Waslala - jenseits der Utopie

Im Norden Nicaraguas ist der Krieg noch nicht zu Ende

Werner Mackenbach

Waslala - noch immer verbindet sich mit diesem Ort im nördlichen Bergland Nicaraguas für nicaraguanische Literaten die Hoffnung auf ein Weiterleben der revolutionären Utopie. Die Wirklichkeit in der Region sieht anders aus. Sieben Jahre nach der Verkündung des Friedens und nach der Unterzeichnung zahlreicher Papiere ist für die armen Bauern in Waslala und anderen Orten in den Bergen im Norden Nicaraguas der Krieg immer noch nicht zu Ende.

Vor ihr erstreckte sich ein liebliches, dichtbewachsenes Tal, aus dem sich hier und da grüne Hügel erhoben, so als sei der Erde hier einmal ein Schauer über den Rücken gelaufen." Mit diesen Worten beschreibt Gioconda Belli - ganz im Stile der deutschen Romantik à la Joseph Freiherr von Eichendorff - in ihrem jüngsten Roman Waslala die Szene, in der die Romanheldin Melisandra, das Alter ego der Autorin, den lange gesuchten Ort der Utopie im tropischen Urwald von Faguas (= Nicaragua) findet: "Zur linken Seite sah sie verblüfft die roten Dächer aus dem Blattwerk ragen, dahinter eine Reihe Windmühlen neben einem Bach, der derselbe sein mußte, an dem der Großvater sein Haus gebaut hatte. ... Einen Augenblick lang schloß sie die Augen, beugte den Kopf nieder. Dann atmete sie tief, wischte sich mit einer Hand die Stirn und setzte ihren Weg fort. Sie schätzte, daß es acht, neun Uhr morgens sein mußte, an diesem herrlich klaren Tag. Sie hatte ihr Ziel erreicht, dachte sie und fühlte sich endlich seltsam ruhig und friedlich." (411 f.)

Für viele ihrer europäischen und vor allem deutschen Leserinnen und Leser (wo die Übersetzung des Romans 1996 im Peter Hammer Verlag, Wuppertal - Monate vor der nicaraguanischen Originalausgabe - erschien), deren Zahl in die Hunderttausende geht, dürften sich mit diesem utopischen Ort Waslala weiterhin - wenn vielleicht auch nur insgeheim, im hintersten Herzenswinkel - die Hoffnungen auf eine Verbesserung der Welt ausgehend von diesem kleinen tropischen Flecken verbinden, wie wir sie (fast) alle zu Beginn der achtziger Jahre hegten und pflegten und wie sie die endlich wiedergefundene Mutter Melisandras am Ende des Romans zusammenfaßt: "In Waslala war man der Überzeugung, für eine Mission erwählt zu sein, die über das Eigene hinausging, eine Lebensweise auszuprobieren, die, wenn die anderen sie übernahmen, nicht nur das Antlitz von Faguas, sondern das der gesamten Erde ändern konnte" (423).

Selbst die in den achtziger Jahren so beliebte Rede vom revolutionären "Modell" hat Eingang in diesen Roman gefunden: "Waslala war nicht mehr nur das wackelige Experiment, das wir begonnen hatten", so fährt die Mutter fort. "Es war auch eine Legende, ein Anhaltspunkt, eine Hoffnung. Noch bevor sein Funktionieren sich bewies, hatte es sich schon in ein Modell verwandelt. Wie ein Traum vermochte es die Wünsche und Erwartungen derjenigen zu mobilisieren, die eine gemeinsame, bessere Zukunft wollten. Da verstanden wir, daß die Phantasie genauso viel wert war wie die Wirklichkeit" (425).

Für viele im fernen Europa mag auch dies heute noch Gültigkeit besitzen, trotz der gar so anderen Wirklichkeit, die allerdings von den internationalen Nachrichtenagenturen nur in kleinen Dosen über den großen Teich gereicht wird - immer und nur dann, wenn etwas Spektakuläres passiert. Für die Bewohner der Region Waslala, zum großen Teil arme und ärmste Bauern, allerdings dominiert diese andere Wirklichkeit ihr tägliches Leben derart, daß kaum Zeit für Phantasie bleibt. Ja, selbst für die Hoffnung scheint kein Platz zu sein.

Waslala, 236 Kilometer nordwestlich von Matagalpa gelegen, ist eine der Gemeinden mit der höchsten Gewalt- und Kriminalitätsrate im Norden des Landes. Pro Monat werden durchschnittlich vier Menschen ermordet, die Ziffer für Totschlag liegt noch höher. Ein Bündel von Ursachen ist dafür verantwortlich, daß sich diese Gewalt immer wieder reproduziert. Da ist vor allem das Gesetz des Stärkeren, das in einer Region uneingeschränkt herrscht, die eigentlich hervorragende Voraussetzungen für Landwirtschaft und Viehzucht bietet, jedoch von der Zentralregierung im Stich gelassen wurde. Die Armut zerstört jeden sozialen Zusammenhalt. Vor allem für die Zuwanderer aus noch ärmeren Regionen Nicaraguas, die hoffen, in der fruchtbaren Region um Waslala das Nötigste zum Überleben anbauen zu können, gilt, daß sie in den anderen ihre ausgemachten Feinde sehen. Bande der Solidarität über die engen Familienstrukturen hinaus können sich so nicht entwickeln. Wo jeder des anderen Feind ist, regiert die Angst.

Diese sitzt um so tiefer, als die Region von Banden mit Raub, Entführung, Überfällen und Erpressung überzogen wird: bevorzugte Methoden, sich das Überleben zu sichern - vor allem derjenigen, die in der bewegten jüngsten Geschichte Nicaraguas nichts anderes gelernt haben, als mit Waffen umzugehen. Hinzu kommt, daß die Gegend Opfer der politischen Polarisierung und bevorzugtes Aktionsfeld der rearmados ist, derjenigen bewaffneten Gruppen, die nach den Friedensvereinbarungen zu Beginn des Jahrzehnts die Waffen nicht niedergelegt oder wieder aufgenommen haben und immer noch vorgeben, für politische und soziale Ziele zu kämpfen. Sie kommen aus den Reihen der ehemals sandinistischen Armee EPS, den Truppen des damaligen Ministerio de Gobernación und vor allem der ehemaligen Contra. Aber auch die Armee nimmt bei der Verfolgung der wiederbewaffneten Gruppen Opfer unter den unbeteiligten armen Bauern offenbar in Kauf. In Waslala ist es in erster Linie der aus antisandinistischen Kräften gebildete Frente Norte 3-80, der die Bauern mit Schrecken und Furcht terrorisiert und in ganzen Gebieten das Gesetz in die Hand genommen hat, obwohl er sich vor einigen Wochen schließlich doch bereit erklärte, in einen Dialog mit der Regierung zu treten.

Erstes Überlebensprinzip für die campesinos ist in dieser Situation das Schweigen. "Hier gibt dir niemand Informationen, denn in diesem Gebiet ist das Leben nichts wert, für nichts und wieder nichts kannst du umgelegt werden", so zitiert die Tageszeitung La Tribuna (25. Mai 1997) Miguel Campos, Arzt im Hospital Juan Ventura in Waslala.

Das war zum Beispiel so bei der kürzlichen Entführung eines Angestellten der Europäischen Union. Der Chef des Entführerkommandos, Omar Cabrera Martínez, kommt aus Waslala, wo ihn alle kennen. Aber keiner, den man fragte, wußte etwas von ihm, und alle stritten ab, ihn überhaupt zu kennen. Die Angst vor Repressalien schließt die Münder.

Auch bei unpolitischen Auseinandersetzungen funktioniert dieser Mechanismus. Der Arzt erzählt, daß vor ein paar Wochen ein Bauer seine Frau mit einem Revolver verletzte und sie am Wegrand liegen ließ, wo sie sicher gestorben wäre. Ein Neffe der Verwundeten fand die Frau und brachte sie ins Krankenhaus. Als der Täter das herausbekam, streckte er zwei Tage später den Neffen der Frau mit zwei Revolverschüssen nieder.

Ein anderes Beispiel für die anhaltende Gewalt in dieser Region Nicaraguas ist Río Blanco, eine Gemeinde im Departement Matagalpa. Río Blanco liegt 215 Kilometer von der Hauptstadt Managua entfernt. Was ursprünglich als eine der bedeutendsten Zonen der Viehzucht und des Ackerbaus in Nicaragua galt, hatte in den achtziger Jahren unter den unmittelbaren Auswirkungen des Krieges zu leiden. Konsequenz war ein drastischer Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion.

Immer noch existieren in der Region bewaffnete Banden, die massiven Druck auf die Bauern ausüben. Die Bauern sind schlecht auf die Zentralregierung in Managua zu sprechen, weil sie in den Verhandlungen mit den bewaffneten Banden immer wieder neue Fristen zur Niederlegung der Waffen einräumt.

Hinzu kommt, daß das Gebiet zum einem bevorzugten Ziel derjenigen geworden ist, die mit der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen schnelles Geld machen wollen. Es wird geschätzt, daß täglich fünfzehn Lastwagen mit Edelhölzern das Gebiet verlassen, ohne daß jemand die Abholzung kontrolliert, geschweige denn eindämmt. Die Regierung hat jedenfalls bisher nichts gegen diesen Raubbau unternommen, und viele Bauern vermuten, daß Regierungsfunktionäre mit den Rodungsunternehmen unter einer Decke stecken und Schmiergelder kassieren.

Viele der Bauern in Río Blanco sind darüber hinaus heute davon bedroht, daß ihnen ihr kleines Stückchen Land weggenommen wird. Die Banken, bei denen diese Bauern verschuldet sind (Kredite für die Aussaat, die sie meist nicht zurückzahlen können), haben Zwangsräumungen angekündigt, trotz des im April von der Nationalversammlung verabschiedeten Gesetzes, das für die Dauer von drei Monaten jede Landvertreibung verbot. Für viele der armen Bauern würde dies endgültig bedeuten, eine Hungerexistenz zu führen.

"Es ist jetzt alles fröhlich in Waslala.
Waslala, was für ein schöner Name
(Früher flößte allein dieser Name Furcht ein.)
(...)
Fröhlich ist Waslala jetzt, die
Hauptstadt des Schreckens und des Todes für die Campesinos
hier im Norden.
Es war der Hauptstützpunkt des Anti-Aufstandsplanes,
der Vernichtungsstrategie gegen die Guerilla.
Das schlimmste aller ,strategischen Dörfer` zur Unterdrückung
auf dem Land.
(...)
Fünf Jahre währte diese Nacht.
Und wie schön ist jetzt der Morgen in den Bergen,
in den Bergen, wo mit den Affen soviel Guerilleros hausten.
Vor der Kaserne laufen Kinder wie die Kolibris.
Vor dem Kindergarten schwatzen Frauen wie Tukane.
Die schwarzroten Fahnen sehen aus wie Vögel.
Wie schön das Grün der Felder und das Grün der Freunde der Armee.
Wie fröhlich fließt der Fluß jetzt durch Waslala.
Der Tag kam plötzlich.
Die Kaffeeernte, sie wird gut in diesem Jahr.
Wie fröhlich ist Waslala jetzt."

So schreibt Ernesto Cardenal 1989 in seinem Cántico Cósmico, der inzwischen als Hauptwerk des nicaraguanischen Poeten gilt (dt. Gesänge des Universums, Wuppertal 1995, 163 f.). Ähnlich wie in Gioconda Bellis Roman hat Cardenals Idylle von "Waslala" wenig zu tun mit den handfesten Problemen des revolutionären Prozesses, das heißt der gescheiterten Einbeziehung der Mískito-Bauern in die Revolution. Aber immerhin muß Ernesto Cardenal zugute gehalten werden, daß sein Buch 1989 erschien und sich auf die Erfahrungen unmittelbar nach dem Sieg der Revolution bezieht, die damaligen Hoffnungen zumindest eines Großteils der Bevölkerung ausdrückt, auch wenn diese kaum berechtigt gewesen sein mögen und wenn Cardenal kaum die Situation der Mískito- und anderer Bauern in der Region Waslala zum Ausdruck bringt.

Noch sieben Jahre später - und was für Jahre! - ist das Ideal für Gioconda Belli ungebrochen, lebt die Utopie, als sei nichts geschehen, als seien die armen Bauern nicht scharenweise in die Reihen der Contra gelaufen: "Und die, die auf mich warten? Was soll ich denen sagen, die draußen auf mich warten?" fragt Melisandra am Ende des Romans Waslala. Die Mutter antwortet: "Daß es Waslala wirklich gibt. Daß das Ideal Wirklichkeit ist. Daß es ihre Träume gewesen sind, die Waslala haben wahr werden lassen, ihre Sehnsucht hält es am Leben, jetzt und auf ewig" (430). Und, so läßt Gioconda Belli die Mutter sagen, in einer der Versammlungen in Waslala sei vorgeschlagen worden, man solle die Phantasien über Waslala nähren. Das sei vielleicht ihre Mission, nämlich den Traum lebendig zu halten: "Die Idee packte uns alle. Wir nahmen uns vor, die Illusion eines Ortes zu schaffen, dessen Schönheit, Harmonie und Perfektion unauslöschlich im Gedächtnis derjenigen haften bliebe, die sich durch die Launen und Risse der Zeit im Korridor der Winde hierher nach Waslala verirrten" (425).

Ende Mai 1997 unterzeichneten Vertreter der aus der ehemaligen Contra hervorgegangenen bewaffneten Gruppe Frente Norte 3-80 in Anwesenheit des Präsidenten Arnoldo Alemán einen Friedensvertrag mit der Regierung. Er sichert den Mitgliedern der FN 3-80, die die Waffen niederlegen und sich wieder ins zivile Leben eingliedern, u.a. Kredite zur Finanzierung von Landwirtschaftsprojekten, eine Revision der Eigentumstitel, medizinische Versorgung und die Übergabe von Land zu. Der Vertrag sieht die Einrichtung von Sicherheitszonen unter anderem in Río Blanco und Waslala vor. Außerdem hat Präsident Alemán sich bereit erklärt, eine Gesetzesinitiative zur teilweisen und selektiven Amnestie für von den bewaffneten Gruppen begangene Verbrechen ins Parlament einzubringen. Der FN 3-80 wurden großzügige Fristen für die Waffenübergabe eingeräumt, die es ihnen erlauben, mit Gewalt weitere Tatsachen zu schaffen. Und schon jetzt zeichnet sich ab, so stimmen Vertreter der Armee und der Kirche überein, daß weiterhin zahlreiche bewaffnete Gruppen in diesen Gebieten aktiv bleiben, die zum Teil direkt von der FN 3-80 abstammen, sich aber nicht an der Friedensinitiative beteiligen. Der Weg zum Frieden ist also immer noch lang, wie der Bischof der nordnicaraguanischen Stadt Estelí, Abelardo Mata, nach der Unterzeichnung des Vertrages kommentierte.

Zwar wurden seit dem Regierungswechsel 1990 zahlreiche Papiere unterschrieben, die den Frieden bringen sollten. Doch in Waslala und anderen Orten sitzt die Angst tief, und das Leben ist wohlfeil. Streitereien, Racheakte, Gewaltanwendung und Armut sind die unmittellbare Erbschaft jener Jahre und tragen zur Fortdauer des Konflikts bei. Der Krieg ist noch nicht zu Ende - jedenfalls nicht in Waslala.

"Was du gesehen hast, ist nur ein Schatten dessen, was Waslala einmal war", heißt es bei Gioconda Belli (427). Und das reale Waslala heute: ein Schatten des Schattens dessen, was es in der Vorstellung Melisandras/Gioconda Bellis sein sollte.