Der Schrecken als Leerstelle

Raymond Federman und sein Post-Holocaust-Roman "Take it or leave it

Frank Schäfer

Raymond Federman ist einer der bekanntesten Vertreter der literarischen Postmoderne. Etwa die Hälfte seines umfangreichen, schon über 20-bändigen Werks wurde bisher ins Deutsche übertragen. Neben Suhrkamp, in dessen Programm sich mittlerweile vier Titel tummeln, hat sich vor allem der selige Greno Verlag um Federman verdient gemacht und 1986 begonnen, mit seinem experimentellen Debütroman Double or Nothing (dt. Alles oder Nichts) von 1971, ihn dem deutschen Publikum näherzubringen. Und nun also Peter Torbergs zupackende Erstübersetzung von Take It Or Leave It (1976), ein - nicht zuletzt typographisch - durch und durch geglückter Versuch.

Federman ist Avantgardist. Als solcher erzählt er selbstredend nicht einfach eine Geschichte, sondern schreibt darüber, wie einer von einem erzählt, der eine Geschichte erzählt. Dabei zerstört er spielerisch und mit viel Witz so ziemlich alles, was der traditionellen Romankunst teuer ist: die Kontinuität der Handlung, die immer wieder von Digressionen unterbrochen wird und sich erst nach vielen Mäandern rundet (was man so runden nennt!); die Instanz des Erzählers, der sich in verschiedene miteinander konkurrierende Rhapsoden aufspaltet; die Typographie, die nachgerade Amok läuft, sich mitunter zur konkreten Poesie auswächst; die Interpunktion, die häufig gar nicht vorhanden ist; und schließlich das Erzählen selber, das er seitenlang zugunsten essayistischer Einschübe drangibt, in denen er seine poetologischen Vorstellungen umkreist, immer wieder ergänzt und neu formuliert.

"Surfiction" nennt Federman dieses einerseits improvisatorische, bisweilen an die Écriture automatique der Surrealisten gemahnende, anderseits aber wohlkalkulierte und hochartifizielle Schreiben. "Surfiction", das ist die Aufhebung der Realität im Unsinn, die wilde Jonglerie mit einer Wirklichkeit, die zu schrecklich ist, als daß der Autor sie einfach so beschreiben könnte. Nur im absurden artifiziellen Spiel, in der ästhetischen Verfremdung kann er sich ihr zumindest nähern.

Wer schon mal einen der Romane Federmans gelesen hat, weiß um den existentiellen Bodensatz dieser Poetik. Er ist Jude und hat den Holocaust überlebt. Sein Vater, ein Pariser Kommunist, seine Mutter und beide Schwestern - alle werden von den deutschen Okkupatoren und deren französischen Helfershelfern festgenommen, nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet, nur er kann auf einem Bauernhof untertauchen und wandert 1947 in die USA aus. Dieses biographisches Schicksal teilen viele seiner Protagonisten mit dem Autor - auch der pikareske Held aus Take It Or Leave It, Simon, das erlebende Ich, das nur an einer Stelle des Romans beim Namen genannt wird. Aber diese Vorgeschichte bleibt doch immer ein Schemen, eine Art Schattenriß. Weder Simon noch der eigens dafür eingesetzte "Erzähler zweiter Hand" bringt das Geschehene wirklich zur Sprache:

"Ich werde euch nicht mit all den traurigen Geschichten die er mir erzählt hat zu Tränen rühren /o-o/ aber wenn ich euch all den Scheiß erzählen wollte den er mir erzählt hat (die Züge die Lager) wenn ich in allen Einzelheiten und ganz realistisch all das Elend und Leid beschreiben wollte das er erlitten hat (die Lampenschirme die Bauernhöfe die Nudeln) dann würden wir hier nie wegkommen /o-o/ ach ja seine ganze Familie die zu Lampenschirmen verarbeitet wurde (Vater Mutter Schwestern ach ja Onkel Tanten Cousins und Cousinen) ihr würdet es mir nicht glauben (ausgelöscht)!"

Der Erzähler fällt ins Stottern. An anderer Stelle des Buches verschlägt es ihm ganz die Sprache, und nurmehr Chiffren (ein Pentagramm, ein Kreuz und ein Hakenkreuz) stehen dann in vollkommener Abstraktheit für das geschehene Grauen. Der Holocaust ist die große Leerstelle, aber auch das Gravitationszentrum des Romans. Ein schwarzes Loch, über das Federman schreiben muß, aber nicht schreiben kann, und das nur mittelbar Gestalt annimmt, nämlich durch den Erzählstoff, den es an sich reißt und um sich herum anordnet. Solcherart Post-Holocaust-Literatur schließt Komik keineswegs aus, im Gegenteil, das Lachen "hilft einem dabei weiterzumachen zwingt einen ein wenig zu vergessen das ist die einzige Möglichkeit weiterzumachen erfinde dich unter irrem Gekicher neu lach dein Leben in die Worte hinaus nenn es fourire: Lachteratur!"

Entsprechend bemüht sich Federman in seiner postmodernen Adaption des Schelmenromans, sich und seinen Lesern das Lachen nicht vergehen zu lassen. Und das gelingt ihm - trotz seiner formalen Mätzchen und narrativen Avanciertheit und dem mitunter auch schon mal ermüdenden Theorieballast - durchaus. Nicht zuletzt deshalb, weil er sich immer wieder in ironisch verfremdender Weise populäre Genres anverwandelt: eben den Schelmenroman oder dessen moderne cineastische Transformation, das Road-Movie, aber auch die Kolportageliteratur, den Landser-Roman und den gut gepfefferten Porno-Schinken.

Der französische Emigrant Simon faßt so recht nicht Fuß in der neuen Welt. Nur mit den Frauen und dem Jazz kann er sich sogleich anfreunden. Er hält sich notdürftig durch Gelegenheitsjobs über Wasser, die aber in Zeiten der wirtschaftlichen Rezession auch immer dünner gesät sind. So meldet er sich, um nicht zu verhungern, zur Army und landet zufällig bei den Fallschirmjägern, dem notorisch dümmsten Haufen in allen Armeen dieser Welt, wo er als literarisch gebildeter "Frenchy" mit grausigem Akzent sogleich die Rolle des Divisionsclowns spielen muß. Aber seine imbezilen Kameraden erkennen immerhin sein schriftstellerisches Talent. Und so erschreibt er sich bald eine gewisse Machtposition, indem er deren Notgeilheit in Worte kleidet und Liebesbriefe an die daheim wartenden Bräute formuliert. Federman läßt sich denn auch den Spaß nicht entgehen, einen dieser Briefe (mit der Antwort der besungenen Provinzperle) vorzulegen. Das sind schöne Proben seines parodistischen Talents:

"Ach! Wenn Du nur wüßtest, mein Goldschatz, wie sehr ich Dich letzte Nacht vermißte, als ich allein, nackt und zitternd unter meiner Militärdecke lag, im einsamsten Augenblick der Nacht North Carolinas die Augen schloß und das Bild Deines süßen und weichen Körpers sah, wie er sich auf meiner Pritsche an mich schmiegte. Oh! Liebes Federhühnchen, bewundernswerter kernloser Pfirsich aus festem Fleisch, glatter und rosiger Körper mit solch lieblichen runden Konturen, samtig wie ein Champignon ohne Stiel, kleine Zuckerschnecke, Landschaft meiner geheimen Träume, wenn ich Dich nur spüren lassen könnte, ja, wie sehr ich mich verzehrte (letzte Nacht, aber auch jede andere Nacht), in Dich zu dringen ... In meinen Träumen sehe ich Deine lüsternen gierigen Hüften und Deine gerade erst gereiften, abenteuerlustigen Schenkel, begierig gespreizt, um dort in Deinen feuchten bepelzten Auen die Ernte meiner nächtlichen Aussaat zu empfangen."

Trotz dieser ehrenvollen und noch dazu lukrativen Ausgleichsbeschäftigung wird Simon seines Lebens in der 82. Luftlandedivision nicht recht froh. Er meldet sich freiwillig zum Einsatz in den Korea-Krieg, wird einberufen und bekommt vorher noch einen vierwöchigen Sonderurlaub, in dem er nun endlich Amerika, diese "dicke fette Hure", penetrieren will. Dummerweise passiert ein typischer Armee-Irrtum, seine Einheit nimmt den Auszahlungsbescheid für den ebenso nötigen wie fälligen Vorschuß mit nach Camp Drum an die kanadische Grenze, wo sie das Springen bei Schnee trainieren soll. Ohne den Bescheid geht nichts. Simon fährt also hinterher, um sich dort besolden zu lassen. Zunächst nach New York, wo er ein letztes Mal mit seiner verheirateten Geliebten Marilyn und deren mißtrauischem Ehemann zusammentrifft, der dann auch das geplante Schäferstündchen zu verhindern weiß, und dann weiter in den Norden. Er erlebt doch noch einige amouröse Abenteuer, fährt seinen guten alten Buick zu Schrott und kommt schließlich abgerissen und zerschunden bei seiner Kompanie an. Hier hat man den Irrtum natürlich längst bemerkt und den Auszahlungsbescheid zurück nach North Carolina geschickt. Wieder keine Besoldung. Weil "Frenchy" nun aber gerade mal da ist, soll er auch mitspringen. Er bekommt trotz seines Urlaubs den Befehl, springt tatsächlich und bricht sich alle Knochen. Mit Simons unsanfter Landung landet auch die Geschichte wieder an ihrem Ausgangspunkt: Das Selbstmordkommando in Korea, die vorherige Erkundung von Big Mama Amerika - alle seine Zukunftspläne sind vereitelt. Man wird ihn nach North Carolina zurückbringen, zur verhaßten 82ten.

Auch diese Zirkelstruktur ist in gewisser Weise existentiell verantwortet. Eingangs heißt es: "Ich möchte ein Buch schreiben wie eine Wolke, die sich verändert, während sie weiterzieht, sagte er." Das "er" ist Federmans Schriftstellerkollege Ronald Sukenick, und dieses Diktum seinem Roman "Out" entnommen. Und Federman entgegnet: "Ich möchte eine Geschichte schreiben, die sich selbst auslöscht, während sie weitergeht." Denn erst indem die Geschichte sich selbst auslöscht, wird sie wirklich unauslöschlich.

Federman versucht dieses Paradox gegen Ende des Romans aufzulösen: "sollte der Sprecher jemals vollkommen deckungsgleich mit dem Gesprochenen sein der Wortmacher ... mit den Wörtern, das Schreiben mit dem Geschriebenen", dann wäre "das Ergebnis der TOD"; "also bleibt als einzige mögliche Strategie, als BESTE MÖGLICHKEIT, alles spontan augenblicklich umgehend auszulöschen, um so einer finalen Auslöschung vorzubeugen". Mit anderen Worten, nur wenn das Kunstwerk nicht im Leben des Autors aufgeht, wenn es sich vielmehr auf artifizielle Weise von dessen Biographie löst, wenn es sein biologisches Substrat aufhebt, sich mithin zum reinen Geist- und Kunstprodukt sublimiert, nur dann erhebt es sich über das skandalöse Schicksal des Menschen, dereinst Freund Hein mit der Hippe ins knöcherne Antlitz blicken zu müssen. Das reine Kunstwerk, in dem der Autor jegliches Leben artistisch transformiert hat, zeugt zwar immer noch von der Geschichte, emanzipiert sich aber gleichzeitig von ihr. Dahinter steht bei Federman der Wunsch, die im Kunstwerk aufgehobene Erinnerung an den Holocaust niemals vergehen zu lassen. Und wie läßt man nun am evidentesten das Kunstwerk dergestalt aus der Zeit fallen? Indem man die lineare Struktur aufbricht, vor- und zurückspringt, abschweift, vor allem aber indem man das Ende wieder in den Anfang münden läßt, ein Ende auf diese Weise negiert. Die Virtuosität, mit der Federman - hier und auch in anderen Büchern - dieser Zirkelschlag gelingt, hat ihn mit Recht zu einem der bekanntesten Vertreter der literarischen Postmoderne werden lassen...

Raymond Federman, Take It Or Leave It. Eine übertriebene Geschichte aus zweiter Hand im Stehen oder im Sitzen laut zu lesen. Aus dem Amerikanischen von Peter Torberg, Hamburg (Rogner & Bernhard/Zweitausendeins) 1998 (448 S., unpaginiert, 29,00 DM)