Petting statt Pershing

Versuch einer Rekonstruktion der Apokalyptischen Achtziger anhand zweier Thesen und vielerlei Beispielen

Gerald Fricke

Wie wir heute wissen, erreichte die Alt-BRD in den späten achtziger Jahren (1987/89) ihren soziokulturellen und gesinnungsethischen Höhepunkt. Das westliche Deutschland hatte sich in der Sonnen-Nische des Ost-West-Gegensatzes, wie es schien für immer, behaglich eingerichtet - auch wenn die Wiedervereinigung alljährlich zum 17. Juni oder hier und da auf CDU-Parteitagen rituell eingefordert wurde - und seine Gutartigkeit, seine "Zivilgesellschaft", seine "politische Kultur", seinen Gewaltverzicht und seine Einser-Demokratie beständig vorangetrieben. Denn die Saat von 68 war aufgegangen, die Toskana in den Köpfen hatte mittlerweile auch schon viele gutgefönte CDUler erreicht. Paradigmatisch für die aufgeklärte Sicht auf die Bundesrepublik in den Grenzen von 1985-1989 steht die Lindenstraße. Diese erfreute den Punk ebenso wie den Sozialkundelehrer. Den gesamtgesellschaftlichen Kitt lieferten darüber hinaus der "Teamchef", vulgo: "Suppenkasper" (Uli Stein), Bum-Bum-Boris, die D-Mark, Wetten daß...? - unvergessen etwa der vermeintliche "Bunstiftlutscher" oder die Sendung mit Johannes Rau, Gina Lollobrigida, Markus "Standheizung" Wasmeier sowie Gloria von Thurn, Taxis und High Hair (alle fünf Minuten nachsprühen!) - und der "Verfassungspatriotismus"; dieser galt quasi amtlich, auch wenn seit einiger Zeit zum Fernseh-Sendeschluß die Nationalhymne erklang. Die neu-alt-rechten Nazi-Relativierungsthesen Ernst Noltes wurden im "Hysterikerstreit" von Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Habermas und anderen gekonnt retourniert; Bundesarbeitsminister Blüm setzte sich publikumswirksam für chilenische Folteropfer ein; Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte, nicht zu vergessen, bereits 1985 in der Interpretation des 8. Mai 1945 - Befreiung, nicht Niederlage - gegen Alfred Dregger gesiegt; die Reps waren bis dato nur in Bayern leidlich erfolgreich, auch FJS, apropos, war mittlerweile gestorben. Die "politische Kultur", die Polit-Hygiene funktionierte tadellos, das hatte nicht zuletzt das beherzte Absägen des unglückseligen Herrn Jenninger beweisen - nur kurz zur Erinnerung: Eine, mehr oder weniger mit falschem Zungenschlag vorgetragene, den Gebrauch der indirekten Rede verschmähende und vielleicht eine Idee zu schwärmerisch extemporierte Ansprache vor dem Bundestag wächst sich zum wohlfeilen Skandalon aus, den von rechts bis links aber auch alle dazu nutzen können, sich als gute Menschen, geläutert-gute Demokraten und grundgute Deutsche zu gerieren. Der erfolgreichste sozialdemokratische Romancier aller Zeiten, Johannes Mario Simmel, beispielsweise bekannte öffentlich, er habe vor Gram eine geschlagene Nacht lang nicht schlafen können. Auch "Pfeife" Engholm, das sensible Opfer Barschelscher Tricksereien, triumphierte über das Böse in der Badewanne (und sollte erst in den Neunzigern sein "Björnout" erleben), der nachdenkliche Volker Hauff und Rot-Grün siegten in der Bankenmetropole Frankfurt gegen den Finstermann Wallmann, und gar nicht mal schlecht stand es schließlich und endlich um die Forderung der Titanic von 1988: "Freiheit für Rudi Dutschke. 20 Jahre Haft sind genug." Vergleichen Sie das mal mit heute! Nie - abgesehen von 1972, der großen Zeit von Friedensnobelkanzler Brandt, Günther Netzer und Friedensnobelliterat Böll - war die alte Bundesrepublik insgesamt progressiver als 1987/89. Das ist These Nummer eins.

Natürlich, es gab Kohl. Ahaber: Bundeskanzler Kohl stand unter massivem Druck der eigenen "politischen Freunde", vermeintlicher Geißlerscher Renegaten und Späthscher Amateurputschisten; außerdem war ja sowieso klar, daß Oskar Lafontaine der nächste Bundeskanzler sein würde. Recht eigentlich stand sogar die Rettung der "Umwelt", nicht zuletzt dank Tschernobyl, ganz oben auf der politischen Prioritätenliste - bis heute nicht wieder erreicht -; das konnten wir uns auch leisten, denn seit der "Wende" brummte wieder die Wirtschaft und der Mittelstand; die Finanzen waren fest im Griff des klaren Norddeutschen mit der korrekten Frisur, die Inflation, das größte deutsche Kleinbürgertrauma überhaupt, schien besiegt, mitunter gab es gar "negative" Inflationsraten; ja gut, Massenarbeitslosigkeit, schlimmschlimm, aber über zwei Millionen neue Stellen waren schon geschaffen, und, wie gesagt, 1990 würde Oskar ernst machen, jawohl, mit Rot-Grün. Man freute sich also auf den Ausstieg aus der Kernenergie "bis 1996" und die "ökologische Modernisierung der Industriegesellschaft" oder auf die Verwirklichung der öko-DGB-sozialdemokratischen Superkonsens-Wunderformel der satten Achtziger (getragen u.a. von mir, Erhard Eppler, dem BUND, Daniel Goudevert und Prinz Charles) betreffs der möglichen allgemeinen "Versöhnung von Ökonomie und Ökologie".

Am deutschen Wesen sollte die Welt 1988 immerhin nicht unbedingt mehr genesen - nur abgesehen vielleicht von unserer beispielhaften, totalen Asbestsanierung und dem Kampf gegen das Robbensterben, die Würmer im Fisch (aus Monitor - wenn wir schlecht träumen, erscheint uns Klaus Bednarz und zeigt immer wieder in Super-Slomo die Würmer) und spricht für den europaweiten Drei-Wege-Kat. In Rudis Tagesshow, der "Nachrichten-Gagparade", sahen wir dazu etwa 37mal, wie Minister Zimmermann ("Old Schwurhand") mit einer Mofa den Bordstein rasiert. Vielleicht hängt das alles damit zusammen, daß die komischen Achtziger insgesamt, zweite These, höchst dialektisch von einem fröhlichen Yuppiismus und der angsterfüllten Sehnsucht nach der alles kaputt-machenden Apokalypse - früher hätte man "Stahlgewitter" gesagt - geprägt waren. Einem vulgären Enrichissez-vous!-Kapitalismus, geprägt vom Thatcherismus, den Chicago Boys, Miami-Vice-Sonnenbrillen, der Wall Street und toughen Japanern korrespondierte die Lust am baldigen abendländischen, ja globalen Untergang ("Gruhlismus") wegen Atomkrieg, Waldsterben und Kabelfernsehen. Nach Ansicht unserer hellsichtigen Gänseleberfans und Erbfeinde, die Stinker-Renaults karriolten, verbissen gegen den Katalysator und bleifreies Benzin kämpften und die sich ihren Café au lait extra und höchst demonstrativ aus dem Kühlwasser der atomaren Wiederaufbereitungsanlage La Hague brühten, handelte es sich bei "le waldsterben" ja nur um eine typisch deutsche Hysterie (Hegel) und romantizistische Naturschwärmerei (Mozart) - nach Ansicht der CSU freilich, das nur zur Ergänzung, waren nicht die Autos schuld, sondern die Borkenkäfer. Und die Pershings? Gegen die half nur eine Waffe: Die Macht der Zärtlichkeit; ein gesellschaftliches Miteinander, das sich im Sichberühren, im Duzen, im Umarmen und Kuscheln manifestiert: "Hört auf mit dem Schießen, laßt Blumen sprießen", oder ruhig etwas deftiger: "Treib's mal wieder", "Make love not homework", "Lieber kopulieren statt koalieren" und, pardauz, "Petting statt Pershing"! Ja, in Erwartung der totalen Apokalypse (auch Sylt sollte beispielsweise bis circa 1992 aufgrund der dräuenden Klimakatastrophe weggespült sein) ließ es sich voll zärtlicher Leidenschaft und heiterer Hoffnungslosigkeit wohl so gut leben wie nie zuvor und nie danach.

Dazu gesellten sich putzige Skandälchen wie der Geist aus dem Spucknapf ("Chopper" oder doch Elvis?), die Mutlangen-Blockade durch Heini Böll und Inge Jens, der grüne "Busengrapscher", der "Blackout"-Kanzler (Gorbatschow-Goebbels-Vergleich), Gaby Schuster (ad eins: ihre Frisur; ad zwei: Nacktphotos; ad drei: hat den Bernd gegen Jupp Derwall aufgehetzt), der DDR-Milliardenkredit (F. J. Strauß), die "Neue Deutsche Welle" in der ZDF-Hitparade (Nachthemd-Auftritt von Hubert K.), Kriegsdienstverweigerung aus ökologischen Gründen, die Scheibenwischer-Absetzung in Bayern und schließlich Ewald Lienen, ehemaliger "Linksaußen mit Profil" (DDR 2), der es sich nicht nehmen ließ a) in freaky 85 anläßlich der ARD-Ehrung zum "Torschützen des Monats", im schmierlappigen "Sportler gegen Atomraketen (Sportler für den Frieden"-)Pulli aufzutreten (unerlaubte "politische Werbung"!) und konsequenterweise b) auch noch auf Listenplatz 6 der "Friedensliste" für den Düsseldorfer Landtag zu kandidieren - einer Friedensliste wohlgemerkt, deren Spitzenplatz keine geringere als die größte Querdenkerin aller Zeiten, Professorin Uta Ranke-Heinemann, einnahm.

Es gab Scheußlichkeiten wie Lacoste-Polohemden, musikalisch hohlwangigen "Euter-Pop" (Samantha Fox), den Kreml-Flieger Mathias Rust, Künstler für den Frieden, Duran Duran, Karottenjeans, Breakdance und die Single "Nackt im Wind" (Tag für Afrika, 1984). Auch mußten wir diverse Katastrophen und Irrläufer der Evolution wie das Netzhemd, Brandt-Enkel, Bodystockings (Modesommerhit 86), Nancy Reagan, die drei Fehlstarts Jürgen Hingsens in Seoul oder den VW Santana erleben (den abertausendfach die Autobahnpolizei fahren mußte, weil den ja sonst keiner fahren wollte).

Man wußte zwar, daß uns spätestens 1989 die Pershings um die Ohren fliegen, man wußte 83, 87 ff., daß eventuellerweise doch immer und immer wieder "Birne" (so witzelte man) gewählt werden würde, man wußte schließlich auch, daß der Kutzop-Elfer 1986 und damit Bremens Meisterschaft vergeigt werden mußte, Rudi Völler 1998 immer noch Lederkrawatte und Vokuhila tragen würde; man beklagte es, prangerte an, haderte - und doch: Man war's zufrieden in diesem komischen Jahrzehnt. Den Unzufriedenen konnte Tschernobyl als kathartische Befreiung dienen. Der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht verglich wahlkampffiebernd, auf ewig unvergessen, die Atomkraft mit Alkohol: In Maßen sehr bekömmlich, aber zuviel sei ungesund. Solle man deswegen Alkohol oder Atomkraft verbieten, oder nicht lieber "verantwortungsvoll" damit umgehen? Franz Alt dagegen schrieb einen "offenen Brief" an Helmut Kohl und fragte an, ob er, Kohl, Atomkraft wirklich "verantworten" könne; immerhin stünde das "C" in der CDU für "Christlich"; das elfte "Gebot des Atomzeitalters" wiederum laute: "Du sollst den Kern nicht spalten." Kohl hat aber nie geantwortet. Die SPD beschloß den Atom-Ausstieg binnen zehn Jahren und eine - ernsthafte - Diskussion wurde um die Frage geführt, ob es nicht auch einen kleineren GAU in Deutschland gebe müßte, damit die radioaktive Gefahr "im Bewußtsein" der Menschen bliebe.

Alles in allem also: "Schön war die Zeit" - womit denn auch hiermit und höchst offiziell das supersmoove Achtziger-Revival ausgerufen wäre (in einer Neonbar Ihrer Wahl, mit Wet-Gel, Schimmi-Jacke und Baccardi-Cola). Alle machen mit!