die Heftigkeit bis Verbissenheit mancher Nachrufe auf ihn liest, zumindest jener aus der Ostperspektive, so wirken sie wie der Klageschrei um den endgültigen Verlust des Landes fünf Jahre nach seinem Tod. Den Verlust des "letzten kommunistischen Intellektuellen" beklagte der Freitag. Und Andre Meier kämpferisch in der taz: "Heiner, der Kampf geht weiter." Ihr Lob trifft sich mit dem von Ulrich Schacht (Welt am Sonntag), der einen überschwenglich positiven, genau formulierten Nachruf mit der Feststellung beendet: "Zuletzt provozierte er das linksliberale Kulturmilieu der Bundesrepublik mit Bekenntnissen zu Ernst Jünger und Carl Schmitt." Die Ablehnung, der Ekel gilt der Mitte, dem Weichen, inkonsequenten, liberal bis sozialdemokratischen.

Als Mensch war Heiner Müller genau der sensible, liebevolle, uneitle, pragmatisch handelnde Mensch, wie er ihn in seinen Stücken verspottete, sofern er überhaupt vorkam. Müllers Leben und Werk sind voller Widersprüche, die über Leben und Werk hinausweisen. Es mag selbst einmal für ein Stück das Material hergeben. Material, ein Lieblingswort des Autors, der alles nur als das betrachten wollte. Und genau dies funktioniert eben nicht, da Leben nicht nach Regeln funktioniert, weder nach ganz schlichten, noch nach hochkomplizierten. Leben weigert sich - und Müller blendete die Rolle des Zufalls aus seinen Stücken aus. Wie die Staatsführung des Landes den Zufall verbannen wollte aus ihren machtpolitischen Planspielen. Müller spürte dieses Manko offenbar. Er versuchte im praktischen Leben den Folgen der (eigenen) Kunst entgegenzuwirken. Genauer gesagt: dem, was an Folgen herausgekommen wäre, hätte jemand die Stücke als Anregung zum eigenen Leben ernst genommen. Eine Lebensmaxime, die dem Müllerschen Werk im Ganzen und in fast jedem seiner Teile zu entnehmen ist: Angst regiert die Welt. Nutze sie, bevor du von ihr benutzt wirst. Soweit die Kunst, nun das Leben. Stephan Suschke, einer der engsten Mitarbeiter Müllers am "Berliner Ensemble", lobte in einem Nachruf die Eigenschaft H. M.s, anderen die Angst zu nehmen. Sein Ziel sei es gewesen, im Theater Arbeit in angstfreien Räumen möglich zu machen. So lobt ihn der heutige Mitintendant innig und sicher zu Recht. Da darf über diese Vermeidung von Angst als Triebkraft schöpferischer Arbeit und die komprimierte Darstellung von Angst auf der Bühne (als Triebmittel von Geschichte) nachgedacht werden.

Bühnenarbeiter lobten in den Nachruflesungen: "Er hat - was selten war - immer die Distanz zwischen oben und unten überbrückt. (Pause) Meist mit Getränken." Anbiederung durch Bestechung, jeder klügere Chef schafft sich so Vertraute. Die Bühnenarbeiter blieben Bühnenarbeiter, kein neues Mitbestimmungsmodell wurde debattiert, die realen Verhältnisse alkoholisch verfeinert bis verschleiert.

Ich mußte bei der Lektüre dieser Statements an die schmutzigen und harten Arbeiten beim Straßenbau denken, da kriegten Arbeiter bei Leipzig (von dort hörte ich es) zu DDR-Zeiten kostenlos billigen Schnaps und/oder mit Glykol versüßten Tee zu trinken, so daß sie sich mit gedämpftem Bewußtsein durch den Tag schufteten. Was heißt überhaupt: die Angst nehmen. Sollten wir nicht den Umgang mit ihr trainieren?

Das Theater als (angstfreie) Nische in einer profitorientierten Gesellschaft? Kein Wunder, daß niemand am BE auf den Gedanken kam, die heftige Trauer über den Tod des großen Mannes aus dem Theater hinauszutragen. Der Hauptdarsteller war weg, das Nachspiel begann. Als ob ein Engel das Theater verlassen habe, klagte eine Schauspielerin. Und Deutschkurse aus vor Verlegenheit kartenspielenden Schülern fühlten sich zur Trauerarbeit genötigt. Die Nachlaßvollstrecker arbeiteten fix - Rolf Hochhuth übermittelte am Tag Drei nach Müllers Tod dessen fast letzten Willen: Er, Hochhuth, solle zum hundertsten Geburtstag von Brecht ein Stück über Brecht schreiben. Selbst dramaturgische Tips weiß der überlebende Dramatiker zu zitieren: "Piscator muß in Ihrem Brechtstück natürlich auch auftreten als sein bester Freund." Müller, der Spötter, mag mit Vergnügen an das vermutbare Ergebnis gedacht haben, das er nicht mehr zu besichtigen braucht. Doch Hochhuths Rachemöglichkeiten sind damit nicht erschöpft: er könnte sich am Heiner-Müller-Stück versuchen. Niemand ist eben nur Marionette oder Material. Was gestand der stolze Vater Müller im letzten Lebensjahr einer Zeitung? Es würde schwierig, sein Nichtmehrbaby weiter in die abendlichen Vorstellungen mitzunehmen - das Kind wolle mitspielen. Eine jener unberechenbaren Störungen, die in kein Müllerstück passen. Seine Ästhetik reagiert auf Diktaturen und ihre Folgen. Die permanente Schlacht im letzten Jahrzehnt, von Regisseuren in den Spielsalon der Postmoderne verlegt. Da man nichts ernst nehmen mußte, war auch das Spiel kein freies. Die Mauer erlaubte den Rückzug, der das (westliche) Draußen als Spielfeld ermöglichte. Ein wundergroßer Sandkasten zum Austoben.

Der Verlust der deutschen Teilung zerstörte die Distanz zwischen drinnen und draußen. Verluste, die keine Katastrophen auslösen, sind für Müller kein Thema, der Fall der Mauer eine Panne. Während die meisten Menschen im Osten die Vielfalt und Hektik eher schreckte, sie sich tendenziell überfordert fühlten, gehörte Müller zur kleinen intellektuellen Ostgruppe (meist Paßwanderer zwischen Ost und West), für die es nun langweiliger wurde. Im Dauerwesten droht die Langeweile einer endlosen Hektik. Kommunismus oder Barbarei, einer der oft zitierten (Nach-)Sprüche Heiner Müllers, verwandelt sich in die Perspektive: Weder Kommunismus noch richtige Barbarei. Die Geschichte entzieht sich für Jahrzehnte der großen dramatischen Wendung. Wie reagiert der Intellektuelle darauf? Er ist enttäuscht. Wenn die eigenen Gewißheiten verschwunden sind, sollen auch alle anderen weg sein müssen.

Nun hat jede Gesellschaft (und jeder Staat) seine barbarischen Einsprengsel. Die Philosophen haben die Welt immer nur verändert, es käme darauf an, sie wirklich zu interpretieren. Doch ein wenig barbarischer als im jetzigen Deutschland meinte Müller die Barbarei schon. So geht er nicht nur als Weltdramatiker, Zigarrenvertilger und intelligenter Plauderer in die Geschichte ein: er bleibt der Sprücheklopfer vom Dienst. Die klügsten und die dümmsten, oft zu kurz nacheinander, ein Wechselbad der Ideen zwischen genial und reichlich trivial. Was sollten Sätze wie: "Zuerst sah es so aus, als ob dieses Stück DDR einfach einverleibt würde. Das scheint aber nicht zu funktionieren." Als ob der Staatskörper West auf diesen Schluck- und Zersetzungsvorgang vorbereitet war. Für den (Ost-)berliner Dramatiker entstand ein Vakuum, das von der D-Mark zusammengehalten wird. Gut wäre das und würde doch die D-Mark (zu ewiger Stabilität verwandelt) im "Euro" auf das allerschönste auferstehen. Es ist eine Stärke der westlichen Gesellschaft, daß diese immer wieder ein Vakuum produziert, das mit neuen geistigen und materiellen Produkten gefüllt wird. Es ist ihre Schwäche, daß sie sich um den Zugang zu diesen Produkten für alle wenig kümmert. Dieses System könnte mit der Warengesellschaft an sich verschwinden, die Mark wäre dann erster Verlust und keinerlei Halt. Und was verschwindet schon wirklich. Der Westen ist, weil er ist. Er produziert einen Strudel ständig neuer Ungewißheiten.

Müllers dramatischen Collagen könnte mit dieser Lust auf ungewohnte Kombinationen Lebensatem eingehaucht werden. Was sagte kürzlich ein Taxifahrer? "Früher wußte man wenigstens, daß alles gelogen war. Heute stimmt nicht einmal das mehr." Sicher ein Satz, der dem Klassiker zitierbarer Sätze gefallen hätte. Sicher zitierte ich den Satz schon mehrfach. Und damit zu oft? Es gehört zu den Leistungen Müllers, ein Gespür für das Komprimierte, Wesentliche zu kultivieren. Neben der Gefahr der Ideologisierung (Anpassung des Unpassenden) wirkt als Leistung schon die Intensität, die Verdichtung auf den Kern. Noch im letzten Stück (Germania 3), eher eine locker verknüpfte Folge von Szenen, gelingen Geschichten in zwei bis vier Sätzen, die soziologische Studien ersetzen. Müller witzelt mitunter bloß nett frech: "Willst du dich daneben hängen. Ich besorg dir einen Strick. Dich wird dein Schlips nicht halten." Und dann weiß er den richtig bösen Witz so einzubauen, daß aus ihm sich die Macht-Verhältnisse finster-fröhlich offenbaren. Was sagt der Arbeiter zum besoffenen Funktionär? "Wenn wir soweit sind und wir hängen euch auf, dich schneid ich ab, Franz." Müller bedauerte einen Artikel lang (Oktober 1991), daß es beim Verschwinden der DDR so blutlos zuging. Merkwürdige Ansichten eines Dochnochrevolutionärs, der sich strikt verbietet, an die Folgen für die eigene Person zu denken. Denn die Unterscheidungsfähigkeit revoltierender Volksmassen ist begrenzt. Und das Ministerium für Kultur, das Büro für Urheberrechte und die Akademie der Künste wären eine günstige Wegstrecke für effektives Massenaufhängen gewesen. Dann lieber doch das dramatische Werk des Dichters in seiner relativen Unschuld.

An einem Mittwoch, Anfang der achtziger Jahre, hörte ich zufällig, daß drei neue Stücke von H. M. gespielt würden. Am nächsten Abend, in einem für solche Zwecke selten genutzten kirchlichen Raum, sehe ich mit fünfzig weiteren Zuschauern MedeaMaterial, Verkommenes Ufer, Bildbeschreibung. Zweieinhalb Stunden konzentriertes, leidenschaftliches Spiel. Das schmale Ostberliner Zimmer mit Plastikfolien ausgelegt. Geräusche vom Band, an die Wand projizierte Dias, neben den Stühlen ein Videorecorder, der uns Zuschauer zwingt, das Geschehen in doppelter Perspektive wahrzunehmen. Die jungen Schauspieler kitzeln präzise die Spannungen aus den Texten auf die Nichtbühne, verblüffend jene von einem Mann gespielte Medea. Am Schluß wickelt eine Frau uns Gäste mit dünnem Garn ein, den letzten Satz ständig wiederholend: "Was ist stärker, Blut oder Stein?" Unterstützt vom Tonband, das den Satz nach Abgang der Akteurin mit monotoner Stimme abspult. Und wir, mäßig verschnürt, warten ab.

Es tut sich nichts. Bis sich die ersten aus den Fäden losreißen. Bis einer das Band abstellt, alle klatschen. Die Spieler treten nicht artig vor. Die Medea, ein künftiger Schauspielstudent, will seinen Namen nicht sagen, als er später die Requisiten wegräumt. Nein, nochmals auftreten möchten sie nicht. Ich erfahre von einem Bekannten, daß auch die anderen ans Theater wollen. Deshalb keine Plakate, keine Ankündigung der Gruppe, die Verbindung mit der Kirche hätte den Studienmöglichkeiten geschadet, also geheimhalten. In sich alles logisch, an sich schon sehr absurd: Energie dafür zu verwenden, daß eine gelungene Sache nicht zu bekannt wird.

Eine von zwei wirklich eindrücklichen Erlebnissen eines Müller-Stücks, an die ich gern erinnere. Das zweite fand in einer Kirche statt und wurde von ihrem damaligen Vikar Thomas Krüger inszeniert. Der spätere SPDler aus Berlin scheute keine Mühen, eine deutlich antirealsozialistische Lesart aus der Wolokolamsker Chaussee herauszufiltern. Der ganze Raum der Galiläa-Kirche war (samt Altar) mit ausgehängten Zeitungen verdeckt. Einzelne Rollen verteilte Krüger auf verschiedene Kinder und Jugendliche. Die Gemeinde spielte und der Regisseur gestaltete. Proben als politisches Bildungserlebnis. Meinem achtjährigen Sohn als Mitspieler mußte ich Republikflucht, Bautzen und die Bedeutung von 1968 erklären. "Das rote Halstuch - rot vom Blut der Stalin-Opfer", diese Sätze hat er noch heute im Kopf, "das Messer steckt, aber das Herz schlägt weiter". Hier wurde in der Hauptstadt der DDR ein Tribunal gegen das Land entfaltet, kein verrätseltes Kunststück. So brisant hatte ich mir Müller nicht vorzustellen gewagt. Der alte Genosse wurde von drei Leuten (eigentlich eine Rolle) derart vorgeführt, daß von dramaturgischer Gerechtigkeit keine Rede mehr sein konnte. Es geriet etwas klischeehaft. Und politisch herzerfrischend. Und durch die jungen Laienspieler doch in sich stimmig. "Die Munition, die mich zerreißen wird, ist volkseigen", droht das jüngste Kind dem Bühnenvater.

Die Kirche ist mehrfach voll, es kommt sogar zu einem Gastspiel bei einem Theatertreffen außerhalb Berlins.

Nach dem Applaus bei der Uraufführung verwickelt mich ein Mitarbeiter einer westlichen Botschaft in ein Gespräch. Da er gern recht aufdringlich fragte, wich ich ihm bei solchen Gelegenheiten gern aus. Besonders dort, wo jeder unsere Gespräche verfolgen konnte. Diesmal zeigte er so deutliche Verblüffung, daß ich meine Vorsicht vergaß. "Das ist offener Widerstand", staunte er. Ich wiegelte ab, es sei nur ein Stück, solche ungenehmigten Aufführungen gäbe es in letzter Zeit häufiger.

"Wenn das der Staat durchgehen läßt, haben sie ihn beträchtlich in Verlegenheit gebracht", kommentierte er, "Sie und ihre Freunde sind weiter, als sie das ahnen."

Heiner Müller erschien bei der Premiere nicht. Es durfte ja auch gar keine sein. Genaugenommen sollte es eine öffentliche Aufführung des Stückes noch gar nicht geben. Irgendein Theater hatte sich selber schon die Erstaufführungsrechte gekauft. Das Textbuch hatte ein Bekannter Thomas Krügers aus dem Henschel Verlag geklaut.

Eine Frau des Verlages schrieb wohl auch einige unfreundliche Briefe. Nach der Wende erkundigte sich der Dramatiker bei dem nun zum Stadtrat auf(?)gestiegenen Jung-Regisseur, wie das damals alles gelaufen wäre. Wie er an das Manuskript herankam. Im nachhinein soll Müller diese Aufführungsepisode sehr amüsiert haben. Erklärte mir Thomas Krüger. Gesehen hat er diese Aufführung nie. Kleine Selbstkritik: Ich deutete sein Nichterscheinen zur Premiere berechnender. Als wolle er sich vor dem Verfolgen der möglichen politischen Folgen seiner Texte drücken. Noch dazu in der Kirche. Er schützte sich durch Ignoranz vor der Verführung zur fundamentalen DDR-Opposition durch die eigene Arbeit. Dachte ich.

Und irrte. Er wußte nur einfach nicht richtig Bescheid, was da ablief. Ein schönes Beispiel, wie ich eine Geste des Nichterscheinens (letztlich die Summe mehrerer Zufälle) ideologisierte. Vielleicht hätte er es sogar für eine Provokation halten müssen, die die richtige Uraufführung zu verhindern helfen sollte. Seine politisch interessanteste Aufführung im Lande, mit der U-Bahn von Müllers letzter Wohnung rasch zu erreichen, erlebte der Dramatiker nicht. Auch Zufälle sind selten gänzlich grundlos. So blieb ihm auch an diesem Abend die Verführung erspart, die DDR anders sehen und bewerten zu müssen.