Raymond Federman ist einer der bekanntesten Vertreter der literarischen Postmoderne. Etwa die Hälfte seines umfangreichen, schon über 20-bändigen Werks wurde bisher ins Deutsche übertragen. Neben Suhrkamp, in dessen Programm sich mittlerweile vier Titel tummeln, hat sich vor allem der selige Greno Verlag um Federman verdient gemacht und 1986 begonnen, mit seinem experimentellen Debütroman Double or Nothing (dt. Alles oder Nichts) von 1971, ihn dem deutschen Publikum näherzubringen. Und nun also Peter Torbergs zupackende Erstübersetzung von Take It Or Leave It (1976), ein - nicht zuletzt typographisch - durch und durch geglückter Versuch.
Federman ist Avantgardist. Als solcher erzählt er selbstredend nicht einfach eine Geschichte, sondern schreibt darüber, wie einer von einem erzählt, der eine Geschichte erzählt. Dabei zerstört er spielerisch und mit viel Witz so ziemlich alles, was der traditionellen Romankunst teuer ist: die Kontinuität der Handlung, die immer wieder von Digressionen unterbrochen wird und sich erst nach vielen Mäandern rundet (was man so runden nennt!); die Instanz des Erzählers, der sich in verschiedene miteinander konkurrierende Rhapsoden aufspaltet; die Typographie, die nachgerade Amok läuft, sich mitunter zur konkreten Poesie auswächst; die Interpunktion, die häufig gar nicht vorhanden ist; und schließlich das Erzählen selber, das er seitenlang zugunsten essayistischer Einschübe drangibt, in denen er seine poetologischen Vorstellungen umkreist, immer wieder ergänzt und neu formuliert.
"Surfiction" nennt Federman dieses
einerseits improvisatorische, bisweilen an die Écriture
automatique der Surrealisten gemahnende, anderseits aber wohlkalkulierte
und hochartifizielle Schreiben. "Surfiction", das ist
die Aufhebung der Realität im Unsinn, die wilde Jonglerie
mit einer Wirklichkeit, die zu schrecklich ist, als daß
der Autor sie einfach so beschreiben könnte. Nur im absurden
artifiziellen Spiel, in der ästhetischen Verfremdung kann
er sich ihr zumindest nähern.
Wer schon mal einen der Romane Federmans gelesen hat, weiß um den existentiellen Bodensatz dieser Poetik. Er ist Jude und hat den Holocaust überlebt. Sein Vater, ein Pariser Kommunist, seine Mutter und beide Schwestern - alle werden von den deutschen Okkupatoren und deren französischen Helfershelfern festgenommen, nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet, nur er kann auf einem Bauernhof untertauchen und wandert 1947 in die USA aus. Dieses biographisches Schicksal teilen viele seiner Protagonisten mit dem Autor - auch der pikareske Held aus Take It Or Leave It, Simon, das erlebende Ich, das nur an einer Stelle des Romans beim Namen genannt wird. Aber diese Vorgeschichte bleibt doch immer ein Schemen, eine Art Schattenriß. Weder Simon noch der eigens dafür eingesetzte "Erzähler zweiter Hand" bringt das Geschehene wirklich zur Sprache:
"Ich werde euch nicht mit all den traurigen Geschichten die er mir erzählt hat zu Tränen rühren /o-o/ aber wenn ich euch all den Scheiß erzählen wollte den er mir erzählt hat (die Züge die Lager) wenn ich in allen Einzelheiten und ganz realistisch all das Elend und Leid beschreiben wollte das er erlitten hat (die Lampenschirme die Bauernhöfe die Nudeln) dann würden wir hier nie wegkommen /o-o/ ach ja seine ganze Familie die zu Lampenschirmen verarbeitet wurde (Vater Mutter Schwestern ach ja Onkel Tanten Cousins und Cousinen) ihr würdet es mir nicht glauben (ausgelöscht)!"
Der Erzähler fällt ins Stottern. An anderer Stelle des Buches verschlägt es ihm ganz die Sprache, und nurmehr Chiffren (ein Pentagramm, ein Kreuz und ein Hakenkreuz) stehen dann in vollkommener Abstraktheit für das geschehene Grauen. Der Holocaust ist die große Leerstelle, aber auch das Gravitationszentrum des Romans. Ein schwarzes Loch, über das Federman schreiben muß, aber nicht schreiben kann, und das nur mittelbar Gestalt annimmt, nämlich durch den Erzählstoff, den es an sich reißt und um sich herum anordnet. Solcherart Post-Holocaust-Literatur schließt Komik keineswegs aus, im Gegenteil, das Lachen "hilft einem dabei weiterzumachen zwingt einen ein wenig zu vergessen das ist die einzige Möglichkeit weiterzumachen erfinde dich unter irrem Gekicher neu lach dein Leben in die Worte hinaus nenn es fourire: Lachteratur!"
Entsprechend bemüht sich Federman in seiner
postmodernen Adaption des Schelmenromans, sich und seinen Lesern
das Lachen nicht vergehen zu lassen. Und das gelingt ihm - trotz
seiner formalen Mätzchen und narrativen Avanciertheit und
dem mitunter auch schon mal ermüdenden Theorieballast - durchaus.
Nicht zuletzt deshalb, weil er sich immer wieder in ironisch verfremdender
Weise populäre Genres anverwandelt: eben den Schelmenroman
oder dessen moderne cineastische Transformation, das Road-Movie,
aber auch die Kolportageliteratur, den Landser-Roman und den gut
gepfefferten Porno-Schinken.
Der französische Emigrant Simon faßt so recht nicht Fuß in der neuen Welt. Nur mit den Frauen und dem Jazz kann er sich sogleich anfreunden. Er hält sich notdürftig durch Gelegenheitsjobs über Wasser, die aber in Zeiten der wirtschaftlichen Rezession auch immer dünner gesät sind. So meldet er sich, um nicht zu verhungern, zur Army und landet zufällig bei den Fallschirmjägern, dem notorisch dümmsten Haufen in allen Armeen dieser Welt, wo er als literarisch gebildeter "Frenchy" mit grausigem Akzent sogleich die Rolle des Divisionsclowns spielen muß. Aber seine imbezilen Kameraden erkennen immerhin sein schriftstellerisches Talent. Und so erschreibt er sich bald eine gewisse Machtposition, indem er deren Notgeilheit in Worte kleidet und Liebesbriefe an die daheim wartenden Bräute formuliert. Federman läßt sich denn auch den Spaß nicht entgehen, einen dieser Briefe (mit der Antwort der besungenen Provinzperle) vorzulegen. Das sind schöne Proben seines parodistischen Talents:
"Ach! Wenn Du nur wüßtest, mein Goldschatz, wie sehr ich Dich letzte Nacht vermißte, als ich allein, nackt und zitternd unter meiner Militärdecke lag, im einsamsten Augenblick der Nacht North Carolinas die Augen schloß und das Bild Deines süßen und weichen Körpers sah, wie er sich auf meiner Pritsche an mich schmiegte. Oh! Liebes Federhühnchen, bewundernswerter kernloser Pfirsich aus festem Fleisch, glatter und rosiger Körper mit solch lieblichen runden Konturen, samtig wie ein Champignon ohne Stiel, kleine Zuckerschnecke, Landschaft meiner geheimen Träume, wenn ich Dich nur spüren lassen könnte, ja, wie sehr ich mich verzehrte (letzte Nacht, aber auch jede andere Nacht), in Dich zu dringen ... In meinen Träumen sehe ich Deine lüsternen gierigen Hüften und Deine gerade erst gereiften, abenteuerlustigen Schenkel, begierig gespreizt, um dort in Deinen feuchten bepelzten Auen die Ernte meiner nächtlichen Aussaat zu empfangen."
Trotz dieser ehrenvollen und noch dazu lukrativen
Ausgleichsbeschäftigung wird Simon seines Lebens in der 82.
Luftlandedivision nicht recht froh. Er meldet sich freiwillig
zum Einsatz in den Korea-Krieg, wird einberufen und bekommt vorher
noch einen vierwöchigen Sonderurlaub, in dem er nun endlich
Amerika, diese "dicke fette Hure", penetrieren will.
Dummerweise passiert ein typischer Armee-Irrtum, seine Einheit
nimmt den Auszahlungsbescheid für den ebenso nötigen
wie fälligen Vorschuß mit nach Camp Drum an die kanadische
Grenze, wo sie das Springen bei Schnee trainieren soll. Ohne den
Bescheid geht nichts. Simon fährt also hinterher, um sich
dort besolden zu lassen. Zunächst nach New York, wo er ein
letztes Mal mit seiner verheirateten Geliebten Marilyn und deren
mißtrauischem Ehemann zusammentrifft, der dann auch das
geplante Schäferstündchen zu verhindern weiß,
und dann weiter in den Norden. Er erlebt doch noch einige amouröse
Abenteuer, fährt seinen guten alten Buick zu Schrott und
kommt schließlich abgerissen und zerschunden bei seiner
Kompanie an. Hier hat man den Irrtum natürlich längst
bemerkt und den Auszahlungsbescheid zurück nach North Carolina
geschickt. Wieder keine Besoldung. Weil "Frenchy" nun
aber gerade mal da ist, soll er auch mitspringen. Er bekommt trotz
seines Urlaubs den Befehl, springt tatsächlich und bricht
sich alle Knochen. Mit Simons unsanfter Landung landet auch die
Geschichte wieder an ihrem Ausgangspunkt: Das Selbstmordkommando
in Korea, die vorherige Erkundung von Big Mama Amerika - alle
seine Zukunftspläne sind vereitelt. Man wird ihn nach North
Carolina zurückbringen, zur verhaßten 82ten.
Auch diese Zirkelstruktur ist in gewisser Weise existentiell verantwortet. Eingangs heißt es: "Ich möchte ein Buch schreiben wie eine Wolke, die sich verändert, während sie weiterzieht, sagte er." Das "er" ist Federmans Schriftstellerkollege Ronald Sukenick, und dieses Diktum seinem Roman "Out" entnommen. Und Federman entgegnet: "Ich möchte eine Geschichte schreiben, die sich selbst auslöscht, während sie weitergeht." Denn erst indem die Geschichte sich selbst auslöscht, wird sie wirklich unauslöschlich.
Federman versucht dieses Paradox gegen Ende
des Romans aufzulösen: "sollte der Sprecher jemals vollkommen
deckungsgleich mit dem Gesprochenen sein der Wortmacher ... mit
den Wörtern, das Schreiben mit dem Geschriebenen", dann
wäre "das Ergebnis der TOD"; "also bleibt
als einzige mögliche Strategie, als BESTE MÖGLICHKEIT,
alles spontan augenblicklich umgehend auszulöschen, um so
einer finalen Auslöschung vorzubeugen". Mit anderen
Worten, nur wenn das Kunstwerk nicht im Leben des Autors aufgeht,
wenn es sich vielmehr auf artifizielle Weise von dessen Biographie
löst, wenn es sein biologisches Substrat aufhebt, sich mithin
zum reinen Geist- und Kunstprodukt sublimiert, nur dann erhebt
es sich über das skandalöse Schicksal des Menschen,
dereinst Freund Hein mit der Hippe ins knöcherne Antlitz
blicken zu müssen. Das reine Kunstwerk, in dem der Autor
jegliches Leben artistisch transformiert hat, zeugt zwar immer
noch von der Geschichte, emanzipiert sich aber gleichzeitig von
ihr. Dahinter steht bei Federman der Wunsch, die im Kunstwerk
aufgehobene Erinnerung an den Holocaust niemals vergehen zu lassen.
Und wie läßt man nun am evidentesten das Kunstwerk
dergestalt aus der Zeit fallen? Indem man die lineare Struktur
aufbricht, vor- und zurückspringt, abschweift, vor allem
aber indem man das Ende wieder in den Anfang münden läßt,
ein Ende auf diese Weise negiert. Die Virtuosität, mit der
Federman - hier und auch in anderen Büchern - dieser Zirkelschlag
gelingt, hat ihn mit Recht zu einem der bekanntesten Vertreter
der literarischen Postmoderne werden lassen...
Raymond Federman, Take It Or Leave It. Eine übertriebene Geschichte aus zweiter Hand im Stehen oder im Sitzen laut zu lesen. Aus dem Amerikanischen von Peter Torberg, Hamburg (Rogner & Bernhard/Zweitausendeins) 1998 (448 S., unpaginiert, 29,00 DM)